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Hooligan-Gewalt bei der EM
"Nicht warten, bis die Lage eskaliert"

Der ehemalige DFB-Sicherheitschef Helmut Spahn hat den französischen Behörden im Umgang mit Hooligans ein veraltetes Konzept vorgeworfen. Zu oft werde abgewartet, bis die Lage eskaliere, sagte er im DLF. Mit Blick auf die Partie Deutschland-Polen äußerte er die Hoffnung, dass man die Lehren aus den vergangenen Tagen gezogen habe.

Helmut Spahn im Gespräch mit Sandra Schulz | 16.06.2016
    Ein vermummter Mann mit geballten Fäusten und freiem Oberkörper auf der Tribüne.
    Beim Spiel zwischen Russland und England gab es massive Ausschreitungen. (imago / Bildbyran)
    Die französischen Behörden wendeten eine Strategie an, die 15 bis 20 Jahre alt sei, kritisierte Spahn, der während der Fußball-WM 2006 Sicherheitschef des Deutschen Fußball-Bundes war. "Ich kann nicht warten, bis die Lage eskaliert, und dann einschreiten", betonte er. Heutzutage versuche man, schon vor einer Begegnung deeskalierend zu wirken und gezielt Fangruppen anzusprechen. Das habe in Frankreich bisher gefehlt.
    Allerdings seien solche Konzepte gegen Hooligans und organisierte Schläger nicht wirklich ein Mittel, räumte Spahn ein. Zudem sei die Einsatzlage in Frankreich schwierig, da die Behörden an mehreren Fronten zu kämpfen hätten, sagte er mit Blick auf die Ausschreitungen bei Demonstrationen gegen die Arbeitsmarktreform.
    Die Begegnung zwischen Deutschland und Polen am Abend sei als Risikospiel eingestuft - ebenso wie die zwischen England und Wales am Nachmittag, sagte Spahn weiter. Er gehe davon aus, dass die französischen Behörden aus den Erfahrungen der vergangenen Tage gelernt hätten.

