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Jesidin schildert IS-Gefangenschaft
Drei Jahre Horror

3.000 Frauen und Mädchen sollen in der Gewalt des sogenannten IS sein: Sklavinnen, die unter den Mitgliedern der Terrormiliz verkauft und vielfach vergewaltigt werden. Eine junge Jesidin erzählt von ihrer Flucht und dem Horror ihrer Gefangenschaft.

Von Susanne El Khafif | 15.09.2017
    Eine jesidische Frau stützt in einem Flüchtlingscamp im Nordirak den Kopf auf die Hand
    Eine vor den Dschihadisten geflohene Jesidin in einem Flüchtlingscamp im Nordirak (AFP / Ahmad Al-Rubaye)
    Große Augen, dunkle Augen, die immer wieder dem Blick ausweichen, ein schmales Gesicht, umrahmt von einem braunen Schleier - auch die Gestalt schmal, fast jungenhaft. Das ist Sohayla, eine junge Jesidin aus dem Sinjar. Als sie zu erzählen beginnt, blickt sie auf, ihre Augen leuchten.
    "Es war wunderbar, als ich sie wiedersehen konnte, meine Schwester, meinen Bruder, deren Kinder - obwohl ich sie kaum wiedererkannte nach der langen Zeit - es war unglaublich schön!"
    Im Zelt unter der Plastikplane herrscht brütende Hitze. 48, fast 50 Grad. Wir sitzen auf dem Boden, barfuß, auf dünnen Matratzen, die entlang der Zeltwand liegen. Alles Familie, Frauen, Kinder, ein Onkel, der ihr Vormund ist, dann eine Psychologin, die Übersetzerin.
    Flucht im Chaos des hektischen Aufbruchs
    Sohayla erzählt, erzählt vom vergeblichen Fluchtversuch zwei Wochen zuvor, erzählt von der Freundin, die bei einem Luftangriff der Amerikaner ums Leben kam, zeigt die Narben an ihren Handgelenken, spricht vom Versuch, sich das Leben zu nehmen, nur um dieser Hölle zu entfliehen.
    Doch dann habe die irakische Armee Mosul belagert. Die IS-Familien seien ins syrische Raqqa aufgebrochen, sie mit im Tross, da habe sie sich unbemerkt davonstehlen können, im Chaos des hektischen Aufbruchs. Dann sei sie nur noch gerannt - bis sie die irakische Armee erreichte.
    "Abu Mariam war der erste, der mich vergewaltigt hat"
    Sohayla ist heute 16 Jahre alt. Damals, als der IS ihr Dorf überfiel und sie nach Mosul verschleppte, war sie gerade 13. Ein Kind. Ein Kind - das anfangs noch bei den Eltern hatte bleiben dürfen. Dann wurde es geholt. Sohayla war da gerade 14 Jahre alt.
    "Ein Mann aus Tell Afaa brachte mich zu Abu Mariam, einem der Kommandanten des IS. Abu Mariam war der erste, der mich vergewaltigt hat. Ich war noch unberührt - und sehr jung! Danach hatte ich Blutungen, viele Wochen lang."
    Die Psychologin rückt näher, legt einen Arm um Sohayla.
    "Dann kam ich zu Abu Tayba"
    Auch der Onkel versucht das junge Mädchen zu trösten.
    Vergewaltigungen an der Tagesordnung
    Sohayla wurde weitergereicht, von einem zum nächsten, so wie es die Terroristen auch mit anderen Jesidinnen taten, mit Hunderten, mit Tausenden. Sie verkauften sie einander, versteigerten sie auf Auktionen. Und das ganz offen.
    Das zeigt ein Video, zeigen Preislisten, die publik wurden. Darüber hinaus verfasste der IS ein Pamphlet mit 27 Tipps - über den "richtigen" Umgang mit Sklavinnen. Wie sie zu "halten" und zu bestrafen, wie und wann sie zu vergewaltigen seien. Tipps, die bis heute beherzigt werden. Noch immer sollen schätzungsweise 3000 Frauen und Mädchen in der Gewalt des IS sein.
    Trotz der quälenden Erinnerungen schafft es Sohayla, weiter zu erzählen, erzählt von Abu Shahaad, der ihr mehrfach am Tag Gewalt antat - vor seiner Frau und der Tochter - dass danach die Frau sie geschlagen und getreten habe - weil sie, Sohayla, angeblich den Ehemann verführt habe. Dann habe sie zu Bashir gemusst.
    "Sie alle sagten, ich sei eine 'Ungläubige'. Und dass der Koran es vorschriebe, so mit 'Ungläubigen' zu verfahren; dass das eine Weisung sei, direkt von Gott.
    Das Gefühl, ständig hungrig zu sein
    "Ich hasse sie!" - sagt sie, "mehr als zuvor! Endlich kann ich zeigen, was ich fühle."
    Ob sie deshalb alle Muslime hasst?
    "Nein, nur die Männer von Daash!" - Die Männer vom IS.
    Khaled Ta'luu al-Qa'idi, der Onkel, zeigt ein Photo vom Tag ihrer Rückkehr. Es zeigt ein blasses Mädchen in zerschlissenem Gewand, der Blick verstört, hager und unterernährt.
    Sohayla nickt, erzählt, dass sie anfangs kaum etwas zu essen bekam - nur Mehl, aufgelöst in Wasser. Bis heute habe sie das Gefühl, ständig hungrig zu sein - der Hunger lasse sie einfach nicht mehr los.
    Von jeder Schuld freigesprochen
    Die jesidische Gemeinschaft ist wie andere in der Region traditionell und konservativ, hält den Begriff der weiblichen "Ehre" hoch. Doch sie hat ihre Frauen und Mädchen wieder aufgenommen. Denn Baba Sheich, das spirituelle Oberhaupt der Jesiden, hat sie von jeder Schuld freigesprochen. Auch Sohayla konnte zurückkehren. Die Zuneigung, die sie erfährt, ist deutlich zu spüren. Doch wie wird es weitergehen?
    Der Onkel wäre froh, wenn Sohayla ins Ausland ginge, nach Australien, nach Deutschland. Um geheilt zu werden, sagt er, weit weg von allem, ein Neubeginn.
    "Wir sind Flüchtlinge, es gibt kein Therapie-Zentrum, nur dieses Zelt. Wie soll eine Heilung da möglich sein?"
    Sohayla wirkt verunsichert, will den Halt, den sie gerade erst gefunden hat, nicht mehr aufgeben. Sie wolle in die Schule zurück, sagt sie leise, und zu ihrer Mutter. Doch die ist verschollen, in Gefangenschaft, vielleicht nicht mehr am Leben.