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Huckleberry Finn

Abenteuer von Huckleberry Finn Aus dem Amerikanischen von Friedhelm Rathjen Haffmans Verlag, 504 Seiten Preis: 49 Mark

Denis Scheck | 01.01.1980
    Die Abenteuer des Huckleberry Finn Aus dem Amerikanischen von Wolf Harranth Cecilie Dressler Verlag, 461 Seiten Preis: 12,80 Mark

    Das Mit diesem Buch beginnt die amerikanische Literatur. Und was hat es nicht alles erdulden müssen. Es wurde geschändet, mißhandelt und verstümmelt. Generationen von selbsternannten Jugendschützern und Tugendwächtern haben es nach Gutdünken gekürzt oder verlängert, umgeschrieben und bearbeitet, ganze Kapitel vertauscht, weggelassen oder hinzugefügt. Die Geschichte von Mark Twains "Huckleberry Finn" im deutschen Sprachraum gleicht der von Cervantes' "Don Quichote", Swifts "Gulliver's Travels", oder Carlo Collodis "Pinocchio". Kurz: die Geschichte dieses Romans ist eine Tragödie.

    Dabei herrscht über den literarischen Rang der Mississippi-Saga seit gut 50 Jahren Einigkeit - jedenfalls unter Autoren. T.S. Eliot pries Twain als stilistischen Neuerer, dessen noch nie dagewesene Ausdrucksformen auch für andere Schriftsteller Gültigkeit besäßen. Ernest Hemingway sah in "Huckleberry Finn" gar die literarische Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten:

    "Die gesamte moderne amerikanische Literatur stammt von einem Buch von Mark Twain ab, das "Huckleberry Finn" heißt. ... Vorher gab's nichts. Danach hat es nichts gleich Gutes gegeben."

    Doch schon Hemingway versah seine Empfehlung mit einer gewichtigen Einschränkung. "Wenn Sie's lesen, müssen Sie da aufhören, wo man dem Jungen den Nigger Jim fortholt. Das ist der wirkliche Schluß. Das übrige ist einfach Schwindel."

    Daß mit diesem Buch etwas nicht stimmt, daß seine Konstruktion Brüche aufweist, daß der Ich-Erzähler Huck Finn sich zusehends von seinem Autor emanzipiert und am Ende mit aller Gewalt in das Klischee vom Anfang eingeschnürt werden muß: es ist Mark Twain selbst nicht verborgen geblieben. Nur vermochte Twain, der einmal Geschriebenes nur ungern revidierte, sich nicht dazu durchzuringen, dem Buch eine einheitliche Form zu verleihen.

    Die Exposition war an allem schuld. Huckleberry Finn läuft weg von seinem trunksüchtigen Vater und einer Gesellschaft, die ihn "ziehwillisiern" will. Der Negersklave Jim flüchtet, weil er allen Grund zu der Befürchtung hat, von seiner Besitzerin auf eine Plantage nach New Orleans verkauft zu werden. Von dem Moment an, als Huck und Jim sich im achten Kapitel zusammentun, hatte sich die Fortsetzung des letztlich harmlosen Jungenbuchs "Tom Sawyer" Mark Twain unter der Feder zu etwas ganz anderem verwandelt. Aus "Huckleberry Finn" wurde die Chronik einer Flucht zweier Menschen aus den Zwängen ihrer Zeit, eine durch und durch pessimistische Abrechnung mit den Lügen, Konventionen und Selbstgerechtigkeiten einer Sklavenhalter-Gesellschaft, eine in ihrer skrupulösen Genauigkeit grandiose Schilderung des Lebens und Treibens am "monstrous big river" Mississippi.

    Doch all diese Stärken reichen nicht hin, die eklatanten Konstruktionsmängel dieses Romans auszugleichen. Die Ausnahmestellung, die "Huckleberry Finn" bis heute in der amerikanischen Literatur einnimmt, muß andere Gründe haben. Ein erster Hinweis darauf findet sich schon in der kuriosen "Erklärung", die Mark Twain seinem Werk mit auf den Weg gibt.

    "In this book a number of dialects are used, to wit: the Missouri Negro dialect; the extremest form of the backwoods South-Western dialect; the ordinary 'Pike-County' dialect; and four modified varieties of this last."

    Nach dieser Aufzählung beeilt Twain sich zu versichern, die Schattierungen zwischen diesen Sprachebenen nicht auf gut Glück vorgenommen zu haben, sondern mit größtem Bedacht, angeleitet durch seine persönliche Vertrautheit mit allen diesen Redeweisen.

    Die Aufgabe für den Übersetzer von "Huckleberry Finn" ist also klar beschrieben: dem Stimmenimitator Mark Twain so gut es geht auf deutsch zu folgen. Gerecht werden konnte ihr bislang gleichwohl niemand. Seit Henny Kochs erstem Versuch 1890 gab es mehr als 30 Eindeutschungsversuche dieses Romans, und keiner hat sich durchgesetzt. Die allermeisten bewahrten das bloße Handlungsgerüst, ignorierten Hucks höchst eigenartiges Erzählidiom mehr oder weniger und beschränkten sich darauf, den Negersklaven Jim radebrechen zu lassen.