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Sandra Schulz: Über die Gewalt, die diese Europameisterschaft bisher begleitet, wollen wir in den kommenden Minuten sprechen mit Helmut Spahn. Er ist der Präsident von Kickers Offenbach, Generaldirektor des International Center for Sport Security in Katar und er war zur WM 2006 Sicherheitschef des DFB, ist jetzt in Paris am Telefon. Guten Morgen.
    Helmut Spahn: Ja, schönen guten Morgen.
    Spahn sitzt auf einer Bank zwischen zwei Grünpflanzen. Auf der Wand hinter ihm steht "Securing Sport".
    Der Geschäftsführer des Internationalen Zentrums für Sportsicherheit (ICCS), Helmut Spahn, sitzt am 13.01.2014 auf einem Sofa vor seinem Büro im Gebäude des "International Centre for Sport Security" in Doha (Katar).  (dpa / Peter Kneffel)
    Schulz: Herr Spahn, welche Begegnung macht Sie mit Blick auf den Tag heute denn nervöser, England-Wales oder Deutschland-Polen?
    Spahn: Was heißt nervöser? Ich glaube, beide Spiele stehen im Blickpunkt der Polizei. Beide Spiele sind als Risikospiele eingestuft. Und ich gehe jetzt davon aus, dass auch die französischen Behörden, das lokale Organisationskomitee, jetzt die richtigen Maßnahmen treffen und aus den Erfahrungen der letzten Tage gelernt haben.
    Schulz: Sind es denn tatsächlich mehr Ausschreitungen am Rande dieser EM, oder wie es in der Vergangenheit bei Weltmeisterschaften war? Ist das wirklich mehr, oder ist das jetzt gefühlt mehr durch die Aufmerksamkeit, die es ja auch gibt?
    Spahn: Wenn man sich die letzten Jahre anschaut, die letzten fast zehn oder 15 Jahre, dann ist im Bereich Sicherheit, aber auch egal in welchen Bereichen es immer gefühlt mehr, weil natürlich auch die Medienlandschaft sich komplett verändert hat: durch Facebook, durch Twitter, durch eine ständige unmittelbare Aussendung von Nachrichten und Bildern unmittelbar nach dem Ereignis. Aber Fakt ist, dass das, was wir insbesondere in Marseille gesehen haben, in der Art und in der Intensität sicherlich, dachten viele, der Vergangenheit angehört hat und man das auch bei den vergangenen großen Veranstaltungen durchaus gut im Griff hatte. Wobei natürlich eine Weltmeisterschaft in Südafrika oder in Brasilien nicht mit einer Europameisterschaft, was das Hooligan-Problem betrifft, hier in Europa vergleichbar ist.
    Schulz: Jetzt kündigen die französischen Sicherheitskräfte ja auch Konsequenzen an. Glauben Sie, dass diese Bilder, wie wir sie aus Marseille gesehen haben, dass die sich jetzt noch mal wiederholen werden, oder haben es die Franzosen dann jetzt doch im Griff?
    Spahn: Man wird sicherlich nicht von heute auf morgen das Konzept komplett überarbeiten und umstellen können. Das ist sicherlich schwierig. Es gab ja heute Nacht in Lille auch wieder Auseinandersetzungen, ich glaube insgesamt 36 Festnahmen und zehn, 14 Personen mussten ins Krankenhaus, weil auf dem Weg zum Spiel die Engländer dort auch vorbeigefahren sind und wieder die Auseinandersetzung mit Russen gesucht haben. Aber ich denke, das sind jetzt Bilder, die uns jetzt nicht weiter verunsichern sollten. Ich glaube, die französischen Behörden arbeiten wirklich sehr, sehr intensiv daran, das Problem zu lösen. Und wir müssen jetzt auch schauen, dass wir ein Stück weit, ich sage mal, positiver nach vorne schauen und ein Stück weit auch Mut machen. Ich glaube, Fans, Zuschauer wollen diese Bilder nicht sehen. Und das müssen wir jetzt vielleicht auch mal ein Stück artikulieren und den Leuten klar sagen, wir wollen euch nicht beim Fußball haben.
    Schulz: Sie haben sich vor der EM ja schon mit deutlicher Kritik geäußert am französischen Sicherheitskonzept, auch wenn Sie sagen, wir wollen jetzt in die Zukunft schauen. Das ist ja der Punkt, über den wir heute Morgen hier auch sprechen wollen. Was genau werfen Sie den französischen Behörden vor?
    Spahn: Franzosen haben sich wenig ausgetauscht
    Spahn: Das Entscheidende für mich war, dass bei den Vorbereitungen der EM ich mich natürlich mit relativ vielen Leuten unterhalten habe, mit meinem Netzwerk, mit meinen Kollegen auch aus anderen Ländern. Und das, was ich erfahren habe, das wurde mir dort bestätigt, dass man sehr, sehr abgeschottet sich vorbereitet hat, dass man die internationalen Standards - und ein Standard war, sich tatsächlich auszutauschen, von vorangegangenen Veranstaltungen dementsprechend zu lernen, über den Tellerrand zu schauen -, dass man das nicht wirklich wahrgenommen hat. Es ging sogar so weit, was mir Kollegen gesagt haben, unterschiedliche aus dem Sicherheitsbereich, aus dem Fanbereich, dass man ganz offensiv Hilfe angeboten hat und die abgelehnt wurde. Das hat ein Stück weit mit Selbstverständnis, ein Stück weit sicherlich auch mit Mentalität zu tun. Jedes Land bereitet sich ein Stück weit anders vor, hat eine andere Sicherheitsarchitektur. Aber ich glaube, der Austausch mit den internationalen Experten ist unabdingbar. Und auch wenn ich am Ende sage, ich konnte nichts mitnehmen, ich glaube, ich muss es aber definitiv probieren und machen.
    Schulz: Aber welche konkreten Fehler sehen Sie? Ich verstehe das jetzt so, dass es eine französische Haltung gegeben hat, nee, wir schaffen das allein. Aber was konkret ist denn jetzt nicht gut gelaufen?
    Spahn: Es gibt in dem Bereich der Fanbetreuung, im Bereich der polizeilichen Einsatzkonzepte sicherlich jetzt Standards, die über Jahre auch gewachsen sind, weil man gelernt hat. Und ich glaube, dass Frankreich ein Stück weit ein Konzept anwendet, was vielleicht, würde ich sagen, 15 oder 20 Jahre alt ist. Diese abgestuften Einsatztaktiken, zunächst mal deeskalierend zu wirken und die Personen versuchen, auch anzusprechen, mit ihnen zu kommunizieren, und noch wichtiger im Vorfeld intensiv zu kommunizieren mit den unterschiedlichen Fangruppen, mit den Besuchern. Auch die Bereitschaft zu haben, sich ein Stück weit zu öffnen für Fan- und Besucherprogramme, die immer dazu beitragen, ein Stück weit deeskalierend zu wirken. Das hat insgesamt gefehlt und ich kann nicht ein Stück weit immer warten, bis eine Lage eskaliert und dann einschreiten, sondern ich muss versuchen, vor diese Lage zu kommen, das rechtzeitig zu erkennen, wobei - das möchte ich auch deutlich sagen - solche Konzepte natürlich für organisierte Schläger- und Hooligan-Gruppen, die vielleicht auch noch aus dem Rocker-Milieu kommen, keine wirksamen Mittel sind. Da muss man sich natürlich auch darüber im Klaren sein.
    Schulz: Fangewalt ist ein Thema bei dieser Europameisterschaft. Das andere ist natürlich die Bedrohung durch den islamistischen Terror. Da hat es Anfang der Woche auch einen Anschlag gegeben. Vor diesem Hintergrund, hatten die französischen Behörden da überhaupt eine Chance, alles richtig zu machen?
    Spahn: Ja, ich glaube schon. Das eine hat ja zunächst mal mit dem anderen nichts zu tun. Ich denke, dass die Franzosen natürlich wie kein anderes Land zumindest in Zentraleuropa zurzeit im Fokus des Terrors stehen. Ich denke, dass man dort seine Hausaufgaben auch im Prinzip gemacht hat. Man hat ja auch den Ausnahmezustand jetzt über die Europameisterschaft hinaus verlängert. Aber diese Europameisterschaft findet statt und dass man sie ausrichtet, weiß man ja nicht erst seit drei Wochen oder vier Monaten, sondern seit einigen Jahren. Und ein solches Konzept bei einer Europameisterschaft, ein Sicherheitskonzept entwickelt sich über die Jahre. Dass natürlich die Kräftelage, die Einsatzlage insgesamt in Frankreich eine schwierige ist, weil man sicherlich an mehreren Fronten zu kämpfen hat, ist auch klar. Aber ich denke, dass beides machbar sein muss, und ich denke, die Franzosen werden jetzt alles tun, um das auch sicherzustellen.
    Schulz: Helmut Spahn, der frühere DFB-Sicherheitschef, heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk, uns per Mobiltelefon aus Paris zugeschaltet. Darum sorry für die schlechte Telefonqualität und herzlichen Dank nach Paris, Herr Spahn.
    Spahn: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.