Dienstag, 16. April 2024

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Holocaust-Gedenktag
"Israel hat ein Recht auf Existenz"

In Israel wird heute und morgen des Holocausts gedacht. Mit Blick auf die aktuelle Situation im Nahen Osten sagte der Publizist Günther Bernd Ginzel, die Palästinenser müssten das Rückkehrrecht nach Israel aufgeben. Im Gegenzug müsse Israel Siedlungen im Westjordanland abbauen.

Günther Bernd Ginzel im Gespräch mit Andreas Main | 11.04.2018
    Menschen stehen in Jerusalem auf der Straße
    Jom haScho'a - der Holocaust-Gedenktag in Israel: Alles steht für zwei Minuten still (EPA/JIM HOLLANDER)
    Israel sei "eine Wirklichkeit gewordene Utopie, der einzige Rechtsstaat weit und breit", sagte Ginzel. Dennoch gehe die jüdische Diaspora in großen Teilen immer mehr auf Distanz zur israelischen Nahostpolitik. Der Staat Israel, bedroht durch seine Nachbarn, müsse sich wieder stärker seiner jüdischen Wurzeln bewusst werden, statt eine "Vergötzung des Landes" zu betreiben. Jüdische Werte seien: Gerechtigkeit, Friede, Barmherzigkeit, Nächstenliebe.
    Günther Bernd Ginzel ist seit Jahrzehnten in liberalen jüdischen Gemeinden engagiert.

    Das Interview in voller Länge:
    Andreas Main: Heute Abend beginnt in Israel Jom haScho'a. Morgen geht es weiter mit Zeremonien und Veranstaltungen an jenem Tag, an dem Israel der sechs Millionen ermordeten Juden gedenkt - aber auch des jüdischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Was die, die diesen Tag in Israel miterlebt haben, als besonders bewegend beschreiben: Im gesamten Land heulen um 10 Uhr für zwei Minuten die Sirenen. Der öffentliche Nahverkehr und die meisten anderen Fahrzeuge halten an, die meisten Passanten bleiben schweigend stehen. Die Konsequenz aus dem Holocaust war: Juden brauchen ein Land, einen Staat, in dem sie notfalls Zuflucht finden. Ein eigener Staat als Rückzugsort, das Land als Rettung, das Land auch theologisch - darüber wollen wir heute zum Auftakt von Jom haScho'a reden - mit Günther Bernd Ginzel, Autor, Publizist, engagiert im Dialog der Religionen seit Jahrzehnten. Schön, dass Sie ins Studio gekommen sind. Willkommen, Herr Ginzel.
    Günther Bernd Ginzel: Dankeschön. Gerne.
    Main: Herr Ginzel, die äußeren Bedrohungen des Staates Israel sind real. Kein anderer Staat der Welt sieht sich offenen Vernichtungsdrohungen ausgesetzt. Wenn Israels Ministerpräsident Netanjahu diesen Staat sichern will und permanent vor einem zweiten Holocaust warnt, wer sollte es ihm und seinen Wählerinnen und Wählern verübeln?
    Ginzel: Das ist richtig. Die Angst davor ist in Israel real, seit dem Jom-Kippur- Krieg, als eben die arabischen Armeen, Ägypten und Syrien durch alle Fronten völlig überraschend durchbrachen und Israel um die Existenz kämpfen musste. Seit der Zeit hat auch eine jüngere Generation in Israel das Selbstbewusstsein verloren, so etwas was konnte nur den Juden in der Diaspora passieren: 'Die haben sich eben wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen. Wir sind anders.'
    Aber die Gefahr ist eben sehr real, und das sollte man nicht unterschätzen. Das ist eine tiefe, emotionale Brücke auch zwischen den verschiedenen Gruppen in Israel, soweit sie zumindest jüdisch sind.
    "Das 'Land Israel' ist innerjüdisch sehr lange umstritten"
    Main: Es braucht einen sicheren Hafen. Kein oder kaum ein Jude kann angesichts tausendjähriger Verfolgung auf die Idee des Landes, des Staates Israel verzichten. Fraglich ist aber wahrscheinlich aus Ihrer Sicht, wie und in welchen Grenzen dieser Staat gestaltet sein soll.
