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Homosexualität in Deutschland
"Ängste überwindet man nicht durch Beschimpfungen"

Toleranz müsse immer noch gelernt werden, "ohne sich wechselseitig ständig Diskriminierung und Vorurteile aller Art vorzuwerfen", sagte der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) im DLF. Gleichzeitig könne es nicht sein, dass die Verteidigung der stinknormalen Hetero-Familie als Homophobie eingestuft werde.

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Peter Kapern | 10.02.2014
    Zwei Befürworter der Aufwertung des Themas Homosexualität im Schulunterricht in Baden-Württemberg gehen am 01.02.2014 bei einer Demonstration in Stuttgart (Baden-Württemberg) über den Schlossplatz, in der Hand eine Regenbogenfahne.
    Die Regenbogenfahne als Symbol für Toleranz gegenüber Homosexuellen (picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert)
    Peter Kapern: In den letzten Tagen ist in unseren Sendungen hier im Deutschlandfunk immer wieder ein Thema aufgetaucht, das es ganz offensichtlich in sich hat, und zwar die Frage, wie unsere Gesellschaft mit Homosexuellen umgeht – eigentlich ein Thema, das kaum noch Brisanz zu haben schien. Homosexualität galt doch als weithin akzeptiert, der Bundestag hat manchmal mit der nötigen Nachhilfe des Bundesverfassungsgerichts der Gleichstellung Homosexueller in unserer Gesellschaft mehr und mehr den Weg geebnet. Also alles bestens, könnte man meinen. Dann plötzlich gab es den massenhaften Protest gegen das Vorhaben der Landesregierung in Baden-Württemberg, die sexuelle Vielfalt auf den Lehrplan der dortigen Schulen zu setzen mit dem Ziel, Toleranz zu lehren. Ein Verein in Sachsen-Anhalt macht Schlagzeilen, der Homosexualität als Krankheit betrachtet, die therapiert werden könne und müsse - ein Verein, in dem sich namhafte CDU-Politiker engagiert haben.
    All das haben wir hier thematisiert, unter anderem in Interviews mit dem renommierten Historiker und Diskriminierungsforscher Wolfgang Benz oder mit dem CDU-Bundestagsabgeordneten Stefan Kaufmann. Diese Interviews haben dann uns eine Menge von E-Mails und Briefen unserer Hörer eingebracht.
    - Am Telefon ist Wolfgang Thierse, der frühere Bundestagspräsident. Guten Morgen!
    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Herr Kapern.
    Kapern: Herr Thierse, solche Stimmen, wie wir sie da gerade gehört haben, sie mögen nicht repräsentativ sein. Aber gleichwohl: Was kommt darin eigentlich zum Ausdruck?
    Thierse: Sie zeigen zunächst einmal, dass wir in dieser Gesellschaft noch der Diskussion bedürfen und diese Diskussion auch erlaubt sein muss, ohne sich wechselseitig ständig Diskriminierung, Vorurteile, Phobien aller Art vorzuwerfen. Das Thema Homosexualität ist ja nur ein besonders gegenwärtig leidenschaftlich diskutiertes. Und da es sozusagen jeden Tag in den Nachrichten erscheint seit einigen Monaten, beschäftigt es die Leute auch. Aber es gibt natürlich auch noch Antisemitismus-Vorwurf, Anti-Islamismus-Vorwurf, Christen-Feindlichkeit. Also wir sehen: Wir sind immer noch mitten drin in einem Prozess, wo Diskussion notwendig ist, angemessen ist und wo Toleranz auch gelernt werden muss.
    Kapern: Von beiden Seiten diese Toleranz?
    Thierse: Ja, denn Toleranz meint ja nicht bloße Duldung, meint ja auch nicht Beliebigkeit, Laissez faire, Gleichgültigkeit in dem Sinne, dass alles gleich gültig ist, sondern Toleranz ist eine sehr, sehr anstrengende, sehr herbe Tugend. Es meint nämlich die Verbindung davon, dass man für die eigenen Überzeugungen eintritt, sie auch vertritt und das verbindet mit dem Respekt vor anderen Überzeugungen, anderen Einstellungen, anderen Positionen. Und das ist, wie wir immer wieder sehen, wahnsinnig schwierig.
