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Horst Teltschik zur Flüchtlingskrise
"Merkel wird schon sehr im Stich gelassen"

Horst Teltschik, der frühere Berater von Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl, fordert in der Flüchtlingspolitik mehr Unterstützung für Angela Merkel. "Das Feuer lodert, und die Feuerwehr besteht im Augenblick nur aus der Kanzlerin", sagte Teltschik im DLF. Vor allem zwei Personen seien jetzt gefragt: Frankreichs Präsident François Hollande und SPD-Chef Sigmar Gabriel.

Horst Teltschik im Gespräch mit Martin Zagatta | 23.01.2016
    Horst Teltschik (CDU), ehemaliger außenpolitischer Berater von Helmut Kohl.
    Horst Teltschik - von ihm ließ sich Helmut Kohl während seiner Kanzlerschaft in außenpolitischen Fragen beraten. (AFP / Mandel Ngan)
    Teltschik verlangte im Deutschlandfunk, dass Deutschland und Frankreich in der Flüchtlingskrise wieder gemeinsam eine Führungsrolle übernehmen müssten. Leider sei Hollande ein sehr schwacher Präsident und werde kaum mit den Problemen in seinem eigenen Land fertig. Deshalb solle Merkel Hollande jetzt "an die Hand" nehmen - wie in der Ukraine-Krise.
    Teltschik forderte auch von SPD-Chef und Vizekanzler Gabriel mehr Engagement, um den deutsch-französischen Motor wieder ans Laufen zu bringen: "Sigmar Gabriel hat doch immer stolz verkündet, wie eng seine Beziehungen zu den französischen Sozialisten sind. Dann sollte er sich nach Paris aufmachen!"
    Kohls Ex-Berater bedauerte, dass auch Spanien und Italien derzeit zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt seien und Europa "schleifen" ließen. Alles bleibe an Deutschland hängen. "Da wird die Kanzlerin schon sehr im Stich gelassen." Allerdings hätte sie aus Teltschiks Sicht schon früher mit der Türkei über die Flüchtlingskrise und mit Russlands Präsident Putin über eine Lösung des syrischen Bürgerkriegs beraten müssen.
    Das vollständige Interview können Sie in Kürze hier nachlesen.

    Das Interview in voller Länge:
    Martin Zagatta: Dass CSU-Chef Horst Seehofer seine Enttäuschung äußert und seine Beziehung zur Kanzlerin auf einem Tiefpunkt sieht, das mag Angela Merkel verkraften. Doch die Woche hat gezeigt, dass die Bundesregierung mit ihrer Flüchtlingspolitik der offenen Grenzen ziemlich alleine dasteht und sich immer mehr isoliert in der EU. Vor allem die ost- und südosteuropäischen Länder wollen nichts wissen von einer geordneten Verteilung der Flüchtlinge auf die EU-Staaten, und Gleichgesinnte wie Schweden und Norwegen schotten sich inzwischen auch ab, und mit der Ankündigung, eine Obergrenze einzuführen, verliert die Bundesregierung nun mit Österreich auch noch einen der wichtigsten, wenn nicht den wichtigsten Verbündeten in dieser Flüchtlingspolitik. Kann sich Deutschland derart isolieren oder gefährdet das inzwischen den Zusammenhalt Europas? Horst Teltschik ist am Telefon, lange Jahre der Berater von Altbundeskanzler Helmut Kohl, dessen Lebenswerk dieses vereinte Europa ja ist. Guten Morgen, Herr Teltschik!
    Horst Teltschik: Guten Morgen, Herr Zagatta!
    Zagatta: Herr Teltschik, Sie haben ja viel erlebt in den langen Jahren mit Helmut Kohl, aber ist Deutschland schon einmal so isoliert gewesen in der EU wie in diesen Wochen?
    Teltschik: In der Politik sind Vergleiche immer schwierig, aber ich erinnere mich an die Phase als der Bundeskanzler Helmut Kohl seine bekannte Zehn-Punkte-Rede im Bundestag hielt, in der er ankündigte, dass er jetzt das Ziel der deutschen Einheit anstreben wird, da war er in Europa für die ersten Tage doch weitgehend isoliert und alleingelassen. Der einzige, der ihn damals sofort unterstützt hat, war der amerikanische Präsident Bush.
    Zagatta: Aber das waren Tage!
    Teltschik: Bitte?
    Zagatta: Das waren Tage.