    Ginzel: Das ist richtig. Wobei die Frage, inwieweit man tatsächlich ein eigenes Land braucht, und dieses Land ja doch innerjüdisch sehr lange umstritten war. Das ist ja nicht so, als wenn das von Anfang an die letzten 2000 Jahre der Wunsch gewesen wäre. Das Gegenteil ist ja der Fall. Hier kommen einige Dinge zusammen: Die Bedeutung des Landes in der Synagoge sozusagen, in der Religion als solches; das Symbol, wofür das Land steht, inklusive der messianischen Hoffnung auf Erlösung; und das Reale, der Staat Israel, der moderne Staat Israel, für den manchmal dies alles eine große Last ist, weil das natürlich mit Forderungen und Aufgaben und Aufträgen verbunden ist. Man möchte ein Volk sein, wie jedes andere auch.
    Der Publizist Günther Bernd Ginzel
    Der Publizist Günther Bernd Ginzel (picture alliance / dpa - Henning Kaiser)
    Aber Martin Buber hat schon vor langer Zeit gesagt: 'Dafür braucht man den jüdischen Staat nicht, wenn der nur so wird, wie jeder andere Staat auch, dann ist er überflüssig.' Er muss das Jüdische bewahren, und das ist der Kernpunkt, um den es letztendlich geht. Das Existenzrecht Israels basiert vom Geistigen her auf der Bibel, auf der Tora, auf dieser einzigartigen Verbindung. Und nur die gibt ihnen das Recht, dort zu sein, weil es auch die Kontinuität der Jahrtausende darstellt.
    "Israel ist der Kontrapunkt zu Auschwitz"
    Main: Ich provoziere ganz bewusst: Sie stellen den Staat Israel infrage und sind ganz nah bei jenen Juden, die den Staat Israel ebenso ablehnen, von sehr weit links oder von einer extrem religiösen Ecke aus.
    Ginzel: Nein, also ich persönlich werde das Gegenteil tun. Ich komme gar nicht auf die Idee, auch nur im Traum diesen Staat in Frage zu stellen. Ganz im Gegenteil: Wissen Sie, ein Kind wie ich, das in Köln aufgewachsen ist als erste Generation nach Auschwitz weiß, was es heißt, Antisemitismus zu erleben, weiß, was es heißt, alleine und Minderheit zu sein, schutzlos zu sein, das Gefühl zu haben … Verstehen Sie, ich will gar nicht jetzt übertreiben, ich will hier auch nicht auf die Tränendrüse drücken. Ich lebe ja hier und ich lebe hier freiwillig und ich lebe gerne hier. Aber: Israel war sozusagen der Kontrapunkt. Es war die Antwort für viele, nicht nur in der Diaspora, auch in Israel selbst, in Auschwitz.
    Die Idee eines Staates ist ja eine ganz neue. Das heißt, selbst der Zionismus hatte ja - von Theodor Herzl angefangen - am Anfang überhaupt nicht eine Staatsidee im Kopf gehabt, sondern einen Zufluchtsort Zion hat man sich gedacht. Außerdem ist da wahnsinnig viel Land, und alles drum und dran gehört der Türkei, ist das Osmanische, große Reich. Die gesamte arabische Welt bis einschließlich Ägypten, alles war türkisch.
    Also mein Gott nochmal, so ein Fitzelchen kultureller Autonomie, davon hat man geträumt. Und dass man feststellte, man braucht ein Land, nämlich dieses Land, weil man auf keinem anderen Boden einen Anspruch hat - der Gedanke wuchs dann mit dem Dritten Reich, und der wuchs 1942, als eben die Meldungen der Vernichtung der Schoah durchsickerten, als es Menschen in Deutschland gab, die bewusst auch jüdische Institutionen informiert haben, wie das mit dem Massenmord funktioniert und was hier tatsächlich geplant ist, und die Welt nichts unternommen hat. Da war der Punkt, wo man gesagt hat, über alle Grenzen hinweg: Das muss hier das jüdische Land sein! Da brauchen wir einen Staat, wo wir nicht ein Einwanderungszertifikat brauchen von irgendeinem Fremdstaat!
    "Israel muss die jüdischen Ideale auch tatsächlich leben"
    Main: Die Staatlichkeit Israels, die hat - Sie haben es eben angedeutet - auch religiöse Dimensionen. Das wird ja zum Beispiel daran deutlich, dass vor allem Nationalreligiöse in Israel immer von Judäa und Samaria sprechen, wenn es um die besetzten Gebiete oder das Westjordanland - wie immer man es nennen will - geht. Haben Sie Verständnis für die Position, die von Judäa und Samaria spricht?
