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"Hofmannsthal. Orte"
Leben und Werk in einer Gesamtdarstellung

"Hofmannsthal. Orte" ist als Kooperationsprojekt zwischen dem Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt am Main und dem Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biografie in Wien entstanden. Der Aufsatzband unternimmt den Versuch, Hofmannsthals Biografie anhand der Quellen neu zu beleuchten.

Von Thomas Palzer | 26.01.2015
    Das Fin de siècle vor gut hundert Jahren ist das Zeitalter der Nervosität gewesen. Halb Europa litt damals an Neurasthenie oder anderen Nervenleiden. Und während Thomas Mann und sein Bruder Heinrich etwa nach Riva ins Sanatorium des Dr. von Hartungen flüchteten, um sich von den Strapazen des modernen Lebens zu erholen, und Hesse und Ernst Bloch den Monte Vérita aufsuchten, fuhr die Familie Hofmannsthal nach Bad Fusch, wo sie zwischen Juli und August ihre Sommerfrische verbrachte – also dem neu erwachten Bedürfnis des Städters nachkam, sich im Sommer auf dem Land zu erholen.
    Auch später, wenn den Spross der Familie, den Dichter Hugo von Hofmannsthal, nervöse Erschöpfungszustände und andere Krisen ereilten, sollte dieser sich an das Nest in den Bergen erinnern und zu ihm aufmachen. Nach dem Tod der Mutter 1904 schreibt Hofmannsthal an den Vater:
    "Es sind nun genau 20 Jahre, dass wir zum ersten Mal hier waren. Und mir ist, als wäre es vergangenes Jahr, so nahe, so lebhaft steht alles vor mir. [...] Seither habe ich vieles gesehen und manches erlebt, ich habe eher ein reicheres Gefühl von der Welt als damals, aber ich suche sie nicht mehr draußen. Ich weiß, dass sie nur in mir selbst ist. Und nur der Ruhe und inneren Harmonie bedarf, um hervorzusteigen."
    Hofmannsthal nutzte den Kurort für Erinnerungen und den Rückblick auf das eigene Leben. Walter Kappbacher hat einer solchen "Geisterstunde", wie Hofmannsthal seine Selbstbegegnungen nannte, 2009 mit seinem Roman "Der Fliegenpalast" ein literarisches Denkmal gesetzt.
    Von der Bedeutung Bad Fuschs und vieler anderer Orte erfahren wir aus einem jüngst erschienen Sammelband, der 20 biografische Erkundungen unter dem Titel zusammenfasst: "Hofmannsthal. Orte". In dem von Wilhelm Hemecker und Konrad Heumann herausgegebenen Band geht es um die elterliche Wohnung in der Salesianergasse, um Venedig, Berlin, Paris, München, um den Prater und die Universität und natürlich um Rodaun, den Ort, an dem Hofmannsthal sich von Wien zurückzog. Es geht also um jene Orte, die von biografischen Krisen und Prägungen markiert sind. Der Dichter selbst sagt ja in einer bekannten Wendung:
    "Stunde, Luft und Ort machen alles."
    Wien um 1900 folgte Rimbauds Direktive und wollte unbedingt modern sein. Modern war damals der culte du moi, waren Nietzsche, Barrès, Huysmans und Baudelaire. Modern war die Decadènce, waren l'art pour l'art, Ästhetizismus und Symbolismus - und modern war das Fin de siècle - ein hübsches Wort, das bald durch Europa lief, wie einer seiner Vertreter, der Schriftsteller Hermann Bahr, meinte – um zu ergänzen:
    "Nur [...] es wusste keiner recht, was es denn eigentlich heißt [...] Und das gab viel Konfusion."
    Einer der ersten freien Schriftsteller Österreichs
    Das Zentrum der Wiener Moderne war natürlich ein Caféhaus und lag an der Ecke der Herrengasse. Es hieß Café Griensteidl. Auch das ein Ort, der in dem Sammelband ausführlich begutachtet wird. Im Griensteidl traf man die Schriftsteller Karl Kraus, Hermann Bahr, Leopold von Andrian, Richard Beer-Hoffmann, Felix Salten, Arthur Schnitzler und eben Hugo von Hofmannsthal, der gerade 17 geworden war, als man ihn im Herbst 1890 in den Kreis einführt. Der residiert hier unter dem Etikett "Junges Wien".
    Karl Kraus wird über das Griensteidl spotten, dass hier "die Talente so dicht an einem Kaffeehaustisch zusammensitzen, dass sie einander gegenseitig an der Entfaltung hindern".
    Im Griensteidl wird nicht nur debattiert, man trägt auch die neuesten literarische Produktionen vor und debattiert diese. In dem Café liegen sämtliche in Europa relevante Zeitungen aus - unter anderem der "Mercure de France", der die französischen Symbolisten unter den jungen Wienern zum bedeutsamen Thema macht. 1895 besucht sogar Lou Andreas-Salomé das Kaffeehaus, der der Ruf einer frühen Vertrauten Nietzsches vorausgeht, dessen Geburt der Tragödie für Hofmannsthal und seine Zeitgenossen ein kanonischer Text gewesen ist.
