Freitag, 19. April 2024

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Humanitäre Lage im Jemen
"Es ist ein menschengemachtes Desaster"

Man müsse nicht nur die Verletzten in Folge der Bombardierungen behandeln, sondern auch versuchen, den Ausbruch der Cholera im Jemen zu begrenzen, sagte Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen im Dlf. Die ohnehin schon armen Menschen würden durch den anhaltenden Bürgerkrieg noch mehr in Mitleidenschaft gezogen.

Tankred Stöbe im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 02.09.2017
    Tankred Stöbe, Vorstandschef von Ärzte ohne Grenzen, vor dem Logo der Organisation
    Viele Jemeniten hätten einfach zu wenig Geld zum Überleben, sagte Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen. (picture-alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    Jürgen Zurheide: Wir schauen in den Jemen. Der Jemen gehört zu jenen Ländern, die immer wieder für Schlagzeilen sorgen. Es gibt einen verheerenden Bürgerkrieg, die Menschenrechtslage ist mehr als katastrophal und die Menschen insgesamt leiden. Es ist aber auch schwierig, Informationen aus dem Jemen zu bekommen. Insofern freuen wir uns, dass Tankred Stöbe jetzt am Telefon ist, ein deutscher Internist für Ärzte ohne Grenzen dort, und den erreichen wir in Sanaa. Zunächst einmal guten Tag, Herr Stöbe!
    Tankred Stöbe: Schönen guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Herr Stöbe, sagen Sie uns genau, wo Sie im Moment sind. In Sanaa, und Sie sind im Land umhergereist. Was haben Sie besuchen können, was haben Sie gesehen?
    Stöbe: Ja, ich bin jetzt in Sanaa, von hier aus machen wir Erkundungsfahrten in verschiedene Landesteile, um herauszufinden, ob es dort noch Gegenden gibt, wo Cholera nicht behandelt wird, wo Menschen weiterhin keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Zuvor war ich in einem Ort zwischen den Städten Ibb und Taizz im Süden, dort haben wir ein Cholerabehandlungszentrum und haben dort jeden Tag etwa 20 schwerkranke Cholerapatienten aufgenommen. Und das war sehr eindrucksvoll. Vielleicht eine kurze Geschichte, eine Mutter, die hochschwanger zu uns kam, mit dem Vollbild der Symptome, also eingefallene Augen, [Anmerkung der Redaktion: unverständliche Passage], kaum fassbaren Puls, und sie hatte dann frühzeitige Wehen und das Kind war so schwach, dass wir es lange beatmen mussten. Beide haben überlebt, glücklicherweise, Mutter und Kind konnten nach Hause entlassen werden, aber die Situation ist weiterhin angespannt.
    "Das Land ist abgeriegelt"
    Zurheide: Wie können Sie sich überhaupt bewegen in diesem Land? Ich habe es gesagt, der Bürgerkrieg überschattet eigentlich vieles. Ist es möglich oder wie groß sind die Gefahren?
    Stöbe: Ja, die Hindernisse sind zum einen die Unsicherheitslage, die immer eine lange Vorausplanung nötig macht. Man muss mit allen verschiedenen Behörden sich absprechen, dann sind die Straßen mit vielen Checkpoints, alle wenige Kilometer muss man sich ausweisen, das schränkt natürlich die Bewegungsfreiheit, auch die Bewegungsgeschwindigkeit ein. Das Land ist ja abgeriegelt, sowohl die Luftwege wie Häfen sind blockiert, das heißt, es kommt wenig rein ins Land, Visa werden kaum ausgestellt für humanitäre Hilfe. Also, es gibt schon an allen Fronten der Hilfe deutliche Beschränkungen. Trotzdem sind wir mit im Moment etwa 1.600 Mitarbeitern im Land tätig. Und die Herausforderungen sind einmal natürlich die Folgen des Bürgerkrieges, also die Schwerverletzten aus dem Krieg, aber dann natürlich im Moment auch die Cholerapatienten, und eine weitere Herausforderung sind die schwer mangelernährten Kinder. Das gibt ganz gut zu tun.
    Zurheide: Sie haben gesagt, 1.600 Menschen immerhin können helfen. Wie organisieren Sie denn die Hilfsmittel, die Sie brauchen? Kommen die dahin, wo sie gebraucht werden? Cholera ist ja nur eines der Probleme, eine der Problemlagen.
    Stöbe: Ja, wir schaffen es immer wieder, über die Seewege dann humanitäre Hilfsmittel ins Land zu bringen. Das Problem ist eher für die Menschen, die oft dann in entlegenen Gebieten leben und es nicht rechtzeitig in die Kliniken schaffen. Die Menschen, die an Cholera versterben, kommen eben nicht rechtzeitig, weil sie denken, das ist eine normale Durchfallerkrankung, und nicht den Schweregrad einschätzen. Und diejenigen, die es zur Klinik schaffen, die überleben meistens. Wir hatten bei meinem letzten Tag in diesem Cholerazentrum allerdings eine junge Frau, die schon beim Eintreffen tot war, die den Symptomen erlegen ist. Also, das ist eben weiter wichtig, dass nicht nur die individuelle Krankenversorgung klappt, sondern eben auch die Aktivitäten zur Eindämmung der Cholera, das heißt Gesundheitserziehung, Hygieneverbesserung, Menschen müssen Zugang zu sauberem Wasser haben. Und natürlich, und das ist ein weiteres Problem, die Menschen haben oft fast ein Jahr lang keine Gehälter mehr bekommen und sie können sich die Lebensmittel, die eigentlich verfügbar sind, nicht mehr kaufen, weil sie keine Kaufkraft mehr haben. Und deshalb ist es eben ganz wichtig, dass die Gehälter wieder ausgezahlt werden, auch für unsere medizinischen Mitarbeiter, damit sie bezahlt werden können.
    "Die Menschen brauchen Zugang zu sauberem Wasser"
    Zurheide: Was fehlt denn ganz besonders? Sie haben jetzt da natürlich die Probleme angesprochen, die eher sozusagen im Land selbst herrschen. Was könnte von außen getan werden und wie könnte man Sie unterstützen?
    Stöbe: Natürlich ist es ein politisches, ein menschengemachtes Desaster. Es müsste der Bürgerkrieg aufhören, das ist natürlich das große Problem im Jemen. Und Sie hatten es eingangs gesagt, es gibt natürlich … Das Land ist abgeriegelt, auch Journalisten kommen ins Land nicht hinein, es wird also von den Tragödien dieses Landes kaum berichtet. Es ist wichtig, dass natürlich mehr Hilfe ins Land kommen kann, aber natürlich muss auch … Die Hygiene muss verbessert werden, die Menschen brauchen Zugang zu sauberem Wasser, sie müssen leichteren Zugang zu medizinischen Einrichtungen bekommen. Es ist immer wieder auch, dass diese armen Menschen sich dann die Behandlung nicht leisten können. Also, das ist eine weitere Forderung, die wir haben, dass die Menschen eben eine kostenfreie Gesundheitsversorgung haben in einem Land, wo sie einfach zu wenig Geld zum Überleben haben und dann oft das nicht aufbringen können, um eine lebensnotwendige medizinische Behandlung bezahlen zu können.
    