    Ginzel: Na klar. Das ist ja auch vollkommen richtig. Die Frage ist nur, was folgert daraus? Das heißt, in Israel gibt es einen Riesen-Kulturkampf. Es gibt mittlerweile einen sich anbahnenden Bruch zwischen großen Teilen in der jüdischen Diaspora und der nationalreligiös ausgerichteten Politik von Herr Netanjahu, wo im Prinzip keine Brücke mehr vorhanden ist. Man muss also wissen, was bedeutet das Land?
    Diese Form der Vergötzung, die wir hier zum Teil haben ist am Rande der Blasphemie. Das heißt: Wir brauchen selbstverständlich diesen Staat. Dieser Staat hat ein Recht auf Existenz. Dieser Staat hat ein Recht auf sichere Grenzen, wegen mir auch auf einige Siedlungen. Aber dieser Staat hat nicht das Recht - und das ist gut biblisch - ein anderes Volk zu verdrängen.
    Das heißt: Wir müssen, wenn wir über Land sprechen und begreifen wollen, dann müssen wir uns ganz von Anfang an die Schöpfung erinnern. Am Anfang schafft Gott die Welt, den Menschen - weder Israel, noch Juden, noch sonst was, sondern: Menschen, die Welt, sein Eigentum.
    In dieser Welt, die ihm gehört, - jetzt mal ein bisschen theologisch-pathetisch ausgedrückt -, kommt es mit Abraham zu einem besonderen Bundesschluss - also ich überspringe jetzt unendlich viel Zeit - und ihm wird ein Land verheißen, in dem er nicht Fremder sein soll. Das heißt, in der großen Welt weist Gott die Aussicht, dass ein kleines Fitzelchen eine besondere Bedeutung bekommt als sein Gottesland, das er seinem Bundesvolk überträgt. Was wiederum nicht bedeutet, dass der Gott der Schöpfung nicht auch der Gott der übrigen Welt und der übrigen Menschen und der übrigen Völker ist.
    Das unterscheidet Israel von anderen Religionen, dass es in den heiligen Schriften, im rabbinischen Judentum immer klar ist: Es gibt den Bund, den Gott am Sinai mit dem Volk Israel geschlossen hat.
    Aber das bedeutet nicht, dass alle die, die außerhalb des Bundes sind, rechtlos sind. Ganz im Gegenteil. Und hier haben wir die Relation: Es reicht nicht zu sagen, wir haben hier ein Stück Land, da leben wir jetzt, dann ist es gut. Sondern die Bedingung ist: 'Ihr seid mir ein Volk von Priestern, Ihr habt die Thora bekommen, es ist das Buch des Bundes, Ihr habt zu diesem Buch des Bundes Ja gesagt!'
    Dieses Buch des Bundes hat elementare Regeln: Gottes Gebote. Im Zentrum stehen nicht nur die Liebe zu dem einzig Einen, sondern vor allen Dingen die Gerechtigkeit, die Barmherzigkeit, die Nächstenliebe. Ein Recht soll sein, du sollst schützen das Recht der Fremdlinge, der Schwachen, der Armen. Mit anderen Worten, Israel muss - im Gegensatz zum Rest der Welt - aus jüdischer Perspektive im Lande Israel, im jüdischen Land, die jüdischen Ideale, die ihm das Recht auf dieses Land verleihen, auch tatsächlich leben.
    "Wichtigstes Gebot: Frieden und Nächstenliebe, nicht Land"
    Main: Nun sind das biblische Texte, auf die Sie rekurrieren. Texte, die für einen Buddhisten in Laos oder für einen Muslim in Toronto nicht relevant sind. Also diese theologische Begründung, die sie ausgefaltet haben, wie bringen Sie das mit dem Staat Israel in Verbindung?
    Ginzel: Der Staat Israel basiert darauf. Er definiert sich als jüdischer Staat, so wie die anderen als muslimischer Staat.
    Main: Und wir werden manchmal nervös, wenn wir religiös geprägte Staaten beobachten.
    Ginzel: Zu Recht. Der Zelotismus, also die fundamentalistische Überhöhung, der Fanatismus von Extremisten, die sich einbilden, mit dem Knüppel oder sonst irgendwie in der Hand etwas durchzusetzen, das ist sozusagen eine der dunklen Kehrseiten, sowohl der christlichen Geschichte in Europa, wie auch der muslimischen Geschichte, als auch der jüdischen. Und der Anknüpfungspunkt jetzt ist eben: Dieser Staat, der da gegründet worden ist, ob die anderen das verstehen, ist nicht relevant - verzeihen Sie, das hört sich fürchterlich arrogant an, aber ich frage ja auch nicht: Findest du gut, dass es Deutschland gibt? - Den Staat gibt es, Punkt.
