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Hommage an Patrice Chéreau
Legendäre "Elektra"-Inszenierung jetzt in Berlin

Patrice Chéreau starb 2013, wenige Monate nach der Premiere seiner "Elektra"-Inszenierung. Intendant Jürgen Flimm kündigte die Aufführung an der Berliner Staatsoper als Hommage an den "größten Regisseur unseres Jahrhunderts" an. Nach Stationen weltweit feierte jetzt das Berliner Publikum den Abend mit Ovationen.

Von Julia Spinola | 25.10.2016
    Der französische Regisseur Patrice Chéreau inszeniert an der Staatsoper im Schiller Theater Berlin die Oper "Aus einem Totenhaus" von Leoš Janá_ek, die am 03.10.2011 Premiere hat.
    Der Film-, Opern- und Theaterregisseur Patrice Chéreau ist für den Intendant der Berliner Staatsoper der "größte Regisseur unseres Jahrhunderts". (dpa-/Claudia Esch-Kenkel)
    So schwarz, so ausweglos, so überwältigend wie an diesem Abend hat man die "Elektra" noch nicht erlebt. Chéreaus Fassung führt das knapp zwei Stunden dauernde Drama als einen auf Dauer gestellten Entsetzensschrei vor, als Blick in eine moderne Hölle, ein Guernica der Opernbühne. Selten erlebt man Aufführungen, in denen Szene, Schauspiel, Gesang und orchestrale Darstellung so kongenial ineinandergreifen, wie es hier gelingt.
    Hochkarätig besetzt
    Sängerisch ist diese Premiere bis in die winzigste Nebenrolle hinein hochkarätig besetzt. Waltraud Meier gibt eine damenhafte, sopranistisch-souveräne Klytämnestra, Adrianne Pieczonka singt mit irisierendem Soprantimbre eine leidenschaftlich-dramatische Chrysothemis, der Bariton Michael Volle ist ein klangschön-sonorer Orest. Über sie alle aber triumphiert Evelyn Herlitzius, die in dieser mörderisch-kraftzehrenden Titelpartie stimmlich über sich hinauswächst. Ein Bühnentier und eine von unbedingtem Ausdruckswillen angetriebene Künstlerin ist die Herlitzius stets gewesen – mit allen Risiken, die ein solch kompromissloses Bühnenleben auf der Rasierklinge für die Stimme birgt.
    Nun aber gestaltet sie die unablässige Grenzüberschreitung der Elektra-Partie als einen höchst kultivierten Exzess. Sie gewinnt ihrem Sopran nicht nur entsprechend schneidende Klänge ab, die wie Beilschläge in die Orchestermassen hineinfahren, sondern entlockt ihm auch eine Fülle an Farbschattierungen von der insistierenden Klage über ein anrührendes Flehen hin zu den vollends verloren wirkenden Abgründen einer namenlosen Trauer.
    Radikalität des Ausdrucks erschreckt selbst den Komponisten
    Die riesenhaft besetzte Staatskapelle reißt unter Daniel Barenboims Leitung ihren Schlund zu einer Nervenmusik auf, die einem Kaleidoskop des Schreckens gleicht. So drastisch und explosiv zersplittert treibt Barenboim sie in ihre Extreme, dass unmittelbar ohrenfällig wird, wieso Richard Strauss sich nach der "Elektra" in die nostalgiesüchtige Terzenseeligkeit des "Rosenkavaliers" zurückziehen musste:
    Die bildmächtige Sprache der Textvorlage von Hugo von Hoffmannsthal hatte Strauss in dieser Oper zu einer Radikalität des Ausdrucks getrieben, vor der er selber zurückschreckte. Hugo von Hoffmannsthal und Richard Strauss gaben mit der "Elektra" ihren künstlerischen Kommentar zur zeitgleich entstandenen Psychoanalyse von Sigmund Freud ab. Und Patrice Chéreau reagiert darauf mit einer subtil psychologisierenden Personenführung, die ohne alle Modernisierungsmätzchen auskommt. Klar, direkt und mit antikischer Wucht entwickelt sich die Tragödie im Halbdunkel des steinernen Bühnenbildes von Richard Peduzzi. Der bedrückend klaustrophobische Raum erscheint zunehmend auch als ein seelischer Innenraum.
    Mutter Klytämnestra im Kontrast zu Tochter Elektra
    In diesem Gefängnis der menschlichen Psyche agieren die Mutter Klytämnestra und ihre Tochter Elektra wie gegensätzliche Prinzipien: der eleganten, innerlich bis zum Zynismus verhärteten, nie aus der Fassung geratenden Mörderin steht die Tochter als eine in kompletter psychotischer Auflösung befindliche Traumatisierte gegenüber. Inmitten dieses Klangkaleidoskops des Wahnsinns gleicht der Auftritt des Orests einer trostspendenden Vision, die musikalisch wie aus tiefster Erinnerung heraufdämmert.
    Ausweglos gestaltet Chéreau das Ende, nachdem er den Mord an Klytämnestra und Ägisth – anders als im Libretto vorgesehen – auf offener Bühne stattfinden lässt. Orest verlässt den Ort des Schreckens, so unauffällig, wie er gekommen war, Elektra versteinert nach ein paar taumelnden Tanzschritten. Die Tragödie kennt nur Verlierer.