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Hoffnung auf Frieden im Himalaya

So viel Hoffnung gab es lange nicht mehr im Kaschmir-Tal, einem der landschaftlich schönsten Gebiete im Nordwesten Indiens. Zum ersten Mal seit vielen Jahren sind die romantischen Hausboote auf dem Dal See in Srinagar mit Blick auf die Höhenzüge des Himalaya ausgebucht. An der Waffenstillstandslinie, die Kaschmir in einen indischen und einen pakistanischen Teil trennt, werden unter den Augen der Soldaten beider Länder Häuser und Schulen wieder aufgebaut, weil die Artillerie seit November letzten Jahres keinen Schuss mehr abgefeuert hat.

Von Barbara Böttger | 15.09.2004
    Auf der alten seit 1948 nicht mehr benutzten Straße zwischen dem indischen Srinagar und dem pakistanischen Muzzafarabad soll bald eine Busverbindung eröffnet werden, wenn sich die Kontrahenten über die Reisepapiere einig werden: Indien will die Kontrolllinie als internationale Grenze anerkannt wissen, für die dann Visa nötig wären, Pakistan dagegen will das Kaschmir-Tal möglichst in sein Staatsgebiet einverleiben und bevorzugt eine von den örtlichen Behörden ausgestellte einfache Bescheinigung.

    Es käme tatsächlich einem Wunder gleich, wenn der gegenwärtige Verhandlungsprozess zwischen den beiden Konfliktparteien dazu führen würde, dass sich die Menschen des geteilten Landes besuchen können und der Handel wiederbelebt würde. Damit könnte einer der gefährlichsten Konflikte der Welt zwischen zwei Atommächten, die schon drei Kriege gegeneinander geführt haben, entschärft werden. Die Aussichten dafür waren noch nie so vielversprechend wie heute.

    So ermutigend die Situation an den Außengrenzen erscheint, so wenig hat sich an der bürgerkriegsähnlichen Situation innerhalb des indischen Bundesstaates Jammu und Kashmir selbst geändert. Die alltägliche Gewalt ist seit dem vor 15 Jahren begonnenen Aufstand junger Kaschmiris gegen die indischen Sicherheitskräfte nur unwesentlich zurückgegangen.

    Wie in Palästina die Israelis wird die indische Armee von der Bevölkerung als fremde Besatzungsmacht empfunden, umgekehrt erscheint den meist eine andere Sprache sprechenden Soldaten jeder männliche Kaschmiri zwischen 15 und 40 Jahren als potentieller Attentäter. Nachrichten eines beliebigen Tages in diesem Sommer:

    Ein Zivilist wurde getötet und 30 andere, einschließlich eines Grenzpolizisten, wurden bei einer Granatexplosion in Baramulla verletzt. Anderswo wurden vier Zivilisten, drei Spezialpolizisten und drei Guerillakämpfer bei verschiedenen gewalttätigen Auseinandersetzungen im Land getötet.

    Die Kaschmiris sind zwischen den Gewehren der beiden Seiten gefangen. Die Lösung liegt nicht nur bei einer Seite, ich meine die Polizei und die Sicherheitskräfte auf der einen und die Aufständischen auf der anderen. Es sind die Zivilisten, die dazwischen im Kreuzfeuer stehen. Wir müssen sehen, dass die meisten der jungen Leute aus der Nachbarschaft, die ein Gewehr haben, eigentlich nach Hause gehen wollen, wenn man ihnen einen ehrenhaften Rückweg eröffnet.

    Deshalb findet der Dialogprozess statt, der uns Kaschmiris das Gefühl gibt, dass wir nicht kapitulieren müssen für den Frieden. Es hat einen vollständigen Waffenstillstand an den Grenzen gegeben, und die Menschen sind so glücklich darüber. Es gibt weniger Grausamkeiten durch die Sicherheitskräfte und die Spezialpolizei. Die Menschen insgesamt wollen Frieden.

    Alles, was diesen Friedensprozess erleichtert, wird befürwortet. Wer unterstützt denn den bewaffneten Aufstand? Es sind die Menschen vor Ort. Sie sollten deshalb die Botschaft bekommen, dass die Politik ihnen hilft. Alle sind der Waffengewalt überdrüssig, sie haben sie satt. Sie möchten Touristen sehen, sie wünschen sich Wohlstand und wirtschaftliche Entwicklung.


