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Hühnerparadies

Die rumänische Literatur der vergangenen 17 Jahre ist ein Spiegel der gesellschaftlichen Amnesie. Bis heute fehlt es an dem großen Roman über die Zeit der feudal- und national-kommunistischen Herrschaft der Stalinisten Georghiu-Dej und Nicolai Ceausescu. Spuren der vergangenen Welt lassen sich indes in den literarischen Werken nach der Revolution zahlreiche finden, nicht zuletzt deshalb, weil sie ja noch überall gegenwärtig waren - und bis heute sind.

Von Jan Koneffke | 18.02.2008
    Das trifft insbesondere auf den satirischen Roman von Dan Lungu mit dem Titel "Das Hühnerparadies" zu, der die Vergangenheit in den Geschichten, Erinnerungen und Ansichten seines Personals wiederbelebt. Da hocken sie, die Rentner einer moldauischen Vorstadtstraße in der Kneipe mit dem Spitznamen "Zum zerknautschten Traktor", diskutieren sich die Köpfe heiß, ob es damals nun besser oder schlechter war als heute und geraten sich so in die Haare, dass der Wirt ihnen jede Auseinandersetzung über Ceausescu untersagen muß.

    Der 1969 geborene, moldauische Autor Dan Lungu arbeitet als Soziologiedozent an der Universität Iasi. Spielte also auch soziologisches Interesse bei Entwurf und Niederschrift des Romans eine Rolle?

    "Jeder Autor nutzt nolens volens die Erfahrung, die ihm zur Verfügung steht - wie ich meine professionelle als Soziologe - aber der eigentliche Einsatz des Romans ist ein ästhetischer. Gleichzeitig widmet er sich den Formen, der Sprache, der Struktur der mündlichen Rede, nicht zuletzt der Mentalität, und ich glaube, dass diese Vorstadtstraße im Kleinen die rumänische Mentalität im Ganzen repräsentiert."

    In der Tat hat Lungu mit seiner Vorstadtstraße einen gesellschaftlichen Kosmos geschaffen, der, wie die berühmte Leibnische Monade, die rumänische Welt idealtypisch in sich vereint. In dieser Welt regieren bäuerliche Mentalität und kleinbürgerliches Bewußtsein. Von der urbanen Erfahrung ist sie umso weiter entfernt, als die beschriebene Vorstadt nicht einmal an eine moderne Stadt grenzt, die nämlich ihrerseits nur aus lauter "Hühnerparadiesen" besteht.

    Die eigentliche Tragik für die Bewohner dieser Malhala besteht darin, daß in ihr absolut nichts passiert. Die große Politik findet sowieso woanders statt, und die Menschen sind es gewohnt, dass sie nicht zu ihrem, sondern zum Wohl der politischen Klasse gemacht wird. Folglich schauen sie aus dem Fenster oder, ab fünf Uhr nachmittags, wenn die Telenovelas beginnen, auf den Fernsehschirm. Jedes noch so banale Ereignis lädt sich entsprechend mit Bedeutung auf. Da ist das geheimnisumwitterte Haus des Oberst, das nie ein Mensch betreten hat, oder der Garten Relu Covalciucs, der eines Tages von Regenwürmern überschwemmt wird. Das wäre für den Leser auf Dauer so belanglos, wie es das Leben für die Bewohner der Vorstadtstraße ist, wenn Dan Lungu nicht zwei Dinge zur Hilfe kämen: Seine Sympathie mit der armseligen Vorstadtwelt und die Freude der Rumänen an Geschichten.

    Nicht nur, dass es den Gerüchten in der Vorstadt so geht wie dem geflüsterten Wort beim Kinderspiel "Stille Post". In Ermangelung eines rationalen Diskurses treibt die Fabulierkunst der Menschen umso buntere Blüten.

    "Ich glaube, dass sich die Öffentlichkeit in Rumänien im Zustand der Rekonstruktion befindet. Wir hatten keine Öffentlichkeit bis zum Fall des Kommunismus. Es war eine kontrollierte Öffentlichkeit, es war die Öffentlichkeit des Egos von Ceausescu. Und dann, mit gerade mal zwei Stunden Fernsehen am Tag, liegt es auf der Hand, dass es viele Geschichten gibt. Damit du dich informieren kannst, damit du mit dem anderen kommunizieren kannst, bist du auf das Gerücht angewiesen."

