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Hafenstadt Guayaquil in Ecuador
Nicht mehr nur die ungeputzte Perle des Pazifiks

Ecuador ist besonders: Das Land hat den Amazonas-Dschungel, mit Quito die höchstgelegene Hauptstadt der Welt und die Inselgruppe Galapagos. Die größte Stadt des Landes allerdings, die Hafenstadt Guayaquil, führt ein Schattendasein. Auch hier liegen Arm und Reich oft gefährlich nahe zusammen - aber die Stadt hat viel mehr zu bieten, als es der erste Blick vermuten lässt.

Von Thomas Becker | 13.11.2016
    Blick auf den Berg Santa Ana Guayaquil, Ecuador.
    Blick auf den Berg Santa Ana Guayaquil, Ecuador. (imago stock&people)
    Würde man von hier aus nicht die schnellsten Flüge nach Galapagos bekommen - viele Touristen würden den Drei-Millionen-Menschen-Moloch Guayaquil wohl kaum betreten: "Perle des Pazifiks" trägt die größte Stadt des Landes als Beinamen. Und sie ist doch die gefährlichste, schmutzigste und die lauteste des Andenstaates.
    Auch architektonisch hat Guayaquil nicht viel zu bieten: Im Zentrum dominieren die verblichenen, ausgezehrten Hochhausfronten der 70er-Jahre, wie sie in so vielen südamerikanischen Ländern zu finden sind. Damals war diese Urbanisierung Zeichen des Fortschritts im Kampf gegen Hitze und Natur. Heute sind die Häuser verwohnt, teils verwittert und viele Fassaden bröckeln ab.
    Wo Stadt und der Fluss Guayas aufeinandertreffen, befindet sich das größte Neubauprojekt der Stadtverwaltung: die Uferpromenade "Malecón 2000": "Wie Sie sehen können ist der Malecón 2000 ein touristischer Ort, da kommen Menschen aus der ganzen Welt hin."
    Der "Malecón dos mille", der "Malecón 2000", sollte die Bewohner in eben diesem Jahr wieder mit ihrem Fluss versöhnen und Identität stiften. Das ist gelungen, findet der 37-jährige Marcello:
    "Die Menschen kommen wegen vieler Faktoren hierher: um sich abzulenken, um mit ihren Kindern zu spielen, wegen der schönen Aussichtspunkte und Restaurants. Außerdem werden hier regelmäßig die Feste gefeiert: Die Befreiung Guayaquils von den Spaniern, das Unabhängigkeitsfest und natürlich Weihnachten und Silvestern. Immer, wenn Bürgermeister Jaime Nebot kommt, werden Bühnen für Künstler und Musikgruppen aufgebaut und die Party geht los."
    Großzügige Uferpromenade Malecón 2000
    Die Uferpromenade ist 2,5 Kilometer lang. Auf der großzügigen Anlage gibt es Springbrunnen, einen Park mit unzähligen, tropischen Pflanzenarten, ein Museum und einige moderne und historische Monumente. Erst im Gespräch mit Einheimischen wird klar, warum die Stadt so stolz ist auf diesen flächigen, scharfkantige 90er-Jahre-Bau direkt neben der großen Einfallstraße: Er zeigt den Wandel der Stadt und macht Hoffnung auf ein besseres Leben, denn vor nur 16 Jahren sah es am Malecón noch aus wie im Mittelalter:
    "Vorher gab es hier gar nichts. Hier in der Straße Sucre, daneben, war ein Markt. Als ich ein Schüler war 13, 14 Jahre alt, bin ich mit meiner Freundin hier langgegangen und damals wurden die Waren noch in kleinen Schiffchen hierher transportiert und direkt am Ufer mit der Hand ausgeladen: Öl, Mehl, Reis, alles mit der Hand. Der große Hafen hatte damals noch nicht die Bedeutung wie heute. Da gab es kaum Laufkundschaft, Menschen, die hierhergekommen sind, wie es heute der Fall ist. Dieser Teil hat sich total verändert, seitdem die Stadtverwaltung ihn erneuert hat. Jetzt ist quasi der ganze Malecón ein Markt. Es hat sich so viel gewandelt."