    Hofmannsthal wird zu den ersten freien Schriftstellern Österreichs gehören, doch der Weg, der ihn schließlich zu dieser Entscheidung führt, ist schwierig. Zunächst gibt er dem elterlichen Einfluss nach und studiert Rechtswissenschaften. Allerdings findet er die akademische Freiheit, wie er in einem Brief notiert, "nicht berauschend". Sein Herz schlägt für die ästhetischen, philosophischen und historischen Seminare, die er jenseits der verpflichtenden Fächer, die er für sein Philosophicum braucht, besucht.
    "Der Umstand, dass mein Besuch der Universität fast gleichbedeutend ist mit dem Besuch einer bestimmten Gruppe Menschen, die mir nicht wirklich nahe stehen, hat mich veranlasst, im ganzen Sommersemester überhaupt nicht hinzugehen."
    Schließlich wechselt Hofmannsthal von Jura zur Romanistik, macht seinen Doktor und bereitet die Habilitation vor. Doch als die Arbeit sich der Fertigstellung nähert, äußert die neunköpfige Kommission der philosophischen Fakultät Bedenken. Der wachsende finanzielle Erfolg von seinen Stücken hat in Hofmannsthal nun den Gedanken reifen lassen, der wissenschaftlichen Karriere zu entsagen und die Existenz eines freien Schriftstellers zu ergreifen - und so zieht er sein Habilitationsersuchen zurück mit der Begründung, das auf ärztliches Anraten hin zu tun, da er ernsthaft an den Nerven erkrankt sei.
    Katya Krylova, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biografie in Wien, die die Bedeutung der Wiener Universität für den Sammelband Hofmannsthal. Orte inspiziert hat, schreibt:
    "Die neun Jahre von der Immatrikulation an der juridischen Fakultät der Universität Wien bis zum Abbruch der Habilitation im Dezember 1901 waren durch persönliche Krisen, Richtungswechsel und neue Erfahrungen geprägt. Zugleich war jener Lebensabschnitt einer der produktivsten seines künstlerischen Lebens. Nach Beendigung des Studiums heiratete Hofmannsthal schließlich Gerty Schlesinger, was nicht nur Emanzipation vom Elternhaus bedeutete, sondern auch häusliche Stabilität, die der Dichter für sein produktives Schaffen nicht entbehren sollte."
    Neben Wien war nach den Worten Hermann Bahrs Paris die Hauptstadt des Weltnervensystems. Dem Paris-Kenner Harry Kessler teilt Hofmannsthal - Doktor der Romanistik, der die Metropole insgesamt sechs Mal besuchen wird - am 10. Februar 1900 mit, auf dem Höhepunkt des Fin de siècle:
    "Ich gehe heute Abend für zwei oder drei Monate nach Paris."
    Hofmannsthal spürt die nahende Katastrophe des Ersten Weltkriegs
    In Hofmannsthals Bibliothek finden sich aus diesen Jahren Gedichtbände von Rimbaud, Verlaine und Mallarmé, Werke von Bourget, Maeterlinck, den Brüdern Goncourt, Maupassant und Baudelaire. Die Lektüre des "Mercure de France" im Café Griensteidl hat den Dichter gut auf die Hauptstadt des Symbolismus und l'art pour l'art vorbereitet. Hofmannsthal verbringt seine Abende in den Salons oder im Theater, er besucht Maurice Maeterlinck in seiner Villa nahe des Bois de Boulogne und Rodin in seinem Atelier. Dort fällt ihm "das Gipsmodell einer Statuette auf, eine voranstrebende Jünglingsfigur, der sich ein kleiner weiblicher Genius zu entziehen droht, indem er davonfliegt. Die Statuette trägt verschiedene Namen".
    Hofmannsthal bevorzugte den Namen "Der Held". Ein Bronzeabguss dieser Statuette, in der das Grundproblem der Unverfügbarkeit der Inspiration, mithin des künstlerischen Schaffens gestaltet ist, fand ein Jahr später seinen angemessenen Platz: im Arbeitszimmer des Rodauner Hauses.
    In jenen Tagen zeigt sich Wien mehr und mehr als die Hauptstadt einer sterbenden Monarchie, als, nach den Worten Hermann Brochs, der Hofmannsthal eine ganze Studie gewidmet hat, das "Wert-Vakuum der Epoche".
    Wie viele andere, so spürt auch Hugo von Hofmannsthal die nahende Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Der Ästhetizismus bietet für ihn keinen Ausweg – er rettet sich in eine Epik, die umso vehementer am Vergangenen festhält, am Glück des alten Österreich. Um ein letztes Mal Broch aus der erwähnten Studie zu zitieren, war "'A la recherche du temps perdu' auch seine Grundhaltung dem Leben gegenüber".
    Der Aufsatzband "Hofmannsthal. Orte" macht den Leser mit 20 entscheidenden Stationen im Leben des Dichters Hugo von Hofmannsthal vertraut - der erste Versuch, Leben und Werk in einer Gesamtdarstellung zu erfassen. Die einzelnen Aufsätze lassen den langen Weg erkennbar werden, den der Dichter vom Ästhetizismus bis zu Ernst Machs Parole von der "Evidenz des Augenblicks" zurückgelegt hat - vom Gips des Dauernden zur Autonomie des Flüchtigen und Liquiden.
    Buchinfos:
    Wilhelm Hemecker, Konrad Heumann (Hg.): "Hofmannsthal. Orte. 20 biographische Erkundungen", Wien 2014, Zsolnay, 512 Seiten, Preis: 29,90 Euro