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Homophobie in Russland
Heinrich-Böll-Stiftung wird in Moskau drangsaliert

Meinungsfreiheit existiert in manchen Bereichen in Russland nicht mehr. Selbst unabhängige internationale Organisationen wie die Heinrich-Böll-Stiftung sind massiven Repressalien marodierender Gruppen ausgesetzt. Zuletzt bei einer Filmvorführung über Homosexualität in Moskau.

Von Thomas Franke | 24.04.2014
    Plötzlich stehen sieben junge Leute im Saal. Sie sind zwischen 20 und 30 Jahre alt, beginnen das Publikum zu filmen und die Aufführung des Films zu stören. Sodom und Gomorrah, rufen sie.
    Sie sind erfolgreich. Das Licht geht an, der Film wird unterbrochen.
    Die Vorführung ist privat und nicht kommerziell. Die etwa 150 Zuschauer haben keinen Eintritt bezahlt. Der Saal gehört zu einem Restaurant im Zentrum Moskaus. Der Türsteher des Restaurants versucht vergeblich, die Provokateure raus zu werfen. Das sei eindeutig Gaypropaganda, rufen die Störer immer wieder, im Saal seien Minderjährige. Die Vorführung sei ein Verstoß gegen das Gesetz, das positive Äußerungen über Homosexualität in der Gegenwart Minderjähriger verbietet. Dann kommen Polizisten, doch der Tumult geht weiter. Die Störer gehören einer Organisation an, die sich "Nationale Befreiungsbewegung" nennt.
    Organisiert war die Veranstaltung von der Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit dem Internetportal Colta.ru.
    Dessen stellvertretender Chefredakteur, Mikhail Ratgauz, erlebt so etwas zum ersten Mal.
    "Es geht ja um die Machtverhältnisse. Und es geht ja um die Gewalt eigentlich. Die Gewalt ist omnipotent, wenn sie überall ist. Bis zu dem Absurden. Die Gewalt soll keine Grenzen haben. Sie geht über den Verstand. Darum geht es ja."
    Die Botschaft der Störer ist klar. Wir sind da und stören euch. Egal, wo ihr euch trefft.
    Die Homosexuellen im Publikum kennen das, die Protagonisten des Films auch.
    Dort geht es um das Projekt "Deti 404 - moj est", "Kinder 404 - es gibt uns". 404 wegen des Errors im Internet.
    Homosexuelle sind in Russland täglich mit Gewalt konfrontiert
    Auf der Internetseite Deti 404 geben Homosexuelle aus ganz Russland ein Zeichen, dass sie kein Fehler sind. Viele zeigen ihr Gesicht.
    Im Dokumentarfilm über Deti 404 geht es um die alltägliche Gewalt, der sie ausgesetzt sind. Es geht um Kränkungen und Angst, um Liebe. Die eigentliche Premiere des Films soll in wenigen Tagen beim Dokumentarfilmfestival Hotdoc in Toronto stattfinden. Mittlerweile wollen die Organisatoren der Internetseite Deti 404 das Land verlassen, wie sehr viele Homosexuelle in Russland. Mikhail Ratgauz:
    "Es gibt ja sehr viele diese wunderbaren Gesetze, die von der Duma heraus gebracht wurden. Wir haben heute gerade ein neues Gesetz bekommen, dass die obszöne Lexik im Film und auf der Bühne verboten ist. Was natürlich eigentlich komisch klingen mag. Aber eigentlich in der Praxis gar nicht komisch ist. Weil das moderne Theater oder auch der moderne Film ständig mit dieser lebendigen Lexik aus dem alltäglichen Leben arbeitet. Wir sind ständig damit konfrontiert, dass eben diese neuen Tabus produziert werden."
    Ähnlich, wie bei dem Gesetz, das die Propaganda von Homosexualität verbietet, sind all diese Gesetze unscharf gehalten. Ein Hebel, um eingreifen zu können. Ratgauz:
    "Das ist absurd. Das ist auch der Sieg des Absurden hier im Lande."
    Anzeige gegen die Störer zu erstatten, könnte nach hinten losgehen. Beispiele dafür gibt es genug. Das Prominenteste ist die Ausstellung "Vorsicht Religion". Da tauchten Leute auf und zerstörten Kunstwerke. Die Veranstalter erstatteten Anzeige, die Radikalen Gegenanzeige wegen Beleidigung ihrer religiösen Gefühle - und sie gewannen den Rechtsstreit. Ihr Handeln sei nachvollziehbar, so die Richter.
    Gestern Abend war auch ein Kamerateam im Raum; trotz mehrfacher Nachfrage sagten die Kameraleute nicht, für wen sie drehten. Föderales Fernsehen, sagten sie. Die Böll Stiftung vermutet, dass ein Enthüllungsfilm geplant ist über ausländische Stiftungen, die Russland schaden wollen.
    Der Sender NTW hat in letzter Zeit häufig derartige "Enthüllungen" gezeigt.
    Als der Film später weiterläuft, verlassen auch die Störer erstaunlich ruhig den Saal. Vor der Tür warten noch ein paar alte Frauen mit Schürzen, auf denen Vladimir Putin abgebildet ist mitsamt der Botschaft, dass Russland nun frei sei. Sie wirkten recht müde, aber überzeugt. Von den Provokateuren im Saal hat Michail Ratgauz einen anderen Eindruck:
    "Ich hatte das Gefühl, das ist ihre Arbeit und sie kriegen dafür bestimmt Geld. Also, da bin ich mir absolut sicher. Das sind die Leute, die engagiert wurden, von wem können wir erraten. Es gibt sehr viele Strukturen, die eigentlich auch sehr viele Gruppen auch finanzieren, die quasi jetzt von unten handeln. Die jetzt nicht als staatliche Organisationen, als staatliche Vertreter auftreten, sondern den Volkszorn initiieren. Die machen ihre Arbeit. Jeder hat seine."