    So die Vorsitzende der Regierungspartei von Jammu & Kaschmir, Mehbooba Mufti, eine mutige junge Anwältin, Mutter von zwei Töchtern, die in die Politik gegangen ist, als islamische Fundamentalisten Frauen bedrohten, wenn sie sich nicht mit einer den ganzen Körper umhüllenden Burka verkleideten. Sie widersetzte sich den in Kaschmir bisher nicht üblichen Bekleidungsvorschriften wie viele andere Frauen auch und führte einen neuen Stil der Politik der "Heilung" ein. Mehbooba Mufti verurteilte die Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitsorgane und kümmerte sich um die Familien der Opfer: die Witwen mit ihren Kindern und die Waisen.

    Während des Wahlkampfes für das indische Parlament im Frühjahr ist sie dreimal nur ganz knapp Bombenanschlägen auf ihre Person und ihre Begleiter entgangen, aber schon kurz danach trat sie wieder öffentlich auf. Wer Politik mache in diesem Land, sei das gewöhnt, kommentiert sie kühl. Die Regierung hat den Kämpfern jetzt das Angebot gemacht, ihnen, wenn sie ihre Waffen abgeben, drei Jahre lang Geld für ihre Wiedereingliederung zu zahlen und anschließend beim Aufbau einer neuen Existenz behilflich zu sein.

    Etwa 90.000 Tote hat der Kampf um die Unabhängigkeit Kaschmirs schon gekostet, sagen humanitäre Organisationen. Außerdem mindestens ebenso viele Verletzte, Tausende vergewaltigter Frauen, verschwundene Männer und Waisenkinder, und darüber hinaus 270.000 vertriebene Hindus.

    Der Grund dafür liegt in der Entscheidung des ehemaligen Maharaja von Kaschmir, der ein Hindu war, sein mehrheitlich von Muslimen bevölkertes Land 1947/48 bei der religiös bestimmten Teilung Britisch-Indiens in das muslimische Pakistan und das säkulare mehrheitlich hinduistische Indien an die Indische Union anzuschließen.

    Diese Entscheidung und der Einfall muslimischer Stämme in das Kaschmir-Tal löste den ersten Krieg zwischen Indien und Pakistan aus. Entgegen einer UN-Resolution, die verlangt, die Bevölkerung darüber abstimmen zu lassen, wo sie leben will, respektierten die Inder die von ihnen einst zugestandene relative Autonomie in Kaschmir nicht. Auch Pakistan versuchte noch zweimal vergeblich, die Provinz gewaltsam zu annektieren. Der letzte dieser Kriege fand erst 1999 auf dem schneebedeckten Himalaya in 5000 Meter Höhe statt.

    Je weniger die Kaschmiris von ihren demokratischen Rechten Gebrauch machen konnten, desto mehr entfremdete sich die Bevölkerung von der indischen Zentralregierung. Der hoch geachtete Ministerpräsident Sheikh Abdullah zum Beispiel verschwand wegen Unbotmäßigkeit für 20 Jahre hinter Gittern. Als 1989 die Landeswahlen offensichtlich gefälscht wurden, versuchten junge Kaschmiris, sich mit Waffengewalt ihr Selbstbestimmungsrecht zu erkämpfen.

    Syed Shabbir Shah war einer von ihnen. "Freiheit ist unser Geburtsrecht" steht über dem Eingang des Büros seiner Partei, die er nach der Entlassung aus 22jähriger Haft, davon 20 Jahre ohne Prozess, in indischen Gefängnissen gegründet hat. Heute hat er der Gewalt abgeschworen und versucht, die unterschiedlichen Flügel der Separatisten zu vereinigen. Er entschuldigt sich, wegen der langen Haft, nicht genug Englisch zu sprechen. Auf die Frage nach seiner politischen Identität, antwortet er:

    Weil dieses Land meine Heimat ist, bin ich zuerst ein Kaschmiri. Indien wird nicht akzeptiert von den Kaschmiris. Das ist eine umstrittene Frage. Wir leben in Kaschmir, das von den Indern besetzt ist. So wie Indien einst von den Briten beherrscht worden ist, herrschen die Inder jetzt über uns Kaschmiris. Aber wir sind nicht gegen einen Dialog.

