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Hörspielpreis der Kriegsblinden
Tief ins Bewusstsein eingebohrt

Die psychischen Schäden eines Mannes, der beruflich Gräuelbilder aus dem Internet entfernt - darum geht es in Lucas Dereyckes Hörspiel "Screener". Am Abend wurde es mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet. Ein beeindruckendes Hörerlebnis, sagt Jurorin Gaby Hartel.

Gaby Hartel im Gespräch mit Anja Reinhardt | 17.05.2017
    Ein Plakat zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden im Deutschlandfunk in Köln.
    Am 17. Mai wurde im Deutschlandfunk der Hörspielpreis der Kriegsblinden verliehen. (Deutschlandradio - Victoria Reith)
    Anja Reinhardt: Vor ein paar Monaten gab es im Magazin der Süddeutschen eine große Reportage über die Menschen, die das Abgründige, das im Netz gepostet wird, löschen. Die Leute, die das machen nennt man Content Reviewer, sie bewahren den normalen Nutzer vor Tierquälerei, Kinderpornografie, Enthauptungen, verstümmelte Leichen. Diese Content Reviewer sehen das hundertfach, die Konsequenzen sind psychische Beschädigungen, deren Langzeitfolgen gar nicht abzusehen sind. Der Belgier Lucas Derycke hat so einen Netz-Feuerwehrmann zum Protagonisten seines Hörspiels "Screener" gemacht. Felix wird die Bilder, die er sieht, nicht mehr los. Für "Screener" hat Lucas Derycke den Hörspielpreis der Kriegsblinden gewonnen, der gerade eben hier im Deutschlandfunk verliehen wurde. Kurz vorher konnte ich noch mit der Vorsitzenden der Jury, Gaby Hartel, sprechen, von der ich wissen wollte, was sie an "Screener" so beeindruckt hat.
    Das Bewusstsein als Filter
    Gaby Hartel: Ja, das ist wirklich eine gute Frage. Was mich an "Screener" so beeindruckt hat, war eigentlich auch das Aktuelle des Hörspiels als Form selbst. Mit dem Hörspiel gelingt es diesem jungen Mann, wirklich unter die Haut des Hörers zu kommen und, wenn Sie so wollen, die psychische Verstümmelung eines Menschen, der ständig von Berufswegen sich auseinandersetzen muss mit diesem Content, mit diesen furchtbaren Dingen. Das erleben Sie haarscharf und haargenau und hautnah mit, und das kann im Prinzip eigentlich nur das Hörspiel leisten, denn wenn Sie zu diesem Thema etwas machen wollen, müssen Sie ja immer auch die schlimmen Contents zeigen. Denn natürlich hätte man die akustische Ebene dieser Brutalität ganz stark hervorheben können, aber sie wurde immer überdeckt mit, sozusagen ganz vorne stehend, dem Filter, dem Bewusstsein dieses jungen Mannes, der die Aufgabe hat, die Brutalität nur anhand von drei Worten zu beschreiben. "Tagging" nennt man so was. Und so ist es auch akustisch unheimlich interessant, weil man verschiedene Ebenen hat. Irgendwo unten ahnt man das Schlimme, was passiert, und gleichzeitig wird es aber auch nicht vorgeführt. Aber die Leistung, wenn ich das noch gerade sagen kann, ist wirklich, dass man im Radio in das Bewusstsein dieses jungen Mannes sozusagen sich einbohren kann und dessen Auflösung miterleben.
    Starker Jahrgang - knappe Entscheidung
    Reinhardt: Das ist ja ein sehr moderner Stoff. Mit solchen Dingen beschäftigen wir uns ja noch gar nicht so lange. Was waren denn die Themen der anderen Stücke? Sie haben mir vorhin, bevor wir das Gespräch hier gemacht haben, schon gesagt, dass es ein sehr, sehr starker Jahrgang, wenn man das so sagen darf, war.
    Hartel: Ja, ja. Auf jeden Fall! Was faszinierend war, dass sich durch die Bandbreite der Möglichkeiten, auch durch die Literatur, teilweise die ganz alte Literatur bewegt wurde, und anhand der schon seit Jahrtausenden existierenden zum Beispiel Gedichtform des Haikus – dieses Stück hat es auch unter die drei Favoriten geschafft -, anhand dieser Form mit ganz aktuellen Mitteln beschrieben wurde, wie Sensibilität entsteht. Wenn Sie so wollen, ist das ganz aktuell das Gegenteil von dem Gewinnerstück jetzt, und ich muss Ihnen sagen, das war alles haarscharf und ganz knapp. Das sind Formen, die die Menschheit entwickelt hat, die uns alle möglichen Achtsamkeitskurse und ähnliche Seminare der Selbstoptimierung eigentlich ersparen.
    Reinhardt: Besseres Leben mit Hörspiel.
    Hartel: Kann man wirklich nicht anders sagen. Und Sie hören es wahrscheinlich: Ich bin wirklich völlig begeistert. "Weiter machen" kann ich den Redaktionen, den Autorinnen und Autoren nur sagen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Beim WDR hören Sie Lucas Deryckes Hörspiel "Screener" in voller Länge.