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Hölderlin als Kraftzentrum

Das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks unter Leitung des spanischen Dirigenten Arturo Tamayo hat Orchestermusik des italienischen Komponisten Bruno Maderna auf CD eingespielt. Herausgekommen ist ein Werk voller farblich reizvoller Splitter und immenser Dynamik.

Von Frank Kämpfer | 13.06.2010
    Am Mikrofon Frank Kämpfer. Im Folgenden geht es um moderne Orchester-musik. Wir begeben uns in die Mitte des 20. Jahrhunderts, und begegnen den Komponisten Andrzej Panufnik, Rudolf Wagner-Régeny und Bruno Maderna:

    Musik 1
    Bruno Maderna, Composizione n.1
    hr-Sinfonieorchester Frankfurt / Main, Ltg. Arturo Tamayo
    CD NEOS 10933, LC 15673
    Take 01


    Ein schleppender Marsch? Ein langsamer, unaufhaltsamer Fluss? Ein Schwerelossein, ein permanentes Changieren? Keine der Beschreibungen taugt, wiewohl sie das Gehörte und den historischen Standort des musikalischen Urhebers allesamt treffen. Komponist Bruno Maderna, geboren 1920 in Venedig, ein junger Antifaschist, schreibt seine erste Orchestermusik mit noch nicht ganz 30, und es ist unüberhörbar, dass er sich seinerzeit orientiert, das heißt auf Traditionen bezieht und sich an ihnen reibt. Die Composizione n. 1 von 1948/49 ist vierteilig; Mahler’sche Idiomatik scheint auf; ein Interesse an Klangfarben. Ein Jahr darauf, mit dem nächsten Orchesterstück vollzieht der Schüler Dalla-picciolas und Hermann Scherchens den Sprung in die vorderste Front der Neuen Musik.

    Scherchen dirigiert das Opus in Darmstadt, dann gründet der Komponist mit Luciano Berio in Mailand das erste Elektronische Studio Italiens, gemeinsam mit Pierre Boulez wird er das Internationale Kammerensemble der Darmstädter Ferienkurse bis in die 60er-Jahre hinein leiten – und doch wird Bruno Maderna nie zum Kreis der orthodoxen Serialisten gehören.

    Zwei in Zusammenarbeit mit dem Hessischen Rundfunk und dessen Sinfonie-Orchester entstandene, beim Münchner Label NEOS veröffentlichte neue CDs dokumentieren Entwicklung und Lebenswerk des Komponisten auf dem Gebiet der Orchesterkomposition.

    Diese ebenso ambitionierte wie verdienstvolle Anthologie, die auf dem Schallplattenmarkt eine wichtige Lücke schließt, umfasst die zwei schöpferischen Jahrzehnte Madernas – sie endet mit einer knapp
    20-minütigen Arbeit, die bereits im Titel auf ihren Zusammenhang mit dem Projekt der Hyperion-Oper verweist. Hölderlin als Kraftzentrum. Sich auf den gescheiterten Klassiker zu berufen, galt seinerzeit als ebenso avanciert wie subversiv. Stele per Diotima aus dem Jahre 1966, ein Orchesterstück mit Solo-Kadenzen für Violine, Klarinette, Bassklarinette und Horn offeriert eine Klanglandschaft voller Kontraste. Farblich reizvolle Splitter wechseln mit Passagen von immenser Dynamik, in vielköpfigem Schlagzeug-Einsatz löst sich am Ende das orchestrale Gewebe geradezu auf.
    Musik 2
    Bruno Maderna, Stele per Orchestra
    hr-Sinfonieorchester Frankfurt/Main, Ltg. Arturo Tamayo
    CD NEOS 10934, LC 15673
    Take 07


    Das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks unter Leitung des spanischen Dirigenten Arturo Tamayo hat Orchestermusik von Bruno Maderna auf CD eingespielt – die Aufnahmen sind beim Label NEOS erschienen.

    Die nächste Edition trägt die Jahreszahl 2008 – das Label indes promotet sie in seinen News des laufenden Monats, so als gelte es, sie auf keinen Fall zu übersehen. Es handelt sich um historische Aufnahmen – sie dokumentieren Sinfonisches Schaffen in der ehemaligen DDR. Die Veröffentlichung der 5-CD-Box ist nicht nostalgisch gemeint, vielmehr als Einladung für Nicht-Kenner zu unbefangenem Hören. Zusammengestellt wurde, was aus den Archiven der Firma "edel" in Hamburg nach der Übernahme noch nicht wieder veröffentlicht oder auf dem Markt nicht mehr vorhanden war. Zwei Schwerpunkte kristallisieren sich dabei heraus: zum einen Werke der Avancierten – sie reichen von der Kammersinfonie des Schönberg-Schülers Hanns Eisler bis zu Friedrich Goldmanns legendärer Sinfonie Nr.1 und Georg Katzers Orchesterkonzert.

