Donnerstag, 28. März 2024

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Homosexualität und Transgender im Bilderbuch
Ermutigung zum Anderssein

Das Bilderbuch gehört derzeit zur spannendsten Sparte innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur. Wo Bilderbücher gelingen, sind sie eine Spielwiese des Sehens und Verstehens. Aktuell wird eine Thematik im Bilderbuch neu verhandelt, die angesichts des Publikums etwas überrascht: Homosexualität und Transgender.

Von Christine Knödler | 28.01.2017
    Eine zauberhafte Sequenz aus einem Traum mit einem Mädchen am Meer mit Felsen, umgeben von einem Affen und einem Heißluftballon.
    Gleichgeschlechtliche Eltern, Homosexualität in der Familie – all das ist in der Lebenswirklichkeit von Kindern und auch in Bilderbüchern angekommen. (Imago / Westend61)
    Bären jeder Couleur stehen für die Zielgruppe der 4-Jährigen aufwärts hoch im Kurs. Auch "Joscha und Mischa, diese zwei", die Hauptfiguren in der gleichnamigen Geschichte von Hans Gärtner mit Bildern von Christel Kaspar, gehören dieser Spezies an. Allerdings sind sie anders als die anderen Bären in Kukuschkan: nicht braun, nicht grau, sondern strohblond und rotbraun. "Kräftig gebaut", heißt es im Text. "Hübsche Kerle".
    Joscha und Mischa verlieben sich ineinander. Sie ecken an. Sie geben nicht auf. Das lässt sich als nonkonformistische Liebesgeschichte gegen gesellschaftliche Widerstände lesen. Es ist genauso ein Bekenntnis zu gelebter Homosexualität.
    Sensibilisierung fürs Unbekannte
    Wie auch immer die Lesart ausfällt – eines steht fest: Einmal mehr gibt sich die Kinder- und Jugendliteratur progressiv. Anhand der Thematik Sexualität sensibilisiert sie fürs Unbekannte, ermutigt zum Anderssein, fordert und befördert Toleranz. Zumindest ist das der Plan.
    Entsprechend unerschrocken tritt Thomas Endl, Verleger der Edition Tingeltangel, in der "Joscha und Mischa" erschienen ist, an die Öffentlichkeit. "Schwule Bären im Bilderbuch? Na klar!", schreibt er bewusst provokativ. Über die Zielgruppe hat er sich trotzdem Gedanken gemacht:
    "Ich hab mir gedacht: Es ist ein Bilderbuch. Ein Bilderbuch ist erst mal für kleine Kinder, aber natürlich auch für die Eltern. Jetzt kann man in der Tat trefflich streiten darüber: Ist das gut aufgehoben im Kinderzimmer? Ich würde sagen: Es kommt auf die Eltern drauf an, es kommt auf die Situation drauf an, gibt’s einen thematischen Bezug zu dem Thema, bereits in der Familie oder so? Gibt’s irgendeinen Grund? Oder sagen die Eltern: Das ist so eine schöne Liebesgeschichte. Da kann man ganz vielseitig dran gehen, warum das ein interessantes Buch für Kinder ist."
    Bekennend bunt sein
    Gleichgeschlechtliche Eltern, Homosexualität in der Familie – all das ist in der Lebenswirklichkeit von Kindern angekommen. "Joscha & Mischa" passt also in diesen Kontext. Gegen das Grau-in-Grau ihrer Umwelt wollen die beiden bekennend bunt sein und bleiben. Das zeigen auch die malerischen Bilder von Christel Kaspar, die in ihrem Bilderbuchdebüt bewusst bunte gegen graue Seiten setzt, mit Größenverhältnissen und Perspektiven spielt. Das kann man als Metapher betrachten. Oder als Klischee. Dass die Gegenspieler von Joscha und Mischa der Bärenlehrer, der Bärenpfarrer und der Bärenfrisör sind, ist Schablone und als solche nicht neu. Immerhin: Das Bärenpärchen bekommt mehrfach Gegenwind. Es findet auch einen Fürsprecher. Der Bärenbürgermeister, der seinerseits seinen Mittelscheitel, so der Text "gelt und offensichtlich seine Goldkette schick fand", bläst den drei Klägern gründlich den Marsch:
    "Da stehen zwei, die nicht anders sind als eure Buben: jung, gut gewachsen, kerngesund und voller Zuversicht. Ein bisschen übermütig vielleicht, aber das passt zu den jungen Leuten. Die passen sich nicht an."