    Teltschik: Das waren Tage, ja, weil Helmut Kohl sofort auf seine Partner zugegangen ist, und nicht nur er. Wir hatten damals auch einen sehr aktiven Außenminister, Genscher, und hier wurde sofort alles getan, um die deutsche Politik zu erklären und Bedenken unserer Partner aufzunehmen. Beispielsweise hat Francois Mitterand, der französische Präsident, die große Sorge, dass ein großes geeintes Deutschland nicht mehr so eng mit Frankreich zusammenarbeiten könnte und nicht mehr Motor der europäischen Einigung sein würde. Daraufhin hat Helmut Kohl ihm sofort einen Brief geschrieben und gesagt, lass uns eine neue Initiative zu mehr Integration vorbereiten, das war sein Vorschlag zur politischen Union, die ja dann wenige Monate später auf dem EG-Gipfel, also auf dem Gipfel der Europäischen Gemeinschaft, in Dublin beschlossen wurde.
    Zagatta: Herr Teltschik, Sie sagen, er hat das gelöst, indem er da sofort auf seine Partner zugegangen ist. Jetzt ist ja Deutschland so isoliert auch vor allem, weil osteuropäische und südosteuropäische Länder sich ganz strikt weigern, Flüchtlinge aufzunehmen. Selbst Österreich geht jetzt von der Fahne mit Obergrenzen. Ist es da verantwortungsvolle Politik, dass wir sagen, na ja, die liegen falsch, wir setzen unsere Vorstellungen trotzdem durch?
    "Da wird die Bundeskanzlerin schon sehr im Stich gelassen"
    Teltschik: Ich bin gespannt, wie lang eine solche Politik jetzt, nationale Grenzen zu schließen und damit zu versuchen, Obergrenzen einzuführen, wie lang das durchgehalten werden könnte. Erinnern Sie sich doch an die Ausgangssituation in Ungarn als an den Zäunen, die der ungarische Ministerpräsident errichten ließ, plötzlich im Fernsehen die Bilder verzweifelter Flüchtlinge mit Kindern, hungernder Flüchtlinge, frierender Flüchtlinge, verzweifelter Flüchtlinge auftauchten - wenn das dann jeden Tag über die Fernsehschirme geht, dann möchte ich wissen, wie lange das die Europäer durchhalten können. Ich meine, die Bundeskanzlerin ist ja längst dabei, vor allem mit der Türkei zu reden. Die einzige Kritik, die ich anbringen würde - das hätte man viel früher tun müssen, man hätte auch viel früher mit Putin reden müssen, wie Syrien beigelegt werden kann. Aber ansonsten ist auch die Initiative, jetzt die Außengrenzen abzusichern durch Frontex, das ist diese europäische Grenzpolizei, das hat man natürlich über Jahre alles schleifen lassen und letztlich versäumt. Jetzt kommt die Frage auf, wer finanziert auch das Ganze, und da wird die Bundeskanzlerin schon sehr im Stich gelassen. Ich habe manchmal auch den Eindruck, auch innerhalb der Koalition.
    Zagatta: Jetzt sagen Sie, man setzt auf die Türkei, man setzt auf die Sicherung der Außengrenzen. Wenn wir heute Morgen unsere Presseschau gehört haben, dann ist gestern da bei diesen deutsch-türkischen Konsultationen außer Absichtserklärungen nichts herausgekommen. Osteuropäische Staaten kündigen schon an, sie machen auf keinen Fall mit - wenn es diese Grenzsicherung gibt - bei der Verteilung von Flüchtlingen. Es ist abzusehen, der Flüchtlingsgipfel der EU im nächsten Monat, der wird scheitern, da deutet alles darauf hin. Wenn Deutschland sich da jetzt so isoliert - das ist ja dann in der Praxis so -, ob sie das dann will, Frau Merkel, oder nicht, läuft diese Politik dann nicht genau darauf hinaus, dass man das Zusammenwachsen, den Zusammenhalt von Europa, also das, was Helmut Kohl aufgebaut hat, dass man das beschädigt oder zerstört?
    "Mancher in der Bundesregierung könnte mehr tun"
    Teltschik: Herr Zagatta, da kann ich Ihnen nur zustimmen. Was mich schon besorgt macht, sind die letzten öffentlichen Äußerungen von überzeugten Europäern. Wenn Sie an den EU-Kommissionspräsidenten Juncker denken, der gesagt hat, mit dem Schengen-System, wenn das jetzt gefährdet wird, sei eine der größten Errungenschaften des europäischen Integrationsprozesses in Gefahr, und das würde auch den Euro und den Binnenmarkt infrage stellen. Einen Tag später erklärt auch Schäuble, dass Europa dann in einer noch größeren Krise sei. Wenn jetzt schon solche Schlüsselpersonen in Europa und in Deutschland ihre Besorgnis äußern, dann kann man grundsätzlich nur sagen, das Feuer lodert, und die Feuerwehr, wenn ich dann drüber nachdenke, wer ist die Feuerwehr - sie besteht im Prinzip im Augenblick nur aus der Bundeskanzlerin. Ich habe auch den Eindruck, dass eben mancher in der Bundesregierung mehr tun könnte. Wenn ich an den Vizekanzler denke, der immer voller Stolz seine enge Beziehung ...
