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Hörbuch über die Reformation
Luther in 80 Minuten

Die Journalistin Corinna Hesse hat ein Hörbuch über den Reformator produziert. Es erklärt Martin Luthers wichtigste Ideen und liefert Hintergrundwissen zu Zeit und Umfeld. Für Luthers Schattenseiten, wie seine Feindschaft gegenüber Juden, bleibt dabei allerdings kaum Platz.

Von Oliver Kranz | 06.01.2017
    Eine Radierung aus dem 19. Jahrhundert zeigt den Reformator Martin Luther bei seinem Thesenanschlag an der Tür der Schlosskirche in Wittenberg im Jahr 1517.
    Eine Radierung aus dem 19. Jahrhundert zeigt den Reformator Martin Luther bei seinem Thesenanschlag an der Tür der Schlosskirche in Wittenberg im Jahr 1517. (imago / Leemage)
    "Deutschland im späten 15. Jahrhundert: Die Zeichen stehen auf Wachstum. Banken und Fernhandel, Bergbau und Textilproduktion lassen die Wirtschaft aufblühen."
    In Schlagworten wird im Hörbuch die geschichtliche Situation erklärt. Corinna Hesse ist Kulturhistorikerin und Journalistin. Sie hat ein Talent, komplexe Vorgänge mit einfachen Worten zusammenzufassen. Dabei liefert sie nicht nur harte Fakten, sondern auch Atmosphärisches. Sie beschreibt ein Bild von Hieronymus Bosch, um die in Luthers Zeit weit verbreitete Angst vor der Apokalypse zu erklären:
    "Vier Engel künden mit Posaunen das Jüngste Gericht an. Christus, der Weltenrichter, und seine zwölf Apostel thronen auf einem Regenbogen über dem grausamen Spektakel. Schlimmste Folter erwartet die lasterhaften Seelen. Unter qualmenden Ruinen einer verwüsteten Landschaft werden sie durchbohrt und zerstückelt, gebraten und gegrillt."
    "Martin verzweifelt"
    Auch in Martin Luthers Denken spielte die Angst vor dem Jüngsten Gericht eine große Rolle. Das Hörbuch, das vom Schauspieler Rolf Becker eingesprochen wurde, beschreibt sehr anschaulich, wie sich Luther als junger Mönch bemühte, glaubenskonform zu leben:
    "Martin betet und beichtet, fastet und geißelt sich bis fast zur Selbstzerstörung. Er schläft nicht, er verzweifelt, er wird krank. Denn das Programm zur Selbstoptimierung funktioniert nicht. Je mehr er sich anstrengt, desto ferner erscheint ihm Gott."
    800 farbige Luther-Figuren standen auf Markplatz von Lutherstadt Wittenberg am Donnerstag, den 12.08.2010. Die Figuren dienten der Überbrückung der Restaurierungsarbeiten am Luther- und Melanchthondenkmal und als Vorbereitung des 500-jährigen Reformationsjubiläums (2017). Die Installation "Martin Luther: Hier stehe ich..." von Ottmar Hörl wurde vom 14.08.-12.09.2010 auf dem Marktplatz von Wittenberg präsentiert. Zum Abschluss der Kunstaktion wurden alle Figuren für 250 Euro verkauft.
    800 Luther-Figuren auf Markplatz von Wittenberg (dpa-Zentralbild/Peter Endig)
    Religiöse Handlungen als Selbstoptimierung zu beschreiben, mag kühn erscheinen, doch für Menschen von heute ist es ein Anknüpfungspunkt. Corinna Hesse möchte den Reformator vom Podest holen:
    "Wir denken heute: Luther ist so eine Ikone und eine alleinstehende Figur. Er war natürlich in seiner Persönlichkeit sehr packend, sehr charismatisch, dass das schon eine Rolle gespielt hat, dass er sich so durchgesetzt hat. Aber für mich war auch das Umfeld sehr wichtig. Die Zeit war zum Beispiel reif. Es gab an der Kirche ganz viel Reformbestrebungen, es gab in der Politik ganz viel Reformbestrebungen und Luther hat eben nicht nur als Kirchenmann, sondern eben auch als Politiker, sage ich jetzt mal, als Stratege das richtige Gespür, dass er auch politisch auf die richtigen Leute gesetzt hat."