    Hier interessieren die anderen, deren Namen und Werke sich – weil politisch zu angepasst und/oder ästhetisch zu konservativ – in den letzten 20 Jahren verloren: zum Beispiel Fritz Geissler, Johann Cilensek oder Max Butting. Rudolf Wagner-Régeny (1903 in Siebenbürgen geboren) war beides zweifellos nicht, wiewohl: Der Schreker-Schüler gab sich gern a-politisch, was mit einer kompositorischen Handschrift korrespondierte, die unverbindlich blieb, traditionell, gezeichnet von gewisser ‚Feingeistigkeit’. Zugleich war Wagner-Régeny einer der wenigen Ostdeutschen mit internationaler Ausstrahlungskraft. Die letzte seiner Opern wurde 1961 bei den Salzburger Festsspielen uraufgeführt, sein Prometheus-Oratorium eröffnete 1959 das neu erbaute Staatstheater in Kassel. Zu diesem Werk sind die hier ausgewählten Drei Orchesterstücke Vorstudien. Die drei Sätze wirken zunächst autonom, eine gemeinsame Zwölftonreihe verbindet. Unter introvertierter Harmlosigkeit scheinen subtile Klangmischungen auf – der Gestus wechselt zwischen Schwärmerei, Zuversicht und Melancholie, wie das Berliner Sinfonie-Orchester unter Hans-Peter Frank 1981 bei der Plattenaufnahme präzise herauszuarbeiten verstand.

    Musik 3
    Rudolf Wagner-Régeny, aus: Drei Orchesterstücke
    BSO, Ltg. Hans-Peter Frank
    CD 0184502BC, LC 06203
    Disc 2, Take 03


    Soweit das dritte aus Rudolf Wagner-Régenys Drei Orchesterstücken in einer Aufnahme mit dem Berliner Sinfonie-Orchester unter Hans-Peter Frank.

    Die letzte CD, die ich Ihnen heute anspielen will, führt nach Warschau. Komponist Andrzej Panufnik, Jahrgang 1914, erlebte hier in seiner Jugend Besatzung und Krieg. Die im Anschluss daran beginnende Karriere als Vorzeigekünstler der polnischen Volksrepublik unterbrach Panufnik selbst schnell. 1954 emigrierte er nach London, wo im Laufe von dreieinhalb Jahrzehnten ein beachtliches Oeuvre vor allem an Orchesterkompositionen und Sinfonien entstand.

    Die kleine Werke-Auswahl, die als Übernahme von Polskie Radio im Frühjahr beim Osnabrücker Label cpo erschienen ist, verdeutlicht die Eigenwilligkeit und Disparatheit der musikalischen Sprache Panufniks. Der Schüler von Kazimierz Sikorski gehörte keiner speziellen Schule an und schrieb architektonisch sehr streng. Er operierte mit Zwölftonkomplexen, mit Mikrotonalität, und nahm in den 40er-Jahren bereits Momente des Sonorismus der 60er-Jahre vorweg. Aus der Jugend des Komponisten resultieren die ‚polnischen Themen’, die sich bis ins Spätwerk hin ziehen. Zu nennen in diesem Zusammenhang das 1952 komponierte Katyn Epitaph, eine Trauermusik für die in Russland ermordeten polnischen Kriegsgefangenen. Musikalisch aufregender auf der CD das Eingangsstück, die Tragische Ouvertüre, deren erste Fassung bereits 1941, unter dem Eindruck der ersten Jahre der deutschen Besatzung entstand. Panufnik gründete sie auf ein patriotisches Lied, die Warschawianka, die er allerdings nicht zitiert. Angelegt ist das Stück dreiteilig: der Anfang mit einem Tumultuoso des vollen Orchesters kehrt am Ende zurück – dies verweist auf barocke ABA-Form und meint Vorahnung von Kommendem:

    Musik 4
    Andrezej Panufnik, Tragische Ouvertüre
    Polnisches Radio Symphonie Orchester, Ltg. Lukas Borowicz
    CD cpo 777 97-2, LC 8492
    Take 01


    Das Finale aus Andrzej Panufniks Tragischer Ouvertüre – hier in einer neuen Aufnahme mit dem Polnischen Radio Symphonie Orchester unter der Leitung von Lukasz Borowicz. Diese und andere Orchestermusik des polnischen Komponisten ist vor kurzem beim Osnabrücker Label cpo erschienen. Zuvor habe ich Ihnen Orchestermusik aus der von edel classic wieder veröffentlichen 5-CD-Box East German Symphonies angespielt, sowie zuvor Orchestermusik von Bruno Maderna, erschienen bei NEOS. Soweit für heute unsere Sendung die neue Platte, ausgewählt von Frank Kämpfer.