    "Das ist im Grunde fast noch mal so drangehängt: Dieser Bürgermeister, vor den dann alle eben treten, und der dann sozusagen klärende Worte sagt. Würde ich in einem Roman nicht haben wollen. In so einem Buch kann man es machen, weil es eine einfache Geschichte bleibt, und in dem Fall schadet es überhaupt gar nicht, wenn der ganz klare Worte sagt und das ist dann wirklich im Grunde die inhaltliche Quintessenz. Wenn die sich lieb haben – was tun die euch? Wenn die sich küssen? Was nehmen die euch weg? Nix. Darum ging’s."
    Mehr Erwachsenen-Anliegen als Kinder-Geschichte, weniger Poesie, mehr Predigt, passt "Joscha & Mischa diese zwei" zu den Titeln, die innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur unter dem Etikett Problembuch firmieren. Anleitung zwischen den Buchdeckeln gehört dazu, die Qualität der Botschaft rangiert vor der Qualität der Geschichte – daran ändert auch die Tatsache nichts, dass das letzte Wort im Buch, "Ende?", mit einem Fragezeichen versehen ist. Ob die Worte des Bürgermeisters wirken oder ob Joscha und Mischa weiter kämpfen müssen, bleibt offen.
    Ermutigung zum Anderssein
    "Eines Tages wachte Finn morgens auf und sah, wie schon die Sonne ins Zimmer schien. "Juhu", jubelte er. "Steh auf, Thomas, heute gehen wir zum Spielen in den Park!" – Aber Thomas, dem Teddy, war heute nicht nach Spielen zumute."
    So beginnt "Teddy Tilly" von Jessica Walton, illustriert von Dougal MacPherson. Das Bilderbuch betritt mit dem Thema Transsexualität Neuland.
    Teddy Thomas will Tilly heißen. Tilly mit Ypsilon: ein Mädchenname. Doch Thomas hat Angst. Wenn er mit dieser Sehnsucht rausrückt, so fürchtet er, wird Finn ihn nicht mehr mögen. Auch dieses Bilderbuch für Kinder ab 4 Jahren geht ohne große Umwege zur Sache und sowieso gut aus: dass Teddy Tilly einen neuen Namen haben will, ist Finn egal. Hauptsache, sie bleiben Freunde.
    "Du bist der beste Freund, den sich eine Teddybärin nur wünschen kann", sagte Tilly."
    So weit, so viel zu einfach. Einfach ist auch das Rollenverhalten. Um 180 Grad gedreht, schreibt es Stereotype fort: Finn spielt mit einem Teddy, Eva, das Mädchen im Bunde, baut in der Freizeit Roboter. Spätestens seit Janoschs "Löwenzahn und Seidenpfote" ist eine solche Umkehrung der Geschlechterrollen ins Gegenteil etabliert. Heute dürfen sich Mädchen als Piratinnen und Ritterinnen schlagen, derweil sich wollsockige Knappen mit Dauerschnupfen für Homöopathie interessieren, statt gegen Drachen zu kämpfen und Jungfrauen zu retten.
    Das kann hoch ironisch gemeint sein, meistens aber dient es der Ermutigung zum Anderssein. Worin also liegen die Überraschung, womöglich das Wagnis von "Teddy Tilly" über die Ansage hinaus: Sei du selbst, dann kann nichts mehr schief gehen, was Tradition hat in der Kinder- und Jugendliteratur? Im Thema:
    "Thomas, der Teddy, holte tief Luft, dann sagte er: "Ich muss endlich ich selber sein. Tief in meinem Herzen weiß ich schon immer, dass ich ein Teddymädchen bin, kein Teddyjunge. Ich würde viel lieber Tilly heißen als Thomas."