    In den Kneipengesprächen der Männer geht es folglich nicht darum, ob eine Geschichte wahr oder erfunden ist. Es geht darum, ob sie gut erzählt wird. Und hier deckt sich das Interesse des Schriftstellers mit dem seines Personals. Mitus urkomische Erzählung über seinen angeblichen Besuch bei Ceausescu muss nicht zwangsläufig der Fantasietätigkeit des Autors entsprungen sein - er könnte auch nur der Chronist abgelauschter Geschichten sein. Das liegt an der erwähnten Sympathie Dan Lungus mit seinen Figuren. Der satirische Abstand dient nie denunziatorischen Zwecken. Er ist lediglich ein Mittel, um dem Stimmenwirrwarr, das aus dem "Zerknautschten Traktor" dringt, zum roten Faden zu verhelfen.

    " Ja, ich glaube, dass es sich um eine warmherzige Satire handelt, weil es im ganzen Roman ein Spiel der Distanz gibt, die manchmal größer, manchmal kleiner ist. Das liegt am Thema des Buches. Dort geht es um die Straße, in der ich aufgewachsen bin, deren Bewohner ich noch alle kenne. Gleichzeitig sehe ich ihre Defekte, die aus der kommunistischen Zeit stammen, ich erkenne die Spuren des Desasters, das der Kommunismus hinterlassen hat und bin versucht, es zu verurteilen, doch ebenso fühle ich mich mit jenen Menschen verbunden, die ich kenne, und kann nicht böswillig auf sie herabschauen."

    Lungus Buch bezieht seine Sprachkraft aus der Nähe zum Argot der Vorstadtbewohner. Die kommentieren die inzwischen vollen Geschäfte, in denen sie aus Geldmangel nichts kaufen können, mit den Worten: "Du glotzt in die überfüllten Regale, schluckst kräftig und gehst wieder nach Hause. Die Spucke-Produktion ist so gestiegen, dass man welche exportieren könnte." Herr Spataru hingegen, der in betrunkenem Zustand stets bereit ist, seine Frau zu schlagen, muss einsehen, dass seine Ohrfeigen keine Wirkung zeigen, weil seine Frau nicht einmal weiß, "wie viele Ohren sie hat." Mit der lebendigen Sprache, die Lungus Buch bereits lesenswert macht, verbinden sich wunderbare Beobachtungen, sei es kleiner Alltagsdetails, sei es der psychischen Verfassung der von der Geschichte ausgespuckten Menschen. Das Porträt Frau Covalciucs, die absolut nichts wegwerfen kann und ihre Hühner mit abgelaufenen Penicillintabletten füttert, ist so wahr und vergnüglich, wie es die Schilderungen der "Krankheitsvorbereitungen" bei Frau Socoliuc sind.

    Am Schluss des bei aller Lebendigkeit statischen Buchs - wie sollte es bei diesem Gegenstand auch anders sei - deutet sich dann aber doch eine Entwicklung an, der Ausgang aus dem Reich der Vorstadtfabel, denn es stellt sich heraus, dass die Unmengen von Regenwürmern im Garten Herrn Covalciucs infolge eines durch Reparaturmaßnahmen der staatlichen Elektrizitäts-gesellschaft ausgelösten Stromstoßes an die Oberfläche gekommen sind und sich keineswegs einem übersinnlichen Ereignis verdanken. Steht also das Romanende symbolisch für eine Gesellschaft, die nun doch beginnt, ihre engen Grenzen zu überschreiten und modern zu werden?

    "Ich habe nicht daran gedacht, doch ich glaube, dass es sich um eine treffende Interpretation handelt. Ja, ich glaube, dass das Ende so gelesen werden kann, als Rückkehr der Gesellschaft zu einem rationalen Projekt, nach ihrer exzessiven Politisierung, nach der Hysterie der Revolution, nach all den in alle Richtungen gehenden Gerüchten im Verlaufe der letzten zehn Jahre. Das Romanende kann wohl wirklich auf diese Weise entschlüsselt werden: Als Rückkehr zu einem rationalen Projekt."

    Dan Lungu: Das Hühnerparadies.
    Ein falscher Roman aus Gerüchten und Geheimnissen

    Aus dem Rumänischen von Aranca Munteanu
    Residenz Verlag Salzburg 2007
    207 Seiten