    Zuerst muss jedoch die Situation in unserem Land verändert werden, sie ist nicht geeignet für einen Dialog. Menschen werden in der Haft gefoltert und getötet, es kommt zu den schlimmsten Grausamkeiten durch die indische Armee und die Polizei. Zuerst muss die Atmosphäre so verbessert werden, dass die Menschen sich frei politisch betätigen können. Wir sind Demokraten, wie können wir uns einem demokratischen Prozess verweigern?


    An den Wahlen zum indischen Parlament haben sich seine Partei und die übrigen separatistischen Organisationen jedoch nicht beteiligt, sie treten entweder für einen Anschluss an Pakistan oder für einen unabhängigen Staat Kaschmir ein, der auch den pakistanisch verwalteten Teil einbeziehen sollte. Eine Schweiz im Himalaya, so wird dieser nationalistische Traum oft beschrieben. Aber jeder weiß, dass ihn weder Indien noch Pakistan jemals erfüllen werden, weil der ihnen jeweils unterstellte Teil Kaschmirs zum nationalen Kernbestand erklärt wurde.

    Die dritte und am ehesten zu realisierende Möglichkeit für eine größere Selbstbestimmung wäre eine weitgehende Autonomie unter Beibehaltung der Bereiche Verteidigung, Außenpolitik und Kommunikationsmittel bei der Indischen Union wie sie bis 1953 bestanden hat. Formal ist sie als Artikel 370 noch immer in der indischen Verfassung enthalten, faktisch jedoch durch eine Vielzahl von Vorschriften und Gesetzen aufgehoben. Bis auf Wohlfahrtsmaßnahmen, soziale Sicherung, Kultur und das muslimische Privatrecht ist Kaschmir vollkommen in die Indische Union integriert.

    Neben einer weit reichenden Autonomie müsste ein großer Teil der 500.000 indischen Sicherheitskräfte abgezogen und die Infiltration von in Pakistan ausgebildeten und bewaffneten Kämpfern beendet werden. Wenn parallel dazu die Waffenstillstandslinie beidseitig demilitarisiert und ein kleiner Grenzverkehr von Menschen und Waren eröffnet würde, könnten sich die geteilten Familien besuchen, Märkte entstehen und tief sitzende gegenseitige Vorurteile zwischen den feindlichen Brudervölkern abgebaut werden.

    Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Heute wird in Kaschmir heftig darüber gestritten, wer die Bevölkerung denn nun wirklich repräsentiert, wenn sie bei den Verhandlungen zwischen Indien und Pakistan tatsächlich eine Stimme bekommen sollte. Professor Abdul Ghani Bhat, hat an der ersten Runde der Verhandlungen mit der indischen Regierung zu Beginn dieses Jahres teilgenommen:

    Die Menschen, die die Kaschmiris vertreten, sind Mitglieder des politischen Forums "All Parties Hurriyat Conference", in dem sich alle Parteien in einer Art Dachverband zusammengeschlossen haben. Das Forum beansprucht mit Recht, dem Gefühl Ausdruck zu verleihen, das tief in der Seele der Menschen von Kaschmir verwurzelt ist. Wir repräsentieren das vergossene Blut unserer Jugend, die Asche unserer Häuser, die verlorene Ehre unserer Mütter und Schwestern.

    Wir repräsentieren das Nationalgefühl, der Ministerpräsident, und die anderen Parteien vertreten die Machtinteressen. Ein ungeheuer wichtiger Prozess läuft gerade auf dem Subkontinent ab: Indien und Pakistan reden miteinander. Das allein ist schon ein Wunder. Wir können diesem Prozess nicht fernbleiben, der letztlich nicht nur zur Lösung des Konfliktes zwischen Indien und Pakistan führen wird, sondern auch zur Wiederherstellung eines dauerhaften Friedens zwischen den Atommächten in Südasien.


    Abdul Ghani Bhat spricht hier nur für den moderaten Teil des Dachverbandes der Separatisten, die radikalere Fraktion hat sich den Verhandlungen mit der indischen Regierung verweigert, redet dafür mit der pakistanischen Regierung und propagiert den Anschluss an Pakistan. Mit demselben Recht behauptet die gewählte Regierungspartei von Mehbooba Mufti im Bündnis mit der Kongresspartei, die seit dem Frühjahr wieder in Neu Delhi regiert, für die Kaschmiris zu sprechen.