    Das klingt nach Erwachsenensprech, nach dem Erfahrungswert derer, denen der herrliche kindliche Größenwahn, alles und mehr sein zu können, längst abhanden gekommen ist. Literarisch ist das unbefriedigend, thematisch verfehlt es die Leserschaft und auch aus psychologischer Sicht geht es an der Sache vorbei.
    "Da findet eine Zuschreibung statt, die meiner Meinung nach überhaupt gar nicht Not tut"
    Alexander Korte, leitender Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität München, meldet darum Bedenken an:
    "Da findet eine Zuschreibung statt, die meiner Meinung nach überhaupt gar nicht Not tut. Was bedeutet das denn? Was ist denn Inhalt der Aussage dieses – ja, was isses? – dieses Bären: Ich möchte aber eine Bärin sein. Worauf bezieht sich das denn? Also was hat das für eine Substanz beziehungsweise: Was versucht diese betroffene Bilderbuchfigur dadurch zu erreichen? Sie möchte akzeptiert werden. Ja, wunderbar! Kann man ja nur in die Hände klatschen! Jubilieren! Als Vater, Mutter, als Kinder- und Jugendpsychiater. Keine Frage. Aber das ist zunächst Mal nur ein abweichendes Rollenverhalten. Das ist der geäußerte Wunsch dieses Kindes – nicht dieses Kindes, sondern der Bilderbuch-Figur – sich eine Schleife ins Haar binden zu dürfen. Ja, bitte schön! Aber das hat mit Transsexualität noch überhaupt gar nichts zu tun."
    Dass das eine überaus komplexe Angelegenheit ist, die kaum zwischen zwei Bilderbuchdeckel passt, weiß der Psychiater mit Schwerpunkt Sexualmedizin wie wenig andere hierzulande.
    Trotzdem geht es in "Teddy Tilly" genau darum: das Thema Transgender im Bilderbuch zu platzieren. Das lässt sich spätestens auf der letzten Buchseite nachlesen. Jessica Walton, so steht in der Kurzbiografie der Autorin, ist selbst Tochter einer transsexuellen Frau. Heute lebt sie mit ihrer Lebensgefährtin und ihrem Sohn in der Nähe von Melbourne, Australien.
    Eine, die weiß, wovon sie erzählt? Eine, die ein Anliegen hat?
    Indoktrination der Kinder statt intendierter Aufklärung?
    Alexander Korte sieht auch das kritisch.
    "Wir wünschen uns natürlich alle eine Gesellschaft der Toleranz, wo sexuelle Vielfalt akzeptiert wird, das ist überhaupt keine Frage, aber ich hab hier den Eindruck, dass das sehr frühzeitig jetzt schon in der Vorschulerziehung an die Kinder herangetragen werden soll, obwohl die zu dem Zeitpunkt sich in der Regel erst mal mit ganz anderen Dingen auseinander setzen. Durchaus auch mit sexuellen Inhalten, mit Doktorspielen und so weiter, aber diese Thematik oder Problematik, vom anderen Geschlecht sein zu wollen oder eine andere soziale Geschlechtsrolle einnehmen zu wollen, ist eben für 99 Prozent der Kinder nicht das, was wesentlich ist, was vordergründig ist, was sie interessiert."
    Der Kinder- und Jugend-Psychiater legt nach:
    "Ich bin nicht sicher, dass das die Kinder im Wesentlichen schon interessiert und ich bin darüber hinaus der Meinung, dass es zumindest kritikwürdig ist, Kinder so frühzeitig zu indoktrinieren mit offensichtlich ideologisch begründeten Anschauungen. Warum lässt man die Kinder nicht einfach in ihrer kindlichen Welt in Ruhe damit?"