    Wenn die Araber noch drei Jahrhunderte darüber diskutieren wollen, ob die Existenz Israels anzuerkennen ist, dann werden sie für Palästina überhaupt nichts mehr vorfinden, sondern sie müssen begreifen - und das haben sie ja längst - dieser Staat hat ein Recht auf Existenz.
    Nur, was folgt daraus? In diesem gelobten Land hat es immer Nichtjuden gegeben, seit der biblischen Zeit. Das heißt, der Schutz der Anderen, wenn ich das jetzt einfach mal so sagen darf, also der Nichtjüdischen, der Andersgläubigen, der jener, die einer anderen Kultur angehören, der gehört als elementare Kraft mit zum jüdischen Staat hinzu.
    Und jetzt haben wir natürlich ein Grundproblem: Israel hat ja die Zweistaatenlösung schon mit der UNO-Resolution 1947, 1948 anerkannt, die Araber haben sie verhindert. Sie haben den arabischen Staat besetzt, sie haben die Westbank besetzt, sie haben den Gazastreifen besetzt, sie haben Ostjerusalem völkerrechtswidrig besetzt, sie haben die Juden dort überall rausgeschmissen. Und die Palästinenser wurden zu einem beträchtlichen Teil im eigenen Land zu Flüchtlingen.
    Das änderte sich erst 1967, als Israel im Sechstagekrieg diese Regionen besetzte, eroberte. Und seit der Zeit haben wir jetzt hier einen Streitpunkt. Denn diese Länder - Sie haben ganz am Anfang des Gespräches von Judäa und Samaria gesprochen - das ist im Grunde genommen das Herzland des jüdischen Landes, so. Und jetzt ist natürlich die Frage: Was machen wir denn jetzt?
    Ist es richtig, wenn man sagt, wo immer du dich in den letzten 3000 Jahren in Judäa und Samaria bewegst, läufst du über der jüdischen Geschichte, jeder Stein atmet sie. Aber was bedeutet es, wenn da auch zwei Millionen oder wie viel Palästinenser leben, die eben auch ein Recht auf Selbstbestimmung haben und ein Menschenrecht auf ihren eigenen Staat.
    Und hier beginnt die große Diskussion. Für die säkularen Israelis war es jahrzehntelang klar: Wenn wir in Frieden leben, leben wir in zwei verschiedenen Staaten, hoffentlich, in Freundschaft verbunden. Die religiöse Opposition heute, die in der Zwischenzeit an der Macht ist, die sagt: 'Das können wir gar nicht machen, wir sind Verräter an Gott, wenn wir auf Judäa und Samaria verzichten. Wir haben gar nicht die Chance, auf sie zu verzichten, wir müssen Siedlungen bauen, egal mit welchen Tricks, egal mit welchen Argumenten.'
    Das Gegenteil wird nun jetzt von einem großen Teil der Israelis behauptet, und dabei geht es um die klassische Frage, - die ja auch im Kern des jüdischen Neuen Testamentes, das ja eine innerjüdische Diskussion ist, es ist ja keine christliche Diskussion, es ist eine innerjüdische Diskussion -, was ist das wichtigste Gebot? Und das wichtigste Gebot ist Frieden, ist Nächstenliebe, und nicht Land.
    Und hier prallen die Dinge jetzt aufeinander. Für die einen ist die Erfüllung der Träume der Vorväter und Vormütter seit biblischen Zeiten, in Judäa und Samaria zu leben, also einem jüdischen Staat, in dem eben auch andere Leute noch leben. Und für die anderen ist es ein Verrat, weil wir ihnen auf kurz oder lang nicht die gleichen Rechte geben können, und das ist antibiblisch. Also mit anderen Worten: Der Frieden ist für den anderen Teil Israels wichtiger, als der Landbesitz, wenn es denn tatsächlich Frieden gibt.
