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Das Erbe der NS-Zeit

Täglich bekommt der Deutschlandfunk Reaktionen auf seine Beiträge und Anregungen. Weil er durch eine Sendung zum Weiterdenken angeregt wurde, meldete sich der Berliner Historiker Heinz-Rudolf Othmerding mit der Frage, wie seine Generation – die jetzt 60-Jährigen – beeinflusst wurden durch Mütter und Väter, die NS-Täter und Mitläufer waren.

Von Claudia van Laak | 10.08.2017
    Heinz-Rudolf Othmerding besucht mit Autorin Claudia van Laak das angrenzende Naturschutzgebiet
    Blick auf sich selbst und die Vergangenheit: der Historiker Heinz-Rudolf Othmerding. (Deutschlandradio / Claudia van Laak)
    "Wir sitzen hier an der Fließwiese, in der Nähe des Olympiastadions, im äußersten Westen Berlins."
    Ein sonniger Morgen auf dem Balkon von Heinz-Rudolf Othmerding. Eine ruhige Einfamilienhaussiedlung, die Hektik der Großstadt weit weg. Der 64-Jährige hat sich hier zur Ruhe gesetzt, nach einem anstrengenden Journalistenleben für die Nachrichtenagentur dpa. Korrespondent war er unter anderem in Israel und Indien, Kriegsberichterstatter in Afghanistan. Ich weiß, wie Krieg riecht und schmeckt, sagt Othmerding, den seine Freunde und Kollegen Othes nennen. Ein Geruch aus Blut, Angstschweiß, Metall, Pulverdampf, der sich tief eingegraben hat. Vielleicht lässt ihn deshalb dieses Thema nicht los. "Kriegskinder und Kriegsenkel - Die Wahrheit kann heilen" – dieses Feature hörte er im Deutschlandfunk.
    "In diesem Feature ging es um die Frage, wie geht meine Generation mit Massenmord, mit Kriegstreiberei, mit den Verbrechen des Nationalsozialismus, mit Judenmord um."
    Ein Thema, das den Historiker schon lange umtreibt. Dabei geht es Heinz-Rudolf Othmerding nicht so sehr um die politische Auseinandersetzung mit der Tätergeneration, sondern um die persönliche, familiäre. Wie wurden wir unbewusst von unseren Eltern geprägt, die von Hitler so begeistert waren – fragt er sich.
    "Was ziehe ich daraus, was mein heutiges Handeln bestimmt. Und darüber haben wir alle zu wenig drüber nachgedacht. Alle."
    Heinz-Rudolf Othmerding in seinem Arbeitszimmer
    Heinz-Rudolf Othmerding in seinem Arbeitszimmer (Deutschlandradio / Claudia van Laak)
    Erstaunlich – in einem Alter, in dem andere ihren Enkelkindern klare Überzeugungen, Gewissheiten und Weltsichten vermitteln, in diesem Alter hat der Journalist mehr Fragen als Antworten, auch an sich selber.
    "Was bedeutet das für uns heute, die wir mit diesen Verbrechen als Individuen nichts zu tun haben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass da was mitschwingt."
    Othmerding erzählt von seiner Schulzeit in Münster. Von Hüpfspielen, die "Deutschland erklärt den Krieg" hießen, von einer verrohten, mit Nazivokabular durchtränkten Sprache, wenn die Kinder zum Beispiel damit drohten, sich gegenseitig zu vergasen. Und die Familie? Der 64-Jährige stockt, atmet tief durch.
    Brutale Diskussionen mit dem Vater geführt
    "Wie ist das in meiner Familie?"
    Die Mutter klar geprägt durch das Frauenbild der Nationalsozialisten – der Sohn wurde bevorzugt, die Tochter benachteiligt. Harte Strafen, aggressive Missachtung. Widerspruch duldete sie nicht. Der Vater Besatzungssoldat in Norwegen, als Bauernsohn spekulierte er auf einen Hof im besetzten Polen. Hart habe er mit seinem Vater darüber diskutiert.