    Kapern: Aber gleichwohl stellt sich ja die Frage, wie weit man einer Intoleranz gegenüber tolerant sein muss. Wir haben eben ja beispielsweise einen sehr häufig in dieser Post zitierten Satz noch mal gehört, der lautet: Ich habe ja nichts gegen Schwule, aber ... Und dann kommt dieses "aber". An welchem Punkt nach diesem "aber" verläuft die Grenzlinie zwischen Ressentiment und einem ganz normalen Diskussionsbeitrag?
    Thierse: Ja, das ist immer eine Gratwanderung. Ich könnte es ja auch anders beschreiben, damit es etwas nüchterner ist. Die vertraute Ehe, die vertraute Form der Partnerschaft für gut, für gar besser zu halten und sie zu verteidigen, ist das schon Intoleranz, ist das schon Homophobie, ist das schon Pflege von Vorurteilen. Oder sollte das in unserer Gesellschaft nicht eine legitime respektable Position sein, zumal sie sich auch in unserer Verfassung, im Grundgesetz findet? Man muss genau dieses beides sehen. Der Anlass der Aufregung, diese baden-württembergische Arbeitsrichtlinie – ich habe sie mir angesehen, sehr genau durchgelesen und finde, dass sie Ängste hervorruft. Das kann ich nach dieser Lektüre verstehen, auch wenn ich sie nicht nachvollziehe, auch wenn es nicht meine Ängste sind. Denn in diesem baden-württembergischen Bildungsplan-Entwurf, in den Leitprinzipien ist sehr viel die Rede von Akzeptanz von und Information über lesbische, schwule, transgender, intersexuelle Menschen und Beziehungen, aber nichts, fast nichts von der stink normalen gewöhnlichen Ehe und ihrem Wert für Mensch und Gesellschaft. Und dieser Umstand erzeugt offensichtlich, wenn ich das richtig verstanden habe, erhebliche Ängste und über die muss man miteinander reden, die kann man nicht wegbeschimpfen und nicht wegkommandieren.
    Kapern: Das Bemühen um Gleichstellung Homosexueller ist dann also ein Mainstream, der das andere heute nicht mehr zur Geltung kommen lässt?
    Thierse: Nein! Ob Mainstream oder nicht, es erscheint dann in den Medien plötzlich als etwas, was dominant wird. Und ich nehme das ja nur als Beispiel, diese Arbeitsrichtlinien. Dort ist sehr viel ausdrücklich von den, wie heißt es da, LSBTTI-Menschen die Rede, aber so gut wie überhaupt nicht in diesen Leitprinzipien von Ehe und Familie, was immerhin noch eine Menge Menschen für wichtig, für richtig, für normal, wie auch immer Sie es bezeichnen, halten. Dieses Ungleichgewicht, glaube ich, das erregt Ängste und Ängste machen ungerecht, Ängste machen intolerant. Und ich sage noch einmal: Ängste überwindet man nicht dadurch, dass man sie beschimpft und dass man meint, weg damit. Dann sind sie immer noch da und suchen sich eher verquere Ausdrucksformen.
    Kapern: Das Ungleichgewicht, Herr Thierse, über das Sie gerade gesprochen haben, das mag auch einen Grund haben, nämlich dass diejenigen, die eine ganz herkömmliche Ehe führen, im Alltag nicht diskriminiert werden. In der "Süddeutschen Zeitung" war am Wochenende eine große Geschichte zu lesen darüber, dass beispielsweise das Wort "schwul" grassierend als Schimpfwort gilt auf deutschen Schulhöfen. Ist es dann nicht umso nötiger, in Schulen aufzuklären?
    Thierse: Das ist ausdrücklich richtig. Dem stimme ich ausdrücklich zu, aber verbinde das mit der Position, dass man das so tun muss – und ich kenne ja viele Leute dieser Art, dieser Einstellung und Grundüberzeugung – zusammen mit Lesben und Schwulen, dass wir gemeinsam an der Moralität und Wirklichkeit dieser Gesellschaft arbeiten, von der Toleranz ein wichtiger Teil ist. Aber es wird schwierig und verschärft offensichtlich das Klima, wenn die bloße Verteidigung der, wie soll man es nennen, hier steht immer klassische Familie, also der Hetero-Familie als Diskriminierung von Homosexualität klassifiziert wird. Das lese ich, das höre ich und das verschärft die Auseinandersetzung. Also ich wünsche mir einfach, dass Ehe die gleiche Chance in den verschiedenen Fächern bekommt in so einer Bildungseinrichtung wie die LSBTTI-Menschen. Dann, glaube ich, wäre eine ruhigere Debatte möglich, die ich für notwendig halte: Abbau von Ängsten, Abbau von Unsicherheiten und damit auch das, was Toleranz eigentlich wirklich ist, die Verbindung von eigener Überzeugung und Respekt vor den Überzeugungen und Einstellungen anderer.