    "Den Radikalen verbieten, Menschen zu emotionalisieren"
    Main: Günther Bernd Ginzel im Deutschlandfunk, in der Sendung 'Tag für Tag, aus Religion und Gesellschaft'. Herr Ginzel, die Idee vom 'Land Israel' theologisch betrachtet, das ist unser Thema. Sie haben vorhin von einer Vergötzung des Landes gesprochen. Wo beginnt für Sie Vergötzung?
    Ginzel: Das kann ich Ihnen sagen, indem ich nicht nur darauf rekurriere und sage, wenn ich durch Judäa und Samaria, die West-Bank wegen mir auch... Verstehen Sie, ich war doch dabei, als nach Oslo die große Friedensgeschichte ausgebrochen ist. Ich bin von Jerusalem aus nach Nablus gefahren, da war kein Zaun, kein Militär, kein Checkpoint, es war wunderbar, es war auf beiden Seiten Friedenseuphorie. Der Frieden ist möglich, zwei Völker können zusammen leben, wenn wir es diesen verdammten Radikalen auf beiden Seiten verbieten, die Menschen zu emotionalisieren mit Terror und Gegenterror, mit Bedrohungen und mit Ansprüchen.
    Wenn Sie in der Westbank sind, wenn Sie im Gazastreifen sind, wo ich ja eben oftmals bin, dann sprechen die Leute auch nicht von Ostjerusalem als Hauptstadt, sondern sie sprechen von Jerusalem als Hauptstadt.
    Wenn Sie mit dem Obersten Islamischen Rat sprechen, dann wird der Ihnen sagen: 'Jerusalem hat mit Judentum überhaupt nichts zu tun. Der Tempelberg ist gar nicht der Tempelberg. Das ist alles muslimisch!'
    Dann haben Sie natürlich die jüdische Gegenreaktion, die dann sagen: 'Ihr könnt uns mal, wenn das der Fall ist, macht, was ihr wollt, aber dann werdet ihr an uns euch eine blutige Nase holen, so nicht!'
    Wir müssen es diesen Fundis verbieten, so zu tun, als wären sie die Hüter der einzig vorhandenen Wahrheit. Und weil Sie vom Jom haScho'a gesprochen haben, vom Holocaust: In keinem einzigen palästinensischen Schulbuch findet der Holocaust statt. Das ist nicht die Basis für Frieden. Und da sagen die Siedler: 'Wer so handelt, der ist für uns eine Gefahr. Der steht sozusagen in der Tradition der Nazis.' Das mag vollkommen idiotisch sein, aber es ist etwas, was in diesen Kreisen verfängt.
    "Israel ist eine Wirklichkeit gewordene Utopie: ein Rechtsstaat"
    Main: Wir haben einmal die Realität des Staates Israel und wir haben die - sagen wir mal - Utopie vom Land Israel. Wie weit sind die Utopie und die Realität auseinander?
    Ginzel: Teils, teils. Das heißt, zum einen ist Israel auch eine Wirklichkeit gewordene Utopie. Es ist der einzige Rechtstaat weit und breit, man könnte es fast bis nach Europa ausdehnen. Diese Utopie ist etwas, was im Moment in Israel wieder auflebt und interessanterweise breite Resonanz im amerikanischen Judentum findet, sodass wir heute eine heftige Diskussion haben zwischen der jüdischen Diaspora, vor allen Dingen in Amerika, und zwar nicht nur der liberalen, bis tief in die moderne Orthodoxie hinein, bis tief in den Jüdischen Weltkongress hinein, der sich deutlich distanziert hat von der gesamten israelischen Nahostpolitik, sie als unjüdisch bezeichnet hat, sie als Gefahr für diesen Staat bezeichnet hat, was natürlich für die Regierungen in diesem Land ein Riesen-Ärgernis darstellt.
    Aber das ist natürlich auch, wenn Sie so wollen, ein Stück gelebte Utopie. Es ist ein Zeichen von Liebe, dass man dermaßen streitet, und zwar um die Existenz, um die Würde, um die Größe von Israel und seiner Nachbarn.
    Main: Es ist ein Streit um jüdische Identitäten auch. Besteht da nicht die Gefahr, dass beträchtliche Teile der Diaspora, die sehr irritiert sind angesichts israelischer Regierungspolitik, dass diese Diaspora jene, die an vorderster Front, die nationale Heimstatt der Juden verteidigen, dass die die im Regen stehen lassen.