    Zagatta: Sigmar Gabriel von der SPD.
    Teltschik: Ja, Herr Gabriel von der SPD, der immer stolz verkündet hat, wie eng seine Beziehungen zu den französischen Sozialisten ist, dann sollte er sich auch nach Paris aufmachen, denn es kann dieses Problem wie in der Vergangenheit nur mit Frankreich gemeinsam gelöst werden.
    Zagatta: Aber die Richtlinien, Herr Teltschik, die gibt ja die Bundeskanzlerin vor, wenn die sehen würde oder das anerkennen würde, das läuft falsch mit Frankreich, müsste sie sich ja einschalten. Warum funktioniert das nicht? Sie haben vorhin gesagt, als es da Schwierigkeiten gab, da hat sich Helmut Kohl sofort mit Paris verständigt. Das war ja früher der Motor der europäischen Union, diese deutsch-französische Achse. Warum funktioniert die nicht? Wir haben noch nicht mal Frankreich auf unserer Seite.
    "Nur die Bundeskanzlerin versucht, Führung zu zeigen"
    Teltschik: Das ist wohl wahr, und einer der Gründe aus meiner Sicht ist, dass wir einen politisch sehr schwachen französischen Präsidenten als Partner haben, der schon mit seinen Problemen innerhalb Frankreichs kaum fertig wird, geschweige denn bereit ist, in Europa mit Führung zu übernehmen. Wir haben im Augenblick innerhalb der europäischen Union nur die Bundeskanzlerin, die versucht, Führung zu zeigen, indem sie an die Wurzeln der Probleme geht, nämlich die Verhandlungen und Gespräche mit der Türkei führt. Übrigens, das bleibt auch ein entscheidendes Ziel. Was ich nicht verstehe, dass 28 EU-Staaten nicht in der Lage sind, gemeinsam drei Milliarden Euro für die Türkei zur Unterstützung der dortigen Lage aufbringen kann.
    Zagatta: Sie sagen ja, es sind 28 EU-Staaten - vielleicht hat Deutschland ja recht, vielleicht hat die Bundeskanzlerin ja recht, aber wenn die EU demokratisch wäre, dann müsste sich die Minderheit - und das ist in diesem Fall die eindeutige Minderheit, ist ja Deutschland -, dann müsste die sich doch der ganz großen Mehrheit beugen. Ist das so falsch?
    "Es bleibt bei Deutschland hängen"
    Teltschik: Ja, aber die Europäische Union hat noch keine demokratischen Institutionen, die vergleichbar wie innerhalb der Bundesregierung oder der einzelnen Mitgliedsstaaten Entscheidungen treffen kann, die dann vom Parlament unterstützt werden oder ergänzt oder verändert werden. Das ist mehr oder weniger eine Gemeinschaft, wo die Regierungschefs zusammenkommen müssen und Entscheidungen treffen, und das hat in der Vergangenheit immer nur so gewirkt, dass die Großen innerhalb der Gemeinschaft, also vor allem Deutschland, Frankreich, die Führungsrolle übernommen haben. In der Regel war immer Spanien dabei, in der Regel war immer Italien dabei. Das sind heute auch Länder, die so viele eigene Konflikte haben, dass sie Europa schleifen lassen. Wir hatten automatisch die Benelux-Staaten hinter uns, das ist heute auch nicht mehr garantiert. Das heißt, es bleibt bei Deutschland hängen, aber Deutschland - und da würde ich mir wünschen, dass die Bundeskanzlerin Hollande wie im Falle der Ukraine, da hat es ja auch gewirkt, Hollande an der Hand nimmt und sagt, wir müssen das gemeinsam lösen, und da muss sie die Unterstützung von Gabriel, vom Vizekanzler haben, der seine engen parteipolitischen Beziehungen nach Paris hat, wir müssen alle...
    Zagatta: Und von Horst Seehofer.
    Teltschik: Horst Seehofer spielt da gegenüber Frankreich überhaupt keine Rolle. Damals hat Franz Josef Strauß gegenüber Frankreich keine Rolle gespielt. Diese Länderchefs, vor allem der bayrische Länderchef, Länderchef hat eine starke Rolle über den Bundesrat und als Parteipartner der CDU, aber er neigt immer dazu, seine Einflussmöglichkeiten zu überschätzen.
    Zagatta: Herr Teltschik, ich bedanke mich für das Gespräch, für Ihre Einschätzungen, wir hätten gerne deshalb ein bisschen länger zugehört heute Morgen. Horst Teltschik war das - lange Jahre Berater von Altbundeskanzler Helmut Kohl. Einen schönen Tag!
    Teltschik: Ebenfalls, danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.