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Holocaust-Gedenktag
Das Ende des Schweigens

In Israel wird am heutigen Nationalfeiertag Yom Ha’Schoah der Opfer des Holocaust gedacht. Viele Überlebende schweigen bis heute über die traumatischen Erlebnisse. Karla Raveh, die in Lemgo geboren wurde und Auschwitz überlebte, hat ihr Schweigen gebrochen.

Von Benjamin Hammer | 05.05.2016
    Lager Auschwitz-Birkenau im Nebel: Ehemaliges Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Blick auf einen Wachturm
    Als Jugendliche wurde Karla Raveh ins Konzentrationslager Ausschwitz deportiert. (picture alliance / dpa / Fritz Schuhmann)
    "Ich hab‘ alles im Kopf. Alles ist noch da. Jede Kleinigkeit."
    Karla Raveh will von ihrem Schicksal erzählen. Und von jenem Gedenktag, für den lange Zeit kein Platz war in Israel und in ihrer Familie. Raveh verbringt den Yom Ha’Schoah zu Hause auf dem Sofa, in ihrer Wohnung in der Nähe von Haifa im Norden Israels. Sie schaut sich im Fernsehen Gedenkveranstaltungen an. Vielleicht sieht sie dort andere Überlebende, die sie schon mal getroffen hat.
    Nur ganz wenige sind noch da
    Karla Raveh ist 89 Jahre alt. Sie wurde 1927 als Kind einer jüdischen Familie in Deutschland geboren, in Lemgo, im heutigen Nordrhein-Westfalen. 1942 wurde ihre gesamte Familie deportiert - nach Theresienstadt. Vier Geschwister, die Eltern und die Großmutter. 15 Jahre alt war Karla Raveh damals. Zweieinhalb Jahre später musste sie wieder in einen Güterzug steigen und an einen Ort fahren, von dem sie nur eine Ahnung hatte.
    "Auschwitz. Auschwitz Birkenau. Man wusste ja nicht, was mit uns geschieht. Zum Beispiel haben wir nachts am Anfang nackt stehen müssen und wir gucken und sehen diese zwei Schornsteine, die rauchen. Und es stinkt dort so. Und dann haben wir die Alten, die uns behüten mussten, gefragt: Was sind das für Fabriken? Denn man hatte uns ja gesagt: Die wollen uns zur Arbeit haben. Da sagten die: Was glaubt ihr, was das ist? Das sind eure Leute, die da brennen."
    Karla Raveh
    Karla Raveh hat ihr Schweigen gebrochen (Deutschlandradio / Benjamin Hammer)
    Die Kinder fragten nicht, die Eltern sagten nichts
    Jahrzehntelang hat Karla Raveh nicht über ihre Erlebnisse gesprochen. Schon gar nicht mit ihren eigenen Kindern. 1949 zog Raveh nach Israel. Vier Jahre später führte das Land den Yom Ha’Schoah ein, den offiziellen Gedenktag. Aber war die junge Nation schon bereit für diesen Tag? Familie Raveh war es nicht. Die Eltern erzählten nichts. Die Kinder fragten nicht.
    "Das tat ihnen weh. Dass ihre Eltern so etwas mitgemacht haben. Dass man die Eltern geschlagen hat und dass sie nichts zu essen hatten. Das wollten sie besser nicht hören. Und dann, dass sie keine Großeltern haben und meine Geschwister sind alle umgekommen. Das wollten sie nicht, dass ich ihnen das vorhalte. Und das ist doch klar, dass ich das auch nicht wollte. Also wurde das totgeschwiegen. Sehr lange wurde das totgeschwiegen."
    Muttersprache und Vergangenheit wurden totgeschwiegen
    Totgeschwiegen so wie die Muttersprache von Karla Raveh: Deutsch. Bis 1985 sprach sie kein Wort. Doch dann meldete sich eine alte Lehrerin aus Lemgo. Sie müsse ihre Geschichte aufschreiben, sie müsse das erzählen. Ravehs erste Reaktion: Auf keinen Fall! Dann begann sie doch zu schreiben. "Überleben" nannte sie ihr Buch. In ihrer Geburtsstadt machte es sie bekannt. Karla Raveh besuchte in Lemgo Schulklassen, engagierte sich für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Heute ist sogar eine Schule nach ihr benannt. Den Sommer über lebt Raveh wieder in Deutschland, in der Wohnung, in der ihre Familie bis 1942 gelebt hat.
    Michael Raveh: "Es war wie ein schwarzes Loch."
    Michael Raveh ist Karlas ältester Sohn. Das schwarze Loch: Seine Familiengeschichte. Jahrzehntelang. Doch dann kam das Buch, die Besuche in Deutschland. Karla nahm ihre Kinder mit nach Lemgo. "Mit der Zeit haben wir uns geöffnet", sagt Michael Raveh heute. Ausgerechnet Menschen in Deutschland haben der Familie geholfen, ihre Erlebnisse zu verarbeiten.
    "Der Yom Ha’Shoah ist für uns ein guter Tag, sagt Michael. Wir erinnern uns. Ich werde die Geschichte meiner Familie an meine Enkelkinder weitergeben."
    In der Küche von Karla Raveh hängt ein Foto von ihrem Urenkel. Sein Name ist Uriel. So hieß auch Karlas Bruder. Vergast in Auschwitz als kleines Kind. Es bedeute ihr sehr viel, dass sie ihn so genannt haben, sagt Karla Raveh.
    "Ich hab sehr viel zum Andenken für meine Familie getan. Ich hab’s verbreitet. Ich hab’s geschrieben. Ich bin glücklich."