    Ginzel: Nein. Es geht ja jetzt hier nicht um die Bedrohung, es geht um die Bedrohung im Innern, verstehen Sie. Es ist jetzt eben der Punkt gekommen, wo man den Versuch einer theokratischen Prägung dieses Landes verhindern möchte, wo man deutlich machen will, es gibt unterschiedliche Interpretationen des Judentums, die im Kern übereinstimmen. Aber es ist nicht am Staat, einer Gruppierung, und schon gar nicht einer Minderheit, zu sagen, deines ist das einzig Wahre.
    Und es ist nicht legitim, zu sagen, weil wir ein jüdischer Staat sind, darf es keinen palästinensischen Staat geben. Solange Israel Angst haben muss um die Existenz, wird man sicherlich nicht - auch nicht auf Seiten der Diaspora - auf die Idee kommen, Israel sollte sofort sich aus allem zurückziehen und die Palästinenser sollen ihren Staat gründen. Dann müssen wir eben fragen, was ändern eigentlich die Palästinenser?
    Solange sie darauf bestehen, dass die Kinder und Kindeskinder der Kindeskinder, die in der Welt verstreut leben, alle ein Recht haben, in den jüdischen Staat Israel zurückzukehren, solange wird Israel eine Siedlung nach der anderen bauen, um genau das zu verhindern, um deutlich zu machen, wir werden uns auch nicht von Menschen einfach überfluten lassen.
    Wir wollen einen Frieden. Das bedeutet: Kompromiss, Abbau eines Teils der Siedlungen, Verzicht auf das Rückkehrrecht bei den Palästinensern, und gleichzeitig deutlich machen, - sie haben die Jom haScho'a angesprochen -, was für eine Geschichte am Anfang dieses jüdischen Staates steht, und gleichzeitig eine Anerkennung, dass es viele Palästinenser gibt, denen Unrecht geschehen ist, und dass das entscheidende ist, dass wir nicht noch 500 Jahre weiter das tun, was wir die letzten 100 Jahre vergeblich getan haben: Nicht immer einfach nur quatschen, sondern, dass man endlich sagt: Wir machen ganz schwierige Kompromisse für uns und gewinnen gemeinsam den Frieden und zwei Staaten, die hoffentlich geschwisterlich verbunden sind.
    "Erlösung der Welt" - Aufgabe für Juden, Christen und Muslime
    Main: Abschließend. Wenn Sie den biblischen Begriff vom Land Israel wiederbeleben müssten, wo würden Sie ansetzen, was wäre aus Ihrer Sicht der theologische Grundgedanke, der heute wichtig ist?
    Ginzel: Es ist der, der es schon immer war. Es ist das Land, in dem man versuchen soll, nach den Geboten Gottes zu leben, die gleichzeitig nicht im Widerspruch zu den Allgemeinen Menschenrechten stehen, das ist ja das wunderbare. Das heißt, Sie sind ein frommer, orthodoxer Jude oder ein liberal überzeugter Jude oder ein säkularer Jude. Dann bedeutet das nicht, dass Sie sagen, ja, aber ich lehne das alles ab, dieser Rechtstaat ist furchtbar. Nein, dieser Rechtstaat schützt es. Das sind die alten Ideale, Schutz der Armen und Schwachen, dafür Sorge zu tragen, dass jeder nach seiner Fasson glücklich werden kann, und vor allen Dingen die Erinnerung daran, dass der Gott Israels auch der Gott ist, der mit Hagar und Ismael einen Bund geschlossen hat. Es ist nicht so, als wenn die anderen Gottlos wären.
    Nach der jüdischen Überzeugung haben auch die Völker der Welt Anteil an der Zukunft. Und dieser kleine jüdische Staat kann seinen eigenen Anteil hoffentlich in der Gemeinsamkeit mit anderen leisten, an dieser Erlösung der Welt, von der Pest der Armut, von der Pest der Korruption, von der Pest der Kriege, der Machtpolitik ein wenig wegzukommen, das ist die große gemeinsame Aufgabe.
    Und wenn Sie so wollen: Es ist das biblische Erbe, das im Grunde genommen in allen Kirchen, in allen Christentümern und in allen Formen des Islams ebenfalls zuhause ist. Wir müssen nur eben den Radikalen klarmachen, dass wir ihnen nicht erlauben, dass mit ihrem Fundamentalismus zu verdunkeln.
    Main: Der Publizist Günter Bernd Ginzel über das Land Israel als theologische Idee, als Utopie und über die Realität, den Staat Israel. Danke Ihnen, Herr Ginzel.
    Ginzel: Danke auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.