    Eine wichtige Stimme ist außerdem die Jammu und Kashmir Befreiungsfront, die den Aufstand gegen Indien initiiert und sich inzwischen vom bewaffneten Kampf distanziert hat. Und nicht zu vergessen die mehrere Tausend Mann umfassenden Einheiten von Unabhängigkeitskämpfern aus dem Kaschmir-Tal und islamistischen Mujahedin aus Pakistan, die ihren Terror stellvertretend für das Heil der Muslime ausüben. Anfangs konnten diese jungen Männer noch mit breiter Unterstützung durch die Bevölkerung rechnen, heute werden sie auch gefürchtet, weil sie nicht nur die indischen Sicherheitskräfte angreifen, sondern auch nachts in die Häuser eindringen und Essen, Unterkunft und oft auch Mädchen verlangen oder Jugendliche rekrutieren.

    Pakistan hat zwar Training, Bewaffnung und Finanzierung dieser Gruppen, die teils auch mit Al Kaida zusammenarbeiten, zurückgeschraubt, aber wegen ihres Druckpotentials gegenüber Indien noch nicht ganz eingestellt. Auf die Frage, wer die 10 Millionen Kaschmiris bei den laufenden Verhandlungen vertreten könnte, gibt es derzeit keine schlüssige Antwort.

    Der bewaffnete Kampf um die Freiheit und die Niederschlagung des Aufstands durch die Sicherheitskräfte fordert einen hohen Preis: Die riesigen Friedhöfe der sogenannten Märtyrer und die zerstörte Gesellschaft Kaschmirs sprechen eine deutliche Sprache. Eine ganze Generation ist mit dieser alltäglichen Gewalt aufgewachsen. Die Familie eines Teppichknüpfers mit sechs Töchtern und einem Sohn, der als Touristenführer arbeitet, berichtet von ihrem Leid. Seine Schwestern sitzen in einem Raum auf dem Boden und fertigen Stickereien für Tischdecken und Kleider. Die 16jährige Foxiza besucht eine Highschool und will später als erste der Familie aufs College gehen. Sie erzählt, was ihrem Onkel passiert ist, ihr Bruder übersetzt:

    Er ist unser Onkel, er wurde von der indischen Armee getötet. Sie dachten, er sei ein Aufständischer, aber er war kein Kämpfer, er war ein Maurer, er baute gerade ein Haus. Er wurde direkt vor unseren Augen getötet. Sie warfen Granaten von außen in das Haus, aber sie haben uns erst herausgelassen, dann warfen sie die Granaten in das Haus, und drei Menschen kamen ums Leben, direkt vor uns. Ich war noch sehr klein, es war ein großer Schock damals.

    Ihr Bruder Gulzar musste mit zwölf Jahren die Schule abbrechen, um durch kleine Jobs für Touristen mitzuverdienen. Wenn es Frieden gibt, möchte er unbedingt aufs College gehen. Srinagar, einst eine blühende Stadt zu Füßen des malerischen Dal-Sees, der mit seinen holzgeschnitzten Hausbooten eine Attraktion darstellt, galt früher als ein Paradies im Himalaya.

    Heute gleicht der Ort mit zahlreichen Armeestützpunkten und Panzerwagen eher einer belagerten Stadt, obwohl es schon besser geworden sei, wie die Bewohner berichten. Das Büro von Syed Gowhar Hussain hat seinen Eingang bewusst etwas versteckt gehalten, kein Schild weist auf die bekannte islamische Hilfsorganisation hin. Der Sozialarbeiter wünscht sich endlich Frieden:

    Wir wollen einen lang anhaltenden Frieden, nicht zwei Jahre, sondern zehn Jahre Frieden. Die Eltern, die ihre Kinder in die Schule schicken, wollen, dass sie sicher nach Hause kommen. Die Bildung hat sehr gelitten, ebenso die Wirtschaft. Die jungen Leute, die in den letzten 15 Jahren geboren wurden, sie erleben Gewalt seit ihrer Kindheit, sie können nicht in ein Schulcamp fahren oder in die Berge zum Trecking. Sie möchten auf den Sportplatz gehen, Unterhaltung haben. Alle Eltern in Kaschmir sind besorgt um die Zukunft ihrer Kinder.
    Beinahe in jeder Familie, in 90 Prozent der Familien gibt es ein Opfer, jemand ist verletzt, jemand ist getötet worden, jemand ist verschwunden. Jede Familie hat in diesen 15 Jahren solche Tragödien erlebt.


