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Hospiz- und Palliativgesetz
"Wir dürfen die Menschen nicht am Sterben hindern"

Aus Sicht des Sozialarbeiters und Buchautors Claus Fussek geht das Hospiz- und Palliativgesetz von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe nicht weit genug. Zum Ausbau der Palliativversorgung zusätzlich 200 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen, sei der Versuch, "mit einer Wasserpistole einen Waldbrand zu löschen", sagte Fussek im DLF.

Claus Fussek im Gespräch mit Dirk Müller | 05.11.2015
    Der Pflegekritiker Claus Fussek.
    Der Pflegekritiker Claus Fussek. (Imago / Horst Galuschka)
    Grundsätzlich seien die Pläne, die heute im Bundestag zur Abstimmung stehen, zwar eine Verbesserung, räumte Fussek ein. Es sei aber beschämend, dass in Deutschland schon seit Jahren darüber diskutiert werde und sich die Lage bis heute nicht entscheidend gebessert habe. "Wer die Situation in Pflegeheimen kennt, dem wird angst und bange." Die zusätzlichen 200 Millionen Euro, die Gesundheitsminister Gröhe für den Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung vorsehe, seien unzureichend. "Manchmal habe ich den Eindruck, man versucht hier, mit einer Wasserpistole einen Waldbrand zu löschen."
    Pflegekräfte seien regelmäßig traumatisiert, weil es ihnen angesichts ungenügender Personalausstattung nicht gelinge, sterbende Menschen angemessen zu betreuen. Die Menschen bräuchten die Sicherheit, dass sie am Ende ihres Lebens von gut geschultem Personal ohne Zeitdruck palliativ versorgt würden, betonte Fussek. "Wenn wir es aber - möglicherweise aus finanziellen Gründen - nicht schaffen wollen oder können, dass wir jedem Menschen garantieren, dass er am letzten Lebensabschnitt würdevoll und schmerzfrei begleitet wird, dann dürfen wir nicht gegen aktive Sterbehilfe sein." Deshalb sei die Diskussion "scheinheilig und zum Teil verlogen".

    Das vollständige Interview können sie hier lesen:
    Dirk Müller: Viele Mediziner und Experten sind sich sicher: Eine gute Versorgung Sterbenskranker könnte den Ruf nach Suizid oder auch aktiver Sterbehilfe nahezu überflüssig machen. Der Bundestag wird in wenigen Stunden grünes Licht wohl dafür geben, die Palliativmedizin und das Hospizwesen besser zu fördern und weiter zu stärken. Das geschieht nur einen Tag, bevor das Parlament auch über die Beihilfe zum Suizid entscheidet. So hoffen viele Abgeordnete darauf, dass mit einem dichteren Netz an Hospizdiensten und Palliativversorgung der Wunsch nach einem Freitod oder aktiver Sterbehilfe gar nicht erst aufkommt.
    Eine bessere Palliativversorgung für todkranke Menschen. 200 Millionen Euro vom Bund sind vorgesehen, wenn der Bundestag heute zustimmt, wovon alle ausgehen. - Am Telefon ist nun der Pflege- und Systemkritiker Claus Fussek. Guten Morgen!
    Claus Fussek: Guten Morgen.
    Müller: Herr Fussek, wird jetzt alles ein bisschen besser?
    Fussek: Na ja. Den Satz, den kenne ich jetzt: Der Weg in die richtige Richtung, es wird besser. Natürlich ist es jede kleine Verbesserung. Aber die Tatsache, dass wir das ja seit Jahren diskutieren, ist eigentlich beschämend. Und wer die Pflege- und Lebensrealität zum Beispiel in Pflegeheimen oder in den meisten Pflegeheimen kennt, dem wird Angst und Bange, und mit 200 Millionen Euro wird man... Manchmal habe ich den Eindruck, man versucht hier, mit einer Wasserpistole einen Waldbrand zu löschen.
    "Jeder wird mal betroffen sein"
    Müller: 200 Millionen Euro, sagen Sie, ist so gut wie nichts, ein Tropfen auf den heißen Stein. Was soll man sonst machen?
