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"Housing first"
Aus Obdachlosen werden Mieter

Wer auf der Straße lebt, schleppt oft einen ganzen Berg von Problemen mit sich herum. Der Weg zu einer eigenen Wohnung scheint weit und für viele unüberwindlich. Berlin erprobt dagegen jetzt ein neues Konzept: 80 Obdachlose bekommen ohne Vorbedingungen eine Wohnung vermittelt – und erst dann folgen Schritte, um die anderen Probleme zu lösen.

Von Sven Kästner | 13.12.2018
    Geffert sitzt an einem Tisch, Böwe steht daneben und spricht mit ihm
    Bildunterschrift: Sebastian Geffert, links, und Projektmitarbeiter Sebastian Böwe im Büro von "Housing First" (Deutschlandradio / Sven Kästner)
    "Schufa - so, da haben wir 'alt' hingeschrieben: Schufa alt."
    "Ich sag mal, letzte Wohnung ist elf Jahre her."
    Ein kleines Büro im Berliner Ortsteil Friedrichshain. Sebastian Geffert sitzt mit zwei Sozialarbeitern zusammen. Sie sollen ihm dabei helfen, eine Wohnung anzumieten, die erste eigene seit langer Zeit. Die jahrelange Obdachlosigkeit und seine Drogenabhängigkeit haben Spuren im Gesicht des 33-Jährigen hinterlassen.
    "Elf Jahre war ich jetzt auf der Straße. Also, zwischendurch war ich auch mal da, mal da. Wenn es dann wirklich kalt war draußen, durfte ich auch mal bei Kumpels schlafen."
    Geffert hat einen Platz im Modellprojekt "Housing First" bekommen, was grob übersetzt "Wohnung zuerst" bedeutet. Das Konzept kommt ursprünglich aus den USA und wird jetzt drei Jahre lang in Berlin getestet. Stefan Laurer leitet das Projekt im Auftrag der gemeinnützigen Organisation "Neue Chance" und der Berliner Stadtmission.
    Bedingungsloser Mietvertrag
    "'Housing First' stellt ganz am Anfang die eigene Wohnung bedingungslos mit einem eigenen, unbefristeten Mietvertrag zur Verfügung. Es vermittelt an entsprechende Vermieter. Und dann, ohne diesen Druck der Wohnungslosigkeit oder des Wohnungsmangels, beginnen wir Hilfen anzubieten."
    Die bisherigen Unterstützungskonzepte sind genau anders herum aufgebaut. Sie bringen Obdachlose zunächst in Übergangsheimen unter und verlangen von ihren Klienten konkrete Schritte in Richtung normales Leben. Das kann der Beginn einer Suchttherapie sein oder die Betreuung durch Streetworker. Erst wenn das geschafft ist, steht am Ende die Suche nach einer eigenen Wohnung. Sozialarbeiter Laurer hält das neue Konzept für besser.
    "Wir beginnen jetzt damit, das Hauptproblem - nämlich die Wohnungslosigkeit – erst Mal komplett zu beseitigen, indem wir eben die Wohnung vermitteln. Wenn man sich das jetzt so vorstellt: Ein Berg, den die Menschen überwinden müssten, um ihre Lebenssituation zu ordnen - dann ist mit der Beseitigung des Problems Wohnungslosigkeit die Hälfte dieses Berges schon mal abgetragen. Das heißt, man kann schon fast drüber schauen."
    Die Probleme halbieren sich
    Das soll den Betroffenen erleichtern, auch andere Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen – Drogensucht etwa, Alkoholprobleme oder Schulden. Sozialarbeiter unterstützen sie dabei, wieder selbstständig leben zu lernen. Die Obdachlosen selbst schließen direkt mit den Vermietern unbefristete Mietverträge. Passende Wohnungen dafür sucht Sebastian Böwe vom Projekt "Housing First".
    "Wir gehen an sämtliche große Wohnungsbaugesellschaften ran. Auch an die großen städtischen, auch an die großen privaten: Deutsche Wohnen und so weiter. Und es ist so, dass ich bis jetzt zwei Absagen bekommen habe. Die anderen sagen alle: Ja, kommen sie mal, erklären sie uns das mal."