    Auch die zahllosen deutschen Übersetzer und Bearbeiter, die Mark Twains Roman über die Jahre gefunden hat, merkten recht schnell, daß "Huckleberry Finn" kein Jugendbuch war. Fast ausnahmslos entschieden sie sich, den Roman zu entschärfen. Weggelassen oder verkürzt wurden just jene Elemente, die für den heutigen Rang "Huckleberry Finns" in der amerikanischen Literatur verantwortlich sind. Mal fiel so das heikle Problem der Fluchthilfe weg, die Huck Finn dem entlaufenen Negersklaven Jim gewährt, mal die ätzende Gesellschaftssatire in den Schilderungen der Dörfer und Städtchen am großen Strom, mal Mark Twains bitterböse Komik. Diese Komik ist nicht frei von Grausamkeit. Ein gutes Beispiel liefert die berühmte Szene, in der sich Tante Sally von einem Schiffsunglück erzählen läßt. Von Huck Finn erfährt sie, daß dabei ein Schwarzer zu Tode gekomment ist.

    "We blowed out a cylinder-head." "Good gracious! anybody hurt?" "No'm. Killed a nigger." "Well, it's lucky; because sometimes people do get hurt."

    "Adventures of Huckleberry Finn" erschien Ende 1884 zunächst in England und Kanada, 1885 dann in den USA. Bereits fünf Jahre später ließen sich die "Abenteuer und Fahrten des Huckleberry Finn" erstmals auf Deutsch in der Übersetzung von Henny Koch nachlesen - allein diese Version brachte es über die Jahrzehnte auf eine Millionenauflage. Von Hohn und Spott, Gift und Galle, mit denen Mark Twain seine Landsleute beschrieb, blieb in der Fassung von Henny Koch wie in den späteren freilch kaum etwas übrig. Heraus kam statt dessen ein amerikanischer Ludwig Thoma, Mark Twain als Autor einer harmlosen Lausbubengeschichte.

    Friedhelm Rathjen hat nun eine Neuübersetzung vorgelegt und mit einem ausführlichen Kommentar versehen. In seiner Version liest sich der vom typischen Humor Twains geprägte Wortwechsel so:

    "Uns ist 'n Zylinderkopf geplatzt." "Herr im Himmel! Irnwer verletzt?" "Nee, M'm. 'n Nigger tot." "Na, was 'n Glück; denn manchmal werden da Leute bei verletzt."

    Vor zwei Jahren bereits erschien im Cecilie Dressler Verlag "Die Abenteuer des Huckleberry Finn" in der Übersetzung von Wolf Harranth - an dieser Fassung muß sich die Rathjensche messen lassen. Denn schon Wolf Harranth vermied die meisten Fallstricke, über die seine Vorgänger stolperten, und brachte die überraschend ruppige Sprache Twains in ein ebenso ruppiges Deutsch.

    Der Vergleich zwischen Harranths und Rathjens Huck Finn geht mit zwei Siegern aus. Beide Übersetzer verstehen es, dem Ich-Erzähler Huck Finn ein von der Schriftsprache weit genug entferntes Idiom zu verleihen, um den Charme des Originals zu bewahren, ohne in allzu bedrohliche Nähe zu einem eindeutigen Dialekt zu gerten.

    Friedhelm Rathjen hält sich sehr getreu an Mark Twains Interpunktion, bewahrt die Einteilung der Absätze ebenso wie die zahlreichen Strichpunkte selbst im Dialog und erweist generell dem Original bis in die Wahl der Metaphern meist größere Treue als Wolf Harranth. Dieser wiederum nutzt seinen erweiterten Spielraum zu oft überzeugenderen Lösungen und geht bei der Wahl der Sprachschichten, aus denen er sich bei der Nachbildung der Twainschen Regionalismen bedient, vorsichtiger zu Werke als Rathjen. Dem gegenüber stehen bei Rathjen stark von der heutigen Jugendsprache inspirierte Lösungen wie "total pleite" für "dead broke", "stinkig sein" für "to fret" oder "Schiß haben" für "afeard". Im Nachwort rechtfertigt Rahthjen dies mit seinem Bestreben, "zwar einerseits durchaus ein Gefühl dafür zu vermitteln, wann und wo sich das Geschehen abspielt, andererseits aber auch zu zeigen, daß Umgangssprache und Slang immer Sprache in Bewegung sind und als solche durchaus Vorreiter von Modernität."

    Hier macht Friedhelm Rathjen aus der Not eine Tugend. Kein heutiger Übersetzer könnte, selbst wenn er es darauf anlegte, tatsächlich eine deutsche Umgangssprache des Jahres 1884 nachbilden. Die Frage ist also nur, bis zu welchem Grade man aktuelle Entwicklungen des Deutschen mitaufnimmt, und Friedhelm Rathjen hat sich aus guten Gründen dafür entschieden, nicht "Authentizität, diesen Fetisch der Erstarrung" anzustreben, sondern sich für seine Übertragung auch aus den Sprachschichten der allerjüngsten Gegenwart zu bedienen.

    Der Jahrhundertroman "Huckleberry Finn" liegt also nach über hundert Jahren gleich in zwei befriedigenden Fassungen in jener Sprache vor, über deren Tücken Mark Twain einmal einen ganzen Aufsatz schrieb. Sein Titel "The Awful German Language."