    Fussek: Na ja. Es ist ja die gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum man da so lange diskutiert. Alle, die heute zuhören, wissen, das: Jeder wird irgendwann mal betroffen sein. Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der im Alter oder bei Pflegebedürftigkeit sich vorstellen kann, irgendwo in einem Pflegeheim nachts allein, ohne Pflegekraft, die überfordert ist, vielleicht in einem Doppelzimmer, fixiert möglicherweise mit Schmerzen seinen Lebensabschnitt beenden zu wollen. Die Realität ist eine andere. Wir wissen, dass Menschen, wenn sie wissen oder wüssten, dass sie am Lebensende die Garantie hätten, von gut geschultem Personal nicht unter Zeitdruck in einer Lebensatmosphäre wie auf einer Palliativstation, wie in einem Hospiz am Ende sein zu dürfen, das würde die Sicherheit geben. Nur die hat kaum jemand.
    Müller: Hört sich an wie eine Mammut-, eine Herkulesaufgabe, die die Politik nicht bereit ist zu leisten.
    Fussek: Nicht nur die Politik, auch die Gesellschaft nicht. Wir verdrängen dieses Thema kollektiv. Es kann doch nicht wahr sein, dass wir immer noch nicht die Garantie haben, dass auch jeder Hausarzt palliative Kenntnisse hat. Es kann doch nicht sein, dass es in Deutschland, in einem der reichsten Länder der Welt, wie bei jeder Gelegenheit betont wird, es Pflegeheime gibt, die nicht Hospizkultur haben, dass man sterbende Menschen in ein Hospiz fahren muss oder gar in ein Krankenhaus fahren muss, weil man vor Ort in dem Heim, wo man eigentlich seinen Lebensabschnitt beenden wollte, dass da das Personal überfordert ist. Wir wissen: Eine Nachtwache für 60, 70, manchmal noch mehr Menschen, da brauche ich doch nicht über Sterbebegleitung reden. Das ist grauenhaft, und zwar auch für Pflegekräfte.
    Sterbehilfe ist eine "kollektive Verdrängung"
    Müller: Sie sagen, das ist ja insgesamt gesellschaftlich vom Konzept her nicht umstritten, aber keiner traut sich, das irgendwie nach vorne zu bringen, darüber zu reden. Woran liegt das denn, Herr Fussek?
    Fussek: Ich weiß es nicht. Es scheint immer wieder Satz einer kollektiven Verdrängung. Man beschäftigt sich mit dem Thema erst, wenn man selber betroffen ist. Und der Wahnsinn ist ja: Jeder weiß es ja. Jeder, der einen Angehörigen in einem Pflegeheim, in einem durchschnittlichen Pflegeheim besucht, oder der jemand im Krankenhaus besucht, kennt die Situation. Ich denke, dass wir da Angst haben müssen, darüber zu reden. Jeder Rettungssanitäter, jeder Notarzt weiß das. Ich werde jeden Tag von Pflegekräften kontaktiert. Die rufen mich an, die sind zum Teil verzweifelt, traumatisiert, weil sie etwas nicht geschafft haben, dass sie einem sterbenden Menschen die Hand halten dürfen, ein Gebet sprechen. Wir reden ja über Minimalstversorgung. Und ich denke mir immer, wir schimpfen über Sterbehilfe, über die Schweiz und empören uns hier scheinheilig. Aber die Chance wäre, dafür zu sorgen, dass es kein Pflegeheim mehr geben darf, wo nicht Hospizkultur, palliative Pflege garantiert wird. In jedem Pflegeheim wird gestorben. Auch heute Nacht sind wieder Menschen in deutschen Pflegeheimen einsam, würdelos gestorben und wir haben auch heute wieder Pflegekräfte erleben müssen, die wahrscheinlich völlig traumatisiert in der Früh sind, dass sie wieder ihre ureigenste Tätigkeit, nämlich Hilfe am letzten Lebensabschnitt, nicht leisten konnten, weil sie wieder allein und überfordert und überlastet waren. Aber das wissen wir seit Jahren.
