Dienstag, 23. April 2024

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Höhere Ideen

Die Idee für Ljod entstand in Japan. Es war ein heißer, schwüler Julitag: Über 35 Grad Celsius bei fast 100% Luftfeuchtigkeit. Ich ging eine Straße entlang und plötzlich flackerte eine Vision auf: Das Eis, das gegen meine Brust schlägt. Diese Vision, dieses Detail brachte einen Mechanismus in Bewegung und das Zeitalter vom "Eis" brach für mich ein. Das Buch habe ich danach ziemlich schnell geschrieben.

08.01.2004
    Ljod heißt dieser Roman im russischen Original. Zu Deutsch - das Eis. Das kosmische Eis, das mit dem Tunguska-Meteorit in Sibirien auf die Erde niederging, wird im Roman von einer geheimnisvollen Sekte benutzt, um die Menschen mit "lebendigen Herzen" zu finden. Die Sektenmitglieder entführen blauäugige Blonden auf den Straßen Moskaus, um sie mit einem Eishammer "aufzuklopften", bis sie mit dem "Herzen sprechen" und sich somit als Auserwählte erkenntlich machen...

    Uranow zog Handschuhe über. Ergriff einen der Hämmer. Tat einen Schritt auf den Gefesselten zu. Grobowez knöpfte dem Dicken des Jackett auf. Nahm ihm die Krawatte ab. Riss am Hemd. Die Knöpfe kamen gesprungen. Eine rundliche weiße Brust mit kleinen Brustwarzen und einem goldenen Kreuz am Kettchen wurden sichtbar. Grobowez´ schwielige Finger packten das Kreuz, rissen es ab. Der Dicke jaulte auf. Versuchte mit den Augen Zeichen zu geben. Drehte den Kopf hin und her.
    "Gib Antwort!", sprach Uranow laut und deutlich.
    Er holte aus und schlug ihm den Hammer mitten auf die Brust.
    Der Dicke jaulte noch mehr.
    Die drei vor ihm standen reglos, schienen zu horchen.
    "Gib Antwort!" wiederholte Uranow nach einer Weile im selben gesetzten Tonfall. Und schlug erneut kräftig zu.
    Der Körper des Mannes zuckte. Hing nun schlaf in den Seilen.
    Sie traten ganz nah heran. Hielten das Ohr dicht vor die gerötete Brust. Lauschten gebannt.
    "Er ist hohl", Uranow, sich aufrichtend.
    "Er ist hohl..." Rutman, sich auf die Lippe beißend.
    "Hohl, das Schwein..." Grobowez, auf den Hammer gestützt. Schwer atmend. "Heilige Madonna... wie viele von den Hohlkörpern sollen wir denn noch aufklopfen...


    Der Erste Teil des Romans spielt im modernen Moskau. Doch die Sekte existiert schon länger. Das wird im zweiten Teil klar, in dem beschrieben wird, wie die SS-Offiziere dieselben Rituale unter den russischen Gefangenen durchführen. Doch der Gedankengang in Richtung der Welteis-Theorie oder gar Verherrlichung der Nazi-Ideen von der blauäugig-blonden Herrenrasse erweist sich als eine Sackgasse: Die Sektenmitglieder nutzen lediglich die mächtigsten Strukturen ihrer Zeit, um ihrem Ziel - der reinen Weltbruderschaft der Zukunft - näher zu kommen. Das wird im Dritten Teil sichtbar. Hier tritt das Eis als ein Wellnessprodukt auf. Die Diktaturen des 20. Jahrhunderts werden im neuen Jahrtausend durch die Diktatur der Kommerz ersetzt. Die Ideologien sind tot: Heute kommt man am schnellsten an die Menschen heran, wenn das Glück, gar die Erleuchtung gut vermarktet werden. Doch die Erfahrungsberichte zum Wellnessset "Ljod", erinnern nur auf den ersten Blick an Dauerwerbesendungen im Fernsehen:

    Michail Semljanoi (31), Journalist: Heute darf man mit Fug und Recht sagen: Wir leben im Zeitalter des "Ljod". Noch gestern lebten wir im Zeitalter des Kinofilms. Der Moment, da ich in diesem Kreis stand und plötzlich zu verschwinden begann, und dieses leuchtende Licht

    In keinem dieser "Erfahrungsberichte" findet man einen Punkt am Ende. Jeder endet jedoch mit dem Wort "Licht": grelles Licht, leuchtendes, ein weißes, ganz reines Licht...
    Die Interpretation überläßt der Autor dem Leser. Es gäbe nichts Dümmeres, als den Schriftsteller danach zu fragen, was er mit seinem Werk sagen wollte, so Vladimir Sorokin. Er äußert sich viel lieber dazu, was er um sich herum, in seinem Land beobachtet:

    Im Grunde bleiben wir ein Volk mit einer totalitären Mentalität. Aber es sind viele Risse in diesem Eisbrocken entstanden. Und durch diese Risse kommt Wärme hindurch. Und ich glaube, dass in etwa 50 Jahren dieser Eisbrocken endgültig weggeschmolzen sein wird.

    Also, es gibt doch Hoffnung. Im Leben und im Roman: Im vierten Teil beschreibt Vladimir Sorokin ein Kind. Der kleine Junge ist allein in der Wohnung und findet das "Ljod"-Set seiner Mutter. Er nimmt das blau schimmernde Eis mit ins Bett, wo es zum schmelzen verurteilt ist...

    Ljod. Das Eis ist ein Roman, der auch für seinen Autor den Einbruch eines neuen Zeitalters bedeutet. Die Zeiten, als man das Publikum noch mit Gewalt- und Sexdarstellungen schockieren konnte, sind nun auch in Russland vorbei. Auf die Frage was denn den Leser noch aus der Fassung bringen könnte, kommt prompt die Antwort: "Eine höhere Idee!":

    Mit diesem Roman gehe ich weg von der Brutalität, vom Schockieren, zum Ideellen zum Betrachtenden hin. Das ist mein erstes Buch auf diesem Weg. Rein formell gesehen enthält dieses Buch kein Experiment, dieser Roman ist ziemlich traditionell geschrieben. Der Inhalt war mir zum ersten Mal wichtiger als die Form.

    Doch auch die Abkehr vom Experiment klingt bei Vladimir Sorokin... nach einem weiteren Experiment. Und die Bewunderer seines früheren Schaffens, werden nicht enttäuscht sein. Neue Leser wird der "neue" Sorokin allerdings ebenfalls gewinnen können. "Elitäre Literatur für Jedermann" - So könnte man dieses literarische Experiment bezeichnen. Also, unbedingt lesen!

    Vladimir Sorokin: Ljod. Das Eis
    Berlin Verlag, 350 S. , EUR 22,-