    Indoktrination der Kinder statt intendierter Aufklärung? Verunsicherung der Zielgruppe statt Identifikationsangebot? Was eine pädagogische Vollkasko-Versicherung sein könnte, wird zum Bumerang, wenn das typisch kindliche Ausprobieren verschiedener Rollen zur nächsten, zur eigentlichen Festschreibung führt: Du möchtest nicht nur anders sein – du möchtest jemand anderes sein.
    Im erklärten Wunsch, nicht zu problematisieren, im absichtsvollen Versuch, der möglichen Problematik erzählend vorzubeugen, würde dann das Problem überhaupt erst gesetzt und wäre noch ein Beleg mehr dafür, wie "Teddy Tilly" an den Interessen eines kindlichen Bilderbuchpublikums vorbei erzählt.
    Derlei Nachdenken über Konsequenzen fällt im Buch unter den Tisch. Ganz im Sinne des Gut-Gemeinten will das einfach gut ausgehen. In der Bilderbuchkomposition ist das so gelöst: Tilly darf, das machen auch die Illustrationen von Dougal MacPherson vor, in Zukunft im wahrsten Sinn des Wortes Gesicht zeigen. In dem Augenblick, in dem der Teddy sich zur eigenen Bestimmung bekennt, wendet er dem Betrachter nicht länger verschämt den Rücken zu. Schließlich hat das schon das Cover versprochen. Zwar schaut dort noch ein betrübter Teddy Thomas mit verrutschter Fliege in den Spiegel, doch aus dem Spiegel strahlt bereits eine glückliche Tilly zurück. Die lustige Propeller-Fliege thront jetzt als Haarschleife auf dem Kopf.
    Das Ausagieren verschiedener Rollen ist der Anfang jeden Spiels. Die Erfahrung von Identitätserfindung aus zweiter Hand macht Reiz und Möglichkeit des Lesens und Bilderbuch-Betrachtens aus – warum geht das hier dann so gründlich schief?
    Gefühlswelt von Erwachsenen statt von Kindern
    Dazu noch einmal der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Alexander Korte:
    "Es hat dann doch wieder was sehr Belehrendes. Was da eben durchscheint, sind Erwachsenenperspektiven und das gefällt mir einfach nicht. Es ist sicherlich dem der Vorzug zu geben gegenüber der alten schwarzen Pädagogik, aber was ja zum Beispiel die Bücher von Janosch auszeichnet, oder, na, wie heißt es noch, mit den wilden Kerlen, ist, dass es sich wirklich in die Lebens-, Erfahrungs-, und Gefühlswelt eines Kinder hineinversetzt und nicht die Lebens-, Erfahrungs- und Gefühlswelt von Erwachsenen abbildet und den Kindern unterschiebt."
    "Wo die wilden Kerle wohnen" von Maurice Sendak ist 1963 im Original erschienen. Längst ist es ein Klassiker der Kinderliteratur. Für Maurice Sendak war Hauptfigur Max eine Lieblingsfigur. Er fand sie von all seinen Erfindungen am mutigsten und tapfersten. Und, so Maurice Sendak: Max wollte niemandem gefallen – außer den Kindern.
    Denn darin liegt der Schlüssel zum Gelingen eines Bilderbuchs: nicht im Thema, nicht im Anspruch von Progressivität, nicht in der Haltung der Wertemittlung, nicht nur im Verhältnis von Inhalt zu Form, sondern in der Fähigkeit, das Reich der Kindheit zum Spielplatz von Fantasie und Poesie zu machen und zu bewahren.
    Hans Gärtner & Christel Kaspar: "Joscha & Mischa diese zwei. Die andere Bärengeschichte"
    edition tingeltangel 2016, 48 S., 16,90 Euro, ab 4 J.
    Jessica Walton / Dougal MacPherson: "Teddy & Tilly. Aus dem Englischen von Anu Stohner"
    Sauerländer 2016, 32 S., 14,99 Euro, ab 4 J.