    Müller: Das sagen Sie. Es wird ja bezweifelt, dass das alle wissen, was ein Hospiz leisten kann, was Palliativmedizin leisten kann. Schauen wir mal auf zwei, drei Zahlen. 75 Prozent nach einer jüngsten Umfrage der Menschen, 75 Prozent wollen zuhause sterben. Tatsächlich stirbt jeder Zweite im Krankenhaus, viele Krankenhäuser davon ohne Begleitung, wie Sie sie fordern. Nur 30 Prozent der Verstorbenen haben eine Palliativbehandlung bekommen und 90.000 Menschen nehmen die Leistungen im Jahr in Anspruch. Wenn Sie jetzt sagen, das ist alles noch nicht in den Köpfen und der politische Wille, der gesellschaftliche Wille ist nicht da. Wenn wir uns in kleinen Schritten nähern, 200 Millionen, 400 Millionen werden im Moment insgesamt jedenfalls an Förderung dafür ausgegeben, sind das Milliarden-Investitionen, die da auf uns zukommen?
    "Scheinheilige Diskussion"
    Fussek: Na ja, was heißt Milliarden? Das andere kostet ja auch Geld. Allein die Vorstellung, wer am Lebensende verdient. Einfach die Situation: Jemand ist im Pflegeheim, liegt im Sterben, das Personal ist überfordert, traut sich nichts zu, holt einen Notarzt, der Notarzt fährt ins Krankenhaus, unbegleitet häufig, man liegt dann auf der Notfallstation in Krankenhäusern. Wer in München lebt, der kann sich das einfach mal vorstellen, was das zum Teil bedeutet. Dann liegt der Mensch in einem Krankenhausbett, das kostet ja auch alles Geld. Ich denke, wir führen hier eine scheinheilige und zum Teil auch verlogene Diskussion. Oder wir sollten dann einfach sagen, wenn wir es möglicherweise aus finanziellen Gründen nicht schaffen, oder nicht schaffen wollen, oder nicht schaffen können, dass wir jedem Menschen garantieren, dass er im letzten Lebensabschnitt palliativ, würdevoll, schmerzfrei versorgt und begleitet wird, ja dann dürfen wir nicht gegen aktive Sterbehilfe sein. Und wenn wir zuschauen, dass immer weniger Menschen in der Pflege so arbeiten können, wie sie es gelernt haben, das heißt, wir haben hier einen gigantischen Personalmangel, das heißt, viele Pflegekräfte fehlen oder sind völlig überfordert, sprechen kaum Deutsch - das ist ja auch notwendig, um Sterbebegleitung durchzuführen, dass man das versteht -, ja dann dürfen wir die Menschen nicht am Sterben hindern.
    Müller: Herr Fussek, ist das für Sie denn ganz klare Sache, dieser Zusammenhang, den viele ja herstellen, andere wiederum bestreiten, der Zusammenhang, je mehr Palliativmedizin, je größer das Hospiznetz, desto weniger das Bedürfnis, in aktive Sterbehilfe zu gehen?
    Fussek: Ich glaube, das sagt der gesunde Menschenverstand. Das muss sich jeder ja selber fragen. Und das, was wir seit Jahren oder Jahrzehnten erleben, die Hilferufe von Pflegekräften oder auch von Angehörigen, wir haben traumatisierte Angehörige, die mir gesagt haben: Dass meine Mutter mit 80, mit 90 mal sterben musste, das ist ja klar. Aber doch nicht so!
    Umgekehrt haben wir ja gelungene Beispiele. Auf einer Palliativstation in einem Hospiz oder auf einer Palliativstation in einem Krankenhaus wird doch niemand nach aktiver Sterbehilfe verlangen. Das, denke ich, ist der Grundsatz. Das heißt, wir müssen ehrlicher diskutieren, wir müssen offener diskutieren, und jeder, der es wissen will, kann sich ja persönlich überzeugen. Das ist ja kein Szenario, was ich hier mache, sondern jeder weiß es. Die Pflegeheime, wo häufig grausam gestorben wird, gibt es ja in Deutschland. Umgekehrt kann ich sagen, es gibt die positiven Beispiele. Es gibt die Hospize. Es gibt auch Pflegeheime, die in gemeinsamer Verantwortung mit Ehrenamtlichen - - Ich kenne Pflegeheime, da werden sogar die Reinigungskräfte, der Hausmeister, der Koch palliativ geschult.
    Müller: Herr Fussek, da kommt die Musik. Die Nachrichten warten auf uns.
    Fussek: Ja. Wir müssen uns kümmern!
    Müller: Vielen Dank für das Gespräch. - Der Pflege- und Systemkritiker Claus Fussek bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk. Danke! Ihnen noch einen guten Tag.
    Fussek: Danke! Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.