    Dennoch verteidigt Syed Gowhar Hussain den Kampf um Selbstbestimmung und wünscht sich eine Schweizer Lösung. Oft werden Deutsche darauf angesprochen, dass sie doch auch die Berliner Mauer überwunden hätten. Warum könnten nicht auch die Grenzen in diesem Teil der Welt durchlässiger werden? Die Europäische Union als wirtschaftlich erfolgreicher Bund kulturell unterschiedlicher Staaten, die sich lange Zeit bitter bekämpft haben, gilt vielen als Vorbild.

    Doch neben der Gewalt im Inneren muss noch ein weiteres Problem gelöst werden: Die Rückkehr der Anfang der 90er Jahre vertriebenen knapp 300.000 hinduistischen Kashmiri Pandits:

    Wir leben seit anderthalb Jahrzehnten außerhalb Kaschmirs. Wir sind Flüchtlinge in unserem eigenen Land. Wir haben die Samachar Post, die einzige englische Tageszeitung damals, veröffentlicht. Wir waren pro-indisch und kritisierten Pakistans Rolle beim Schüren der Gewalt im Tal. Wir wurden von den Kämpfern bedroht, sie kamen in unser Büro mit einem Gewehr unter ihrem Mantel und zwangen uns in der Zeitung anzukündigen, wenn für den folgenden Tag ein Streik im Tal geplant war.

    Wenn wir nein sagten, drohten sie uns zu erschießen, so mussten wir die Geschichte veröffentlichen. Schließlich, als Menschen umgebracht wurden, mussten wir das Tal verlassen. Etwa 2.000 Menschen sind in den Jahren 1989/90 getötet worden. Am nächsten Tag nahmen wir unser Handgepäck und flogen nach Delhi, die Autos, all unser Eigentum ist im Tal zurückgeblieben.

    Eines Nachts spielten die Moscheen Kassetten, dass die Hindus weggehen und ihre Frauen und Töchter hier lassen sollten. 'Verlasst Kaschmir! Das ist unser letzter Aufruf!' Alle waren furchtbar erschrocken, die meisten haben den Ort verlassen. Danach begann der Exodus der Hindus. Meine Familie ging nach Jammu. Sie mussten alles zurücklassen und kamen mit leeren Händen. Sie mussten um ihr Leben rennen und dann ein Jahr lang bei Verwandten leben.


    So Sushil Kaul Vakil und seine Frau Sunita, die heute in Delhi wieder ihre Zeitung herausgeben. Andere, die im Kaschmir-Tal ehedem wohlhabend waren, leben heute noch in Slums in der Hauptstadt oder in der mehrheitlich von Hindus bewohnten Stadt Jammu südlich des Himalayas. Andere haben ihr Glück in indischen Städten oder im Ausland gesucht. Inzwischen sprechen sich alle Politiker in Kaschmir offiziell für die Rückkehr ihrer Landsleute aus, können allerdings bis heute nicht ihre Sicherheit garantieren, so dass nur wenige die Rückkehr wagen.

    Die Verhandlungen zwischen den Delegationen Indiens und Pakistans über das weitere Schicksal Kaschmirs haben nach dem Regierungswechsel in Indien erst einmal einen Rückschlag erlitten. Als kürzlich der indische und pakistanische Außenminister zusammentrafen, machte sich angesichts des Mangels konkreter Ergebnisse Enttäuschung breit in Kaschmir: 'Das ist nur diplomatische Taschenspielerei, wie sie es immer machen, auf Druck von außen', wird ein prominenter Geistlicher zitiert.

    Indiens neu gewählter Premierminister Manmohan Singh beharrt auf der Umsetzung des pakistanischen Versprechens, die Infiltration von Kämpfern über die Waffenstillstandslinie nicht mehr zu unterstützen, während Pakistans Präsident Pervez Musharraf der Behauptung Indiens widerspricht, Kaschmir sei ein integraler Teil der Indischen Union. In einer Woche werden sich die beiden Regierungschefs am Rande der UNO-Vollversammlung in New York zum ersten Mal persönlich begegnen. Vielleicht gelingt es ihnen ja, sich zumindest auf eine grenzüberschreitende Busverbindung im seit 57 Jahren geteilten Kaschmir zu einigen.