    Kapern: Sie haben es eben gesagt, Herr Thierse: Rund 200.000 Menschen haben diese Online-Petition in Baden-Württemberg unterschrieben. Warum bricht sich dieser Unmut ausgerechnet jetzt Bahn?
    Thierse: Der Anlass ist wohl diese Arbeitsrichtlinie, die eben eine Arbeits- ...
    Kapern: Wirklich, dass diese 200.000 Menschen aus ganz Deutschland sich dieses Papier so durchgelesen haben?
    Über Wolfgang Thierse
    Geboren 1943 in Breslau, Polen. Der SPD-Politiker hat eine Lehre als Schriftsetzer in Weimar absolviert. 1969 schloss er ein Studium der Germanistik und Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität ab. Nach der Wende trat Thierse 1989 dem Neuen Forum bei. 1990 wurde er dann Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP), deren Vorsitzender er später wurde. Bei der Vereinigung mit der West-SPD wurde er stellvertretender Parteivorsitzender. Von 1990 bis 2013 war er Abgeordneter im Deutschen Bundestag, von 1998 bis 2005 dessen Präsident und danach stellvertretender Präsident.
    Thierse: Nein, nein! Das gehört ja wieder dazu, die Einstellung ist schon zu verlangen, genau hinzugucken, genau zu lesen, was vielleicht nicht alle machen. Aber da machen sich die Ängste fest, die sonst vielleicht in der Gegend herumwabern. Und ich sage es noch einmal: Ängste überwindet man nicht durch Beschimpfungen. Das ist auch eine Form von Intoleranz. Neulich habe ich in der Berliner Zeitung einen Artikel gelesen, da bekam Norbert Blüm sein Fett weg. Der hatte in der "FAZ" eine Verteidigung der "stink normalen Hetero-Familie" vorgelegt, und genau dafür wird er als homophob diskriminiert. Und da sage ich: Das ist ein Stil der Auseinandersetzung, der uns überhaupt nicht weiterhilft, der die Emotionen verschärft und die Konfrontation forciert. Also so viel Information wie möglich und vor allem, es muss immer auch klar sein, dass die schweigende Mehrheit, die "sogenannten normalen Menschen" – Sie merken: Die Kategorien sind so schwierig -, dass die nicht das Gefühl haben können, sie werden an den Rand gedrängt, die öffentliche Debatte, die Kultur in diesem Lande wird durch andere bestimmt. Wenn dieses Gefühl weg ist, glaube ich, dann ist die Lernbereitschaft auch größer von vielen Menschen.
    Kapern: Was kann die Politik tun, um die Diskussion so zu prägen, wie Sie das fordern?
    Thierse: Genau Fairness, nicht den Eindruck erwecken, dass hier Einseitigkeiten vorgenommen werden. Und ich halte diesen Arbeitsplan-Entwurf in dieser Hinsicht für einseitig, weil wie gesagt, als würden Ehe und Familie in unserer Gesellschaft nur von gleicher Selbstverständlichkeit sein, nicht auch in der Krise sein. Also muss auch dieser Wert bedacht, gelernt werden, Gegenstand von Bildungs- und Erziehungsprozessen sein. Und nicht nur, was ich für richtig und notwendig halte, Toleranz gegen unterschiedliche Lebenseinstellungen, unterschiedliche Lebenspraktiken. Beides sollte in unserer Bildung und in unserer öffentlichen Wahrnehmung eine gleiche Chance haben.
    Kapern: Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse heute früh im Deutschlandfunk. Herr Thierse, ich bedanke mich vielmals für das Gespräch und ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.
    Thierse: Ebenfalls! Auf Wiederhören!
    Kapern: Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.