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Horde, Stamm und Häuptling

Der Evolutionsbiologe Jared Diamond hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Er möchte in einer Studie nichts Geringeres erklären, als die gesellschaftlichen Unterschiede dieser Welt. Dabei setzt er vor allem auf Differenzen in der Umwelt. Biologische Ursachen erkennt er bewusst nicht an.

Von Martin Zähringer | 08.02.2013
    "Mein Bild von mir als Autor ist, ich schreibe über das, was mich fasziniert. Ich schreibe nicht, um Leute zu überzeugen, ich schreibe, um zu verstehen."

    Fasziniert haben den wissenschaftlichen Ornithologen und Geografen Jared Diamnond die Vögel auf Papua-Neuguinea, nach Grönland die zweitgrößte Insel der Welt. 1964 war er zum ersten Mal dort, bei den Paradiesvögeln und den Laubenvögeln. Und seit dieser Zeit beschäftigt er sich auch mit den Insulanern im Pazifik, von denen viele bis nach dem Zweiten Weltkrieg noch nichts von Weißen wussten. Er nennt jene, die er persönlich kennt, "Freunde" und bevorzugt den Ausdruck "nicht-staatliche Gesellschaften".

    "Ich interessiere mich für Geschichte, Geschichte anderer Länder. Das taten bis vor kurzem die meisten Amerikaner nicht, die Gründe dafür sind verständlich: Hier in Europa ist Deutschland, und Deutschland grenzt an Frankreich, an die Schweiz, an Polen. Die Deutschen müssen andere Völker verstehen, während uns in den USA bis vor kurzem das atlantische Meer und das pazifische Meer beschützt haben vor anderen. Wir konnten es uns leisten, in Isolierung zu leben, der Angriff vom September 2001 hat uns gezeigt, dass uns das Meer nicht mehr beschützt und dass wir es uns nicht mehr leisten können, nichts über andere Länder zu wissen."

    Elf Kapitel in fünf Teilen plus Epilog, bei 550 Seiten mit Anhang eine herausfordernde Lektüre. Von Vorteil ist Diamonds klarer, unterhaltsamer und völlig unprätentiöser Stil, von Sebastian Vogel ausgezeichnet übersetzt. Es beginnt mit einer plastischen Darstellung des Lebens der Stämme in Papua-Neuguinea. Hier lernen wir die Grundlagen und Probleme der materiellen Kultur kennen – Raumaufteilung, Grenzpolitik der Stämme, Nahrungsfragen. Teil II versucht sich in einem Vergleich traditioneller Konfliktlösungsmodelle und moderner Kriegsführung. Teil III enthält Kapitel zu Kindheit und Alter, und im vierten Teil erörtert der Autor eine traditionelle Geisteshaltung, für die er einen eigenen Namen erfunden hat: konstruktive Paranoia:

    "Mit diesem paradoxen Ausdruck meine ich, dass man regelmäßig über die Bedeutung kleiner Ereignisse oder Anzeichen nachdenkt, die in jedem Einzelfall nur ein geringes Risiko bergen, sich aber im Laufe eines Lebens tausende von Malen wiederholen und sich deshalb letztlich als verhängnisvoll erweisen werden, wenn man sie ignoriert. "Unfälle" ereignen sich nicht einfach zufällig oder weil man Pech hat: Traditionell geht man davon aus, dass alles aus einem Grund geschieht, so dass man aufmerksam auf mögliche Ursachen achten und vorsichtig sein muss."

    Kleinere Anzeichen für größere Risiken sind im waldigen Land sowohl abgestorbene Bäume, unter denen man lieber nicht lagern sollte, wie auch Wassertropfen, die man beim Duschen besser nicht über die Lippen lässt, um Konflikte mit seinem Darmsystem zu vermeiden. In Diamonds vergleichendem Blick erscheint die Leistung rationalen Denkens als eine Kategorie universeller Humanität – das heißt: Intelligenz ist eine Frage der Aufmerksamkeit, ob im Wald von Papua-Neuguinea oder in der Universität von Harvard. Obwohl Diamond evolutionsbiologische Argumente durchaus anwendet - biologische Ursachen für die Differenz der Gesellschaften erkennt er nicht an:

    "In Wirklichkeit ergibt sich die Erklärung für die unterschiedlichen Gesellschaften, die in der modernen Welt nebeneinander existieren, aus Unterschieden in der Umwelt. Politische Zentralisierung und gesellschaftliche Schichtenbildung wurden durch eine Zunahme der Bevölkerungsdichte vorangetrieben, und deren Triebkraft wiederum waren die Entwicklung und Intensivierung der Nahrungsmittelproduktion."

