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Hörtest für Neugeborene

In Deutschland wird - statistisch - eins von 1000 Kindern mit einer beidseitigen Taubheit geboren: Das sind rund 700 Kinder pro Jahr. Bei jedem zweiten Betroffenen wird der gravierende Hördefekt aber erst im Alter von zwei oder sogar drei Jahren entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt sind dann leider schon erhebliche Verzögerungen in der Gehirnentwicklung eingetreten, denn Intellekt und Sprache sind eng miteinander gekoppelt. Diese Kinder möglichst frühzeitig zu entdecken, ist das Ziel des "Hörscreening für Neugeborene".

Von Michael Engel | 06.01.2009
    Lili schläft immer noch ganz erschöpft von der Geburt gestern. "Günstige Bedingungen für den Hörtest", sagt die Kinderkrankenschwester Stephanie Müller, die einen dünnen Schlauch mit Stöpsel in der Hand hält.

    Jetzt führe ich die Sonde in den Gehörgang ein. Und dann kann die Messung eigentlich schon beginnen. Dann muss ich nur noch am Gerät einstellen: OAE-Messungen - das sind die otoakustischen Emissionen.

    Otoakustische Emissionen sind Töne, die - wörtlich - aus dem Ohr herauskommen. Sie werden von den Haarzellen im Innenohr - der Hörschnecke - erzeugt, wenn diese akustisch gereizt werden. An der Sondenspitze befindet sich deshalb ein Mikrophon, das die extrem leise Antwort aus dem Innenohr des Neugeborenen registriert. Schon nach wenigen Sekunden ist alles vorbei ...

    " Und dieses Piepsgeräusch, wenn man das jetzt gehört hat, das zeigt sozusagen, dass alles in Ordnung ist. Die Messung hat also funktioniert, was in diesem Fall bedeutet, dass das Innenohr korrekt funktioniert."

    Bislang wurden nur 50 Prozent der betroffenen Babys rechtzeitig entdeckt, weil sie als sogenannte "Risikobabys" auch andere Defekte mit auf die Welt brachten und deshalb umfassend untersucht wurden. Die scheinbar Gesunden hingegen fielen ohne Hörscreening durch das Diagnoseraster. Nächste Jahr soll es ein kostenloses Hörscreening für alle Neugeborene in Deutschland geben. Prof. Thomas Lenarz von der Medizinischen Hochschule Hannover: 0.30

    "Die ersten beiden Jahre sind entscheidend für eine normale Hör- und Sprachentwicklung. Das kann nachher auch nicht mehr aufgeholt werden, auch wenn dann alle therapeutischen Maßnahmen eingesetzt werden, die es ja therapeutisch gibt."

    Die Entscheidung, ein Hörscreening für Neugeborene als neue Vorsorgeuntersuchung ab 2009 einzuführen, basiert auf einer mehrjährigen Studie der Medizinischen Hochschule Hannover unter Einbeziehung von 30.000 Neugeborenen, bei denen der Test durchgeführt wurde. Demnach kommt ein Baby von 1000 Neugeborenen in Deutschland mit einem schwerwiegenden Hördefekt auf die Welt. Noch wichtiger ist dieser Befund: Praktisch alle Betroffenen konnten mit dem Hörtest erkannt werden, so der HNO-Experte. Die kleinen Patienten erhalten dann ein Hörgerät: In manchen Fällen ist eine Operation nötig.

    "Also man hat für alle Formen und Grade von Schwerhörigkeit die Therapiemöglichkeiten da. Das ist ja auch das Positive dabei. Also ich mache jetzt nicht nur einen Nachweis, dass jemand eine Krankheit hat, wo ich nachher nichts tun kann, Sondern ich habe effektive Therapieverfahren verfügbar. Nur die müssen so früh wie möglich bei diesen Kindern zum Einsatz kommen. Dann habe ich auch das optimale Ergebnis. Und das bedeutet: Diese Kinder haben eine ungestörte Sprachentwicklung, und sie können nachher auch zu einem Großteil in normale Schulen gehen."

    Die kostenlose Vorsorgeuntersuchung für Neugeborene soll künftig von allen Kliniken der Geburtshilfe angeboten werden. Dort, wo die meisten Kinder zur Welt kommen. Mütter, die nicht im Krankenhaus entbinden möchten, können sich an niedergelassene HNO-Fachärzte evtl. auch an Kinderärzte wenden. Beim "Hörscreening für Neugeborene" zählt Deutschland bislang zu den Schlusslichtern in Europa. Ab 2009 steht die Vorsorgeuntersuchung dann auch hierzulande flächendeckend zur Verfügung. Lili's Mutter kann heute schon aufatmen:

    "Ich möchte natürlich auch wissen, dass alles in Ordnung ist. Ist doch klar."