    Hier – im eingezäunten Bereich des Malecón – gibt es sogar öffentliche Handyaufladestationen. Wenige Meter weiter stadteinwärts, im unruhigen Getümmel der kleinen Marktstände und Läden, würde sich niemand trauen, ein neues Smartphone zu zeigen. Zu viele mittellose Menschen vom Lande suchen ihr Glück in der vergleichsweise wohlhabenden Großstadt, scheitern und enden in der Kriminalität und in den riesigen Armenvierteln. Sicher und unsicher liegen in Guayaquil wenige Straßen – oder auch Jahre – voneinander entfernt. Zum Flanieren, so wie heute, kam früher niemand hierher:
    "Vorher gab es hier Betrunkene, Kiffer, Drogenhandel. Hier waren auch viele Bordsteinschwalben unterwegs. Und jetzt, nach der Renovierung siehst du davon nichts mehr. Hier sind jetzt Wächter unterwegs, es gibt jetzt viel mehr Sicherheit. Es ist ein totaler Wandel, um 100 Prozent."
    Am nördlichen Ende des Malecon ändert sich das Bild und die Stimmung: Hier erhebt sich der kleine Cerro, also Hügel, Santa Ana. Auf ihm liegt das Stadtviertel Las Penas: Fast 100 Meter geht es hier steil bergauf. Zwischen kleinen, bunten Häuschen erklimmt man einen Pfad mit genau 444 Stufen - in der guayaquilenischen Mittagshitze ein mörderisches Unterfangen. In der Nacht eine lautstarke Angelegenheit: Las Penas ist das Vergnügungsviertel der Stadt. Wer hier jedoch nach Salsa-Romantik sucht, wird enttäuscht.
    Reggaeton auf dem Hügel Santa Ana
    Hier herrscht der Reggaeton, ein neuer, südamerikanischer Engtanz - so explizit sexy, dass man als Europäer oft verschämt wegschauen muss. Nur in wenigen ausgewählten Bars am Fuße des Hügels geht es gepflegter zu. Auch hier, in der traditionellen Feiermeile, ist Guayaquil ehrlich: laut, dreckig und billig. Doch auch tagsüber lohnt sich ein Besuch auf dem Cero Santa Ana. Rodney Garcos besitzt hier seit zwölf Jahren eine Kneipe:
    "Abgesehen von der sportlichen Herausforderung, die mehr als 400 Stufen zu erklimmen, hat man hier den besten Ausblick über die ganze Stadt: Vom Leuchtturm auf der Spitze des Hügels kann man 360-Grad-Fotos machen: Man sieht den Fluss und die ganze Umgebung. Es ist die Mühe des Aufstiegs wert, weil man auch etwas über die Geschichte der Stadt lernt: Guayaquil wurde hier gegründet. Die ersten Bewohner haben sich hier niedergelassen. Und von hier aus wurde das gesamte Gebiet besiedelt."
    Der Legende nach haben sich vom höchsten Punkt des Cerro Santa Ana der Indianerhäuptling Guayas und seine Frau Quil in den Tod gestürzt, als sie die Spanier anlanden sahen. Sie wollten nicht in deren Gefangenschaft geraten.
    "Es ist eine Legende, ein Mythos. Vergleichbar mit dem Gründungsmythos von Rom, mit Romulus und Remus: Guayas und Quil waren wahrscheinlich das Königspaar des hier ansässigen Indianerstammes. Aber was sicher überliefert ist: Hier war die erste Besiedlung. Denn zu dieser Zeit waren große Teil der heutigen Stadt noch überflutet. Und von hier aus haben die Bewohner die Gegend urbar gemacht. Sie haben von diesem Berg aus begonnen, das Gebiet Stück für Stück trockenzulegen. Der solide Stein hat ihnen dabei Schutz geboten."