    Auch im fünften Teil über Religion, Sprachenvielfalt und Gesundheit behält er diese säkulare und rationale Grundeinstellung bei. Traditionelles Wissen wird dabei grundsätzlich anerkannt, allerdings nur da, wo es nützt. Zum Beispiel bei der Mehrsprachigkeit der meisten Papua-Neuguineer, die sich von Kindesbeinen an die verschiedenen Sprachen ihrer näheren Umgebung aneignen, passiv oder aktiv. Mehrsprachigkeit als kognitiver Vorteil für das Individuum, das ist sicherlich auch mit Vorteil für gesellschaftliche Integrationsdebatten zu verstehen. Die Übertragung solcher Fitness – wie es im evolutionsbiologischen Jargon heißt, auf kulturelle Ebenen ist aber nicht so leicht. Und die Frage stellt sich ja fast von alleine: Könnte man diesen Vorteil auf multikulturelle Gesellschaften in modernen Staaten übertragen?

    "Wahrscheinlich hat es einen Vorteil, aber es gibt so viele andere Unterschiede zwischen den Kulturen, dass ich nie behaupten würde, dass einsprachige Kulturen wie im großen und ganzen die Vereinigten Staaten, minderwertig sind im Vergleich zu 15-sprachigen Kulturen wie Neuguinea. Aber Zweisprachigkeit oder Mehrsprachigkeit ist bestimmt vorteilhaft für das Individuum."

    Jared Diamond zu lesen, das bedeutet vielschichtige Informationen aus vielen Disziplinen und Wissensbereichen zu bekommen. Er betreibt in allen seinen Büchern eine eigene Art von wissenschaftlichem Eklektizismus und ist der Meinung, dass die Grenzen zwischen den Disziplinen zu überschreiten sind:
    "Ja - und zwar um die Geschichte der Menschen zu verstehen. Die berufsmäßigen Historiker beschäftigen sich öfters nur mit der Schrift und mit Dokumenten. Aber um die Geschichte der Menschen zu verstehen, um die Geschichte Deutschlands zu verstehen, bevor es Schrift gab, braucht man die Linguistik, man braucht die Archäologie, die Gene, man braucht allerlei Beweise. Es gibt einen Spruch unter einigen Historikern: wenn man die Geschichte von nur einer Gesellschaft verstehen will, versteht man gar keine Gesellschaft, denn das Verständnis kommt durch das Vergleichen."

    Das Vergleichen ist eine notwendige Grundübung kulturübergreifender Betrachtungen. Sofern in diesem globalisierten Feld überhaupt noch von Kulturen die Rede sein kann. Das wird an der Front sozialwissenschaftlicher Theoriebildung bereits bestritten. Diamond spricht bewusst von Gesellschaften, die zu vergleichen sind, aber seine praktischen Vergleiche, gezogen aus Erfahrung, Lektüre und vom Hörensagen, kommen auch hin und wieder etwas platt daher:

    "Für die Sirino-Indianer in Bolivien sind Lebensmittel das beherrschende Thema aller Gedanken ... Sexualität und Ernährung stehen in ihrer Bedeutung bei den Siriono und uns aus dem Westen in umgekehrtem Verhältnis: Die größten Befürchtungen der Siriono betreffen die Nahrung: sexuell aktiv dagegen sind sie praktisch immer, wenn sie es wünschen, und die Sexualität stellt auch einen Ausgleich für den Hunger nach Nahrung dar. Bei uns ist Sexualität der Gegenstand der größten Befürchtungen, wir haben praktisch immer Lebensmittel, wenn wir es wünschen, und Essen kann zur Kompensation sexueller Frustrationen dienen."

    Sex und Essen sind ausgezeichnete Parameter im Kulturvergleich. Aber gerade hier zeigen sich die Gefahren des populärwissenschaftlichen Eklektizismus. Denn die Fragwürdigkeit ethnografischer Sexualforschung ist längst bekannt, das Entstehen dieser Texte ist stark von subjektiven Momenten geprägt, auf beiden Seiten des Mikrofons. Leider lässt Diamond einen kritischen Blick auf die Ethnologen vermissen, weil ihre Feldforschungsberichte eben gut im eigenen Text zu gebrauchen sind. Er ist viel besser, wo er das eigene Erleben reflektiert. Das macht den Reiz dieses Werkes aus. Diamonds vergleichende Methodik ist dagegen anfällig: Sie geht von klassischen anthropologischen Konzepten aus - Horde, Stamm und Häuptlingstum als Kategorien der nicht-staatlichen Gesellschaften, auf der anderen Seite die Idee vom Staatswesen, in welchem auch seine Leser als kollektives Subjekt enthalten sind. Dieses Subjekt ist in modernen wissenschaftlichen Traditionen Gegenstand soziologischer Erklärung, oder eben Aufklärung. Aber solange Naturwissenschaften, Anthropologie und Soziologie methodisch und theoretisch nicht hinreichend vermittelt sind, solange sind traditionelle und moderne Gesellschaften schlecht vergleichend aufzuklären. Wenn man aber nur "die Andren erklären" will, dann bleibt es beim alten Stil: man spricht über sie, nicht mit ihnen.

    Jared Diamond: "Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können."
    Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel.
    Verlag S. Fischer
    586 Seiten, 22, 90 Euro