    Zwölf Gesellschaften hat Böwe bisher angesprochen. Die Suche auf dem angespannten Berliner Wohnungsmarkt sei zwar schwer, aber nicht hoffnungslos, sagt er. Wenn die Betroffenen Anspruch auf Transferleistungen haben, übernehmen Jobcenter oder Sozialamt die Mietzahlungen. Kein Risiko also für die Vermieter.
    Im Wohnheim geht es nach "Schema F"
    In der Bahnhofsmission im ersten Stock des Berliner Hauptbahnhofes können sich Obdachlose aufwärmen. Hier hilft zuweilen auch André Hoek aus, der nach einem privaten Schicksalsschlag selbst anderthalb Jahre auf der Straße gelebt hat. Nach knapp einem Jahr im Übergangsheim hat er es wieder in eine eigene Wohnung geschafft. Die Heimkonzepte sieht er trotzdem kritisch.
    "Wenn es dann mal sozialarbeiterische Hilfe gibt, dann ist das nach Schema F - alle werden gleich behandelt. Aber jeder hat unterschiedliche Probleme. Und auf die wird überhaupt nicht Rücksicht genommen. Auch psychische Problemlagen. Da wird eben nur gesagt: Die Behördengänge, das erledigst Du jetzt, und dann ist Deine Welt wieder in Ordnung. Ist sie ja nicht."
    Hoek hat die Erfahrung gemacht, dass aus den Übergangsheimen nur sehr wenige Menschen zurück in ein geregeltes Leben finden. Deshalb gefällt ihm der Ansatz von "Housing First". Das Konzept vermeide Schwierigkeiten, die den meisten Obdachlosen bisher unüberwindbar erscheinen, sagt er.
    "Wenn man bei der Wohnungssuche sagt: Naja, ich bin ein ehemaliger Obdachloser. Ich muss das zugeben, weil es wird nach der Mietschuldenfreiheitsbescheinigung gefragt, die ich nicht habe. Muss ich mich also erklären. Vierzig bis fünfzig oder sechzig Bewerber auf eine Einraumwohnung, als Ex-Obdachloser stehen Sie ganz hinten dran."
    Die Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach von der Linkspartei fördert das Modellprojekt bis Ende 2019 zunächst mit gut 700.000 Euro. Sozial-Staatssekretär Alexander Fischer hat hohe Erwartungen:
    "Wir versprechen uns ganz viel davon, nämlich mittelfristig, dass wir die Unterbringungssituation von wohnungslosen Menschen ganz deutlich verbessern. Das ist schwierig, auch unter den Bedingungen des jetzigen Wohnungsmarktes, aber möglich. Das zeigen auch schon die ersten Erfahrungen."
    Günstiger als in der Notunterkunft
    37.000 Menschen leben zurzeit in Berliner Gemeinschaftsunterkünften. Die Schätzungen zur Obdachlosigkeit in der Hauptstadt schwanken zwischen 6.000 und 10.000 Menschen. Wer von der Straße kommt, für den dürfen die Ämter 20 Prozent höhere Mieten finanzieren als für andere Hartz-IV-Bezieher. Das hat der Senat in einer so genannten Ausführungsvorschrift, der "AV Wohnen" festgelegt.
    "Es ist immer noch billiger, einen Menschen in der Wohnung, die zwanzig Prozent über dem Richtwert der AV Wohnen liegt, unterzubringen, als in der Notunterkunft. Obdachlosigkeit ist für den Sozialstaat eines der teuersten Anliegen überhaupt. Die billigste Form der Unterbringung, das ist die Kältehilfe. Das ist ein Bett - ein Bett und ein Essen. Im Regelfall nicht im eigenen Zimmer. Kostet im Monat 500 Euro."
    Sebastian Geffert hat mittlerweile eine Drogentherapie begonnen. Jeden Tag fährt er dafür zum Arzt. Die Aussicht auf die eigenen vier Wände kann er noch gar nicht richtig fassen.
    "So wie ich gehört hab - ich kriege vor Weihnachten noch meine eigene Wohnung. Unbeschreiblich - was Tolles. Ist was Gutes, ich freu mich!"