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Hormesis - das zweischneidige Schwert der Toxikologen

Der Rote Fingerhut ist ein Staude mit glockenförmigen Blüten. Eine Giftpflanze, aber zugleich auch eine Heilpflanze. Sie enthält den Wirkstoff Digitoxin. Der hilft bei Herzrhythmusstörungen, er kräftigt das Herz. Zuviel Digitoxin aber kann tödlich wirken, denn im Extremfall führt die Verbindung zu einem Herzstillstand. Digitoxin ist nicht der einzige Giftstoff, der auch Gutes bewirken kann. Im Umweltschutz bereiten solche Verbindungen den Toxikologen große Probleme, wenn es darum geht, einen aussagekräftigen Grenzwert zu finden.

Von Arndt Reuning | 03.12.2004
    "Alle Dinge sind Gift und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht's, dass ein Ding kein Gift ist." So hat es der Arzt und Naturforscher Paracelsus formuliert, vor rund 500 Jahren. Und noch heute sind die Toxikologen genau jener Dosis auf der Spur. Der Dosis, bei der ein Umweltgift so weit verdünnt ist, dass es ungefährlich ist, also eben kein Gift mehr. Die Industrie ist an diese Schwellenwerte gebunden. Mehr davon darf nicht in die Natur gelangen. Nun kommt es aber auch manchmal vor, dass ein Giftstoff, wenn man ihn immer mehr verdünnt, plötzlich genau das Gegenteil seiner schädigen Wirkung zeigt. Der Fachausdruck dafür lautet Hormesis. Und Hormesis kann man sogar schon am Gartenteich beobachten. Wenn zum Beispiel eine Substanz, die die Algen angreift, stark verdünnt plötzlich deren Wachstum fördert.

    Also, wenn ich eine ganz normale Förderung habe, das kann jeder bei sich natürlich beobachten, wenn ich Dünger reinkippe (das wäre jetzt kein Beispiel für direkte Hormesis), dann wachsen die Algen stärker und ich krieg ne grüne Suppe. Und natürlich kann das bei Stoffen, die eigentlich toxisch sind, kann das auch passieren.

    Das sagt Arnd Weyers vom Beratergremium für Altstoffe der Gesellschaft Deutscher Chemiker. Er hat eine Reihe von Chemikalien darauf untersucht, ob sie den Hormesis-Effekt zeigen. Zwar nicht an Algen, aber an Wasserflöhen. Diese Kleinstlebewesen stehen auf dem Speiseplan vieler Fischarten. Deshalb ist für ein Ökosystem wichtig, wie stark sich die Wasserflöhe vermehren. Arndt Weyers hat die Chemikalien so ausgewählt, dass sie die Zahl der Nachkommen verringern, so wie das von einem Umweltgift auch zu erwarten ist. Und dann hat er geprüft, ob bei geringer Konzentration vielleicht mehr junge Wasserflöhe zur Welt kommen. Ergebnis:

    Also, wir haben jetzt eine Untersuchung gemacht mit Neustoffen, die wir vom Umweltbundesamt bekommen haben, und auch mit Altstoffen, und da scheint das so in – ganz grob – in einem von fünf Tests aufzutreten.

    In rund zwanzig Prozent aller Fälle also. Und damit gar nicht so selten, wie man vielleicht vermuten könnte. Wenn ein Stoff den Hormesis-Effekt zeigt, dann hat das möglicherweise nicht nur Auswirkungen auf ein Ökosystem. Auch die Schwellenwerte für die Giftwirkung verlieren damit oft ihre Aussagekraft. Denn ein Toxikologe gibt seine Messwerte einfach in ein Computerprogramm ein, das nach einer festgelegten Rechenvorschrift daraus die Schwellenwerte errechnet. Diese Vorschrift berücksichtigt Hormesis aber erst gar nicht. Arnd Weyers:

    Wenn ich jetzt Hormesis habe, dann habe ich eine oder mehrere Konzentrationen dabei, wo eine Förderung auftritt, und dann passen meine Rechenverfahren, die ich normalerweise anwenden will, passen nicht mehr zu meinem Datensatz, ich kann Fehler machen. Also das Wichtige ist eigentlich zu erkennen, ob in diesem Datensatz, wenn ich diese Anomalie da drin habe – Förderung bei geringen Konzentrationen – ob ich dann die konventionellen Rechenverfahren, die ich benutze, um später sichere Umweltkonzentrationen abzuleiten, ob die noch richtig sind.

    Und das muss wirklich von Fall zu Fall geschehen, so Arnd Weyers. Und es müssen neue Auswerteverfahren etabliert werden, die Hormesis-Effekte nicht vernachlässigen. Dass bisher die positive Wirkung von giftigen Stoffen von den Toxikologen recht stiefmütterlich behandelt worden ist, das liegt vielleicht auch daran, dass man Hormesis in Vergangenheit oft mit der Homöopathie in Verbindung gebracht wurde. Also mit der Vorstellung, ein Medikament könne auch in extremer Verdünnung noch wirken. Davon müsse man die Hormesis aber klar abgrenzen, so Arnd Weyers:

    Bei der Hormesis ist das Wichtige: In aller Regel tritt sie auf bei Konzentrationen, die relativ knapp unterhalb der schädigenden Wirkung liegen. Also vielleicht so um den Faktor zehn oder maximal den Faktor hundert unterhalb der normalen Konzentration, wo ich ganz normale, toxische Effekte habe, finde ich diese Förderung, und nicht etwa fünf oder sechs oder acht Zehnerpotenzen da drunter.