    "Was wäre das für ein Hof gewesen? Das wäre ein gestohlener Hof gewesen. Da wären vorher Polen drauf gewesen, die wären weg gewesen. Dann hat mein Vater immer gesagt: Das verstehst Du nicht, das war eine andere Zeit. Nein, das muss ich aber verstehen. Ich weiß, wir haben brutale Diskussionen geführt über dieses Thema."
    Heinz-Rudolf Othmerding fragt sich mittlerweile, ob diese Unnachgiebigkeit, diese Brutalität, mit der er Diskussionen führt, nicht auch ein Erbe dieser Zeit ist.
    "Ob ich da diese Kompromisslosigkeit wiederfinde, die für meine Eltern typisch war. Jedenfalls hat diese Zeit die Kompromisslosigkeit ausgezeichnet, bis hin zum Massenmord."
    Heinz-Rudolf Othmerding's Blick fällt in den Garten und das angrenzende Naturschutzgebiet – Feuchtwiesen und Erlenbruch. Eine Amsel fliegt auf, der Sommerwind rauscht in den Blättern. Der Historiker zeigt mit der Hand hinüber in das Sumpfgebiet.
    Spuren in nächster Umgebung
    "Dieses Gelände uns gegenüber ist buchstäblich blutgetränkt."
    Othmerding taucht ein in die Erzählung der letzten blutigen Schlachten des Zweiten Weltkriegs, als die Rote Armee schon vorgerückt war auf Berlin und Nazideutschland seine Kinder in den Tod schickte.
    "Dann hat man die Soldaten aus der Albrechtskaserne, das waren 15-jährige Hitlerjungen, hat man von hier aus durch das Manövergelände Richtung Olympiastadion in Marsch gesetzt, die haben dann die Russen aus dem Olympiagelände vertrieben, da sind mindestens 1.500 Tote gewesen, auf diesem Stück hier, was wir hier einsehen können. Das ist hier so nah, das ist hier überall."
    Der Historiker will noch etwas zeigen. Den Ort, an dem im Frühjahr 1945 Deserteure und von den Nazis sogenannte Wehrkraftzersetzer erschossen wurden – gleich nebenan am Murellenberg.
    "Wir können ja noch mal da rüberlaufen."
    Ein bewaldetes, früher einmal parkähnliches Gelände gleich hinter der Waldbühne. Heinz-Rudolf Othmerding zeigt die Reste einer Backsteinmauer, von Moosen überwachsen.
    "Die Leute hier im Viertel sagen, da seien die Exekutionen vollzogen worden, hier an diesem Mauerstück. Das ist aber nicht sicher."
    Einen schmalen, steilen, sandigen Pfad geht es den Hügel hinauf. Oben zwischen Eichen, Ahornbäumen und Birken blitzen Spiegel in der Sonne - ähnlich wie sie manchmal an gefährlichen Straßenkreuzungen zu finden sind. Eine Kunstinstallation.
    "Hier sind jetzt überall diese Spiegel. Und die sollen erinnern an diese Militärgerichtsurteile, die in den letzten Kriegstagen gefällt und exekutiert worden sind."
    Auf einigen Spiegeln sind Zitate von Zeitzeugen zu lesen. "Wir wurden dazu gezwungen, uns im Dreieck aufzustellen, und dann mussten wir zusehen, wie der arme Kerl da erschossen wurde" steht dort. Oder:
    "Keiner der am Volksgerichtshof tätigen Berufsrichter und Staatsanwälte wurde wegen Rechtsbeugung verurteilt, ebenso wenig Richter der Sondergerichte und der Kriegsgerichte."
    Für den Historiker und Journalisten Heinz-Rudolph Othmerding ist all das hier kein abgeschlossenes geschichtliches Kapitel. Es ist immer wieder Anlass, sich selber zu befragen.
    "Was ist in uns geblieben. Was beeinflusst unser Verhalten heute. Manchmal sträube ich mich, tiefer reinzugehen in diese Frage, weil ich nicht weiß – vielleicht fürchte ich mich auch vor dem Ergebnis. Vielleicht kommt da etwas zutage, was mir ungeheuer wäre."