    Luthers Sprengkraft
    Ohne den sächsischen Kurfürsten, sagt Corinna Hesse, hätte sich die Reformation in Deutschland nicht so schnell verbreiten können. Friedrich der Weise holte Martin Luther 1511 nach Wittenberg, wo dieser an der Universität erst promovierte und dann Theologie unterrichtete. Er legte die Bibel völlig neu aus. Gottes Gnade könne nicht durch gute Taten verdient werden, sondern allein durch den Glauben. Im Hörbuch heißt es:
    "Also hilft es der Seele nicht, ob der Leib heilige Kleider anlegt, wie es die Priester und Geistlichen tun, auch nicht, ob er in den Kirchen und heiligen Stätten sei, auch nicht, ob er leiblich bete, faste, walle und alle guten Werke tue. Gute, fromme Werke machen nimmermehr einen guten, frommen Mann, sondern ein guter, frommer Mann macht gute, fromme Werke."
    Das Hörbuch erklärt die Sprengkraft, die in diesen Sätzen lag. Luther stellte nicht nur jahrhundertealte Glaubensgrundsätze in Frage, er plädierte auch für geistige Freiheit. Als er 1521 vor den Reichstag zu Worms gerufen wurde, weigerte er sich, seine Lehren zu widerrufen: "Hier stehe ich. Ich kann nicht anders", sagte Luther. Im Hörbuch wird erklärt:
    "Luther ist wohl der erste, der das Wort ‚Gewissen‘ nicht mehr nur im Sinne von ‚Gewissheit‘ verwendet, sondern als persönliche moralische Instanz. Dieser Begriff prägt bis heute die evangelische Theologie. Mittlerweile hat ‚Gewissensfreiheit‘ sogar Einzug in Politik und Rechtsprechung gefunden."
    "Jeder Stilist muss vor Luther den Hut ziehen"
    Immer wieder stellt das Hörbuch Bezüge zum Heute her. Sehr anschaulich wird auch Luthers Einfluss auf die Entstehung der heutigen deutschen Sprache beschrieben. Zu hören sind ein Zitat einer früheren Bibelübersetzung und dann Luthers Version: "Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser."
    Die Klarheit und poetische Kraft von Luthers Sprache sind überwältigend. Corinna Hesse nennt weitere Beispiele: "Mit ‚Feuereifer bei der Sache sein‘ ist eine Formulierung von Luther. Also alle Schriften Luthers strotzen sozusagen vor richtigen Kraftbegriffen, wo jeder Stilist heute noch den Hut ziehen muss."
    Kaum Platz für Luthers Judenfeindlichkeit
    Neben diesen eindeutigen Verdiensten werden in Corinna Hesses Hörbuch auch Haltungen des Reformators geschildert, die uns heute fremd sind. Luther schrieb einen Brandbrief gegen die Bauern im Bauernkrieg und ließ an den Juden kein gutes Haar. Manche bezeichnen ihn deswegen als Antisemiten. Doch das tut Corinna Hesse nicht.
    "Wenn man diese Texte heute liest von Luther, ist man entsetzt darüber, wie intolerant er gewesen ist. Aber gleichzeitig: Wenn man den historischen Kontext sieht, alle jüdischen Bürger zu der Zeit hatten in verschiedenen Regionen Europas extreme Schwierigkeiten. Also es gab Ansiedlungsverbote, es gab Beschäftigungsverbote, d.h., Luther war absolut nicht der einzige, der diese Meinung vertreten hat."
    Für eine ausführliche Darstellung des Problems habe auf der CD schlicht und einfach der Platz gefehlt, sagt Corinna Hesse – und das ist nachvollziehbar. 80 Minuten sind eine kurze Zeit, wenn es um das Leben und Wirken Martin Luthers geht. In seiner knappen Form bietet das Hörbuch dennoch viel. Es erklärt nicht nur die wichtigsten Ideen des Reformators, sondern liefert auch eine Menge Hintergrundwissen.