    Direkt gegenüber vom Cerro Santa Ana mit Las Penas und zum Greifen nahe liegt der Zwillingshügel Cerro del Carmen. Gleich groß, gleich hoch, die gleichen kleinen, verwinkelten Häuschen; Straßen die auf die Bergkuppe führen. Der einzige Unterschied: Hier sind die Häuser nicht bunt, sondern grau und unverputzt. Man sieht den Mörtel zwischen grobem Mauerwerk hervorquillen. Nur wenige Meter trennen die beiden Hügel voneinander. Doch als Tourist sollte man sie tunlichst nicht verwechseln. Wer sich hier verläuft, spielt mit der Gefahr:
    "Um genau zu sein, ist der Hügel da drüben ein genaues Abbild von Las Penas. Beide sind wie Labyrinthe und beide waren bis vor kurzem Armenviertel. Der einzige Unterschied ist: Die Stadt hatte sich vor ein paar Jahren dazu entschlossen, den Las Penas wiederzubeleben: Hier wurden die Häuser und die Treppen renoviert und dort drüben nicht. Deshalb herrscht dort weiterhin Armut und Gewalt, während die Menschen hier mittlerweile Arbeit und Beschäftigung haben."
    An jeder Ecke ein Sicherheitsmann
    Der touristische der beiden Hügel, der Santa Ana, ist übersät mit renovierten, spielerisch-farbenfrohen Häusern. Darin Kneipen und Bars an jeder Ecke. Auch an jeder Ecke: mindestens ein Sicherheitsmann mit schusssicherer Weste und Schlagstock. Man sollte die 444 Stufen nicht verlassen, erklärt Rodney Garcos:
    "Auch Las Penas ist gefährlich, wenn man die Stufen verlässt. Dieses Viertel ist nur halb-wiederhergestellt. Weiter entfernt von den Stufen wohnen auch weiterhin ärmere Menschen. Und wo viele Arme wohnen, sind auch immer einige Diebe darunter. Die rauben sogar ihre eigenen Nachbarn aus. Für Touristen kann es also gefährlich werden und die Sicherheitsmänner sollen sie davon abhalten, vom Weg abzukommen. Das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme."
    Die Zwillingshügel Cerro del Carmen und Cerro Santa Ana: Hier meint man, Guayaquil zu verstehen. Hier trifft zusammen, was die Stadt mit vielen anderen südamerikanischen Städten verbindet: Arm und Reich, Vergnügen und Verbrechen – nur wenige Meter voneinander entfernt. Und man kann nur hoffen - ob als Tourist oder Bewohner -, dass man auf der richtigen, der sicheren, der Sonnenseite der Stadt steht.
    Und Sonne gibt es hier reichlich: Der Äquator liegt keine 300 Kilometer entfernt. Das Klima ist ständig heiß – im Winter konstant um die 30 Grad bei fast 100 Prozent Luftfeuchtigkeit. Damit nicht genug, wird Guayaquil im Abstand von wenigen Jahren von El Niño heimgesucht. Das Ergebnis ist verheerend für die Millionenstadt, die lediglich 50 Kilometer vom Pazifik entfernt liegt:
    "Guayaquil ist ja auch Meereshöhe. Wo wir im Moment sitzen, da sind wir 20 Meter über dem Meeresspiegel, also hier passiert nichts."
    Erzählt der 75-jährige Rolf Benz, der seit über 20 Jahren hier lebt.
    "Wenn es jetzt regnet und der starke Regenfall trifft mit dem Hochwasser im Meer zusammen, das gegen den Fluss drückt, gegen den Guayas drückt und der dann verhindert, dass das Regenwasser ablaufen kann, dann haben sie einen Rückstau und deshalb ist Urdessa, das auch nur drei, vier Meter über dem Meeresspiegel liegt, überschwemmt. Sie glauben, Sie sind in Venedig hier."
    In der Zeit des El Niño bricht in der Stadt der öffentliche Verkehr für Wochen zusammen:
    "In San Borondon, das auch auf Meereshöhe ist, ist ein Mädchen hinter dem Auto her Wasserski gefahren, in der Straße. Da haben sie dann einen halben Meter Wasser und die fuhren Wasserski. Das passiert dann."
    Besonders sehenswert: der Zentralfriedhof
    Vor Überflutungen geschützt, weil er etwas erhöht liegt und das eigentliche Highlight der Stadt, ist der Zentralfriedhof. In der erbarmungslosen Mittagssonne leuchtet er einem gleißend entgegen, wenn man über die Autobahnbrücken ins Zentrum fährt.
    "Lassen Sie uns hier entlanggehen, da sieht man noch ein weiteres Werk von Enrico Pacciani, das er für einen Rektor der Universität angefertigt hat, Dr. Alejo Lascano. Sie können hier den wunderschönen Marmor aus Cararra, sehen? Ok, lassen Sie uns weiter gehen."
    In der lauten, staubigen, verwitternden Stadt ist allein der Anblick schon reine Erholung: grüne Palmen und Rasen, schwarze Statuen und Monumente und ein Meer aus blendend weißem Marmor, das den Friedhof zu einem der schönsten Südamerikas macht.
    "Und hier stehen wir jetzt am Mausoleum des zweiten Präsidenten Vicente Rocafuerte. Davor sehen Sie eine kleine Kapelle. Rocafuerte war ein wichtiger Kämpfer für die Unabhängigkeit von Spanien. Er starb auf einem Freiheitskongress in Lima, aber wurde hier beerdigt. Diese Statuen stellen seine immer noch lebendigen Gedanken dar: Ein Schwert und ein Buch – die Macht und die Macht des Wortes, des Nachdenkens. Die Reliefschrift erklärt, was er alles Gutes für unser Land geleistet hat."
    Auch die reichen Kaffee- und Kakaobarone haben sich hier Denkmäler gesetzt. Beide Pflanzen brachten dem Land Ende des 19. Jahrhunderts einen wirtschaftlichen Aufschwung. Der Boom suchte sich den Naturhafen in Guayaquil: Von hier flossen Kakao und Kaffee in die Welt und das Geld zurück ins Land. Das ist der eigentliche Grund, warum es so viele aus den malerischen Dörfern der Anden in das vipern- und gelbfieberverseuchte Mangrovenland zog. Und warum der Friedhof der größte des Landes ist. Architekturprofessor Parsival Castro:
    "Dies hier ist die Pforte zu einem neuen Leben, steht hier oben auf Latein. Früher war es die Haupteingangspforte, aber schnell musste der Friedhof erweitert werden: 1823 ist er gegründet worden, aber ein Gelbfieber hat schon bald sehr viele dahingerafft im Jahr 1842. 23.000 Menschen haben vor der Epidemie hier gewohnt, am Ende hatte Guayaquil lediglich noch 10.000 Einwohner."
    Neben den Luxus-Mausoleen stehen für die Normalsterblichen die sich scheinbar endlos aneinander reihenden Grabnischen: 50 Meter lang. Bis zu zehn Metern hoch – die Grabplatten alle genormt und 50 * 50 Zentimeter groß. Ihre Individualität bekommen sie durch ihre kunstvolle Bemalung: Im Zentrum oft ein leidender Jesus, umgeben von zartgliedrigen Blumenkränzen.
    "Hier kommen wir zur ältesten Tumba Guayaquils. Das Kind wurde nur ein Jahr alt. Der Text sagt: Tröstender und herrlicher Gott - in dieser Tumba liegt meine schönste Hoffnung begraben, das Antlitz meiner sanften Tochter. Geboren am 27. Mai 1830, gestorben am 13. November 1831."
    Die Ruhe, die man zwischen diesen Urnenwänden findet und die detailverliebten Zeichnungen auf jedem Grab entschädigen für allen Lärm und Stress des Millionen-Molochs. Zwischen den liebevoll gepflegten Mausoleen findet man die schönsten Ausblicke auf die nicht schöne Stadt - auf die "Perle des Pazifiks", die doch sehr ungeputzt daher kommt. Und hier kann man sich einen kurzen Moment sammeln, bevor es weiter geht, wahrscheinlich auf die Reise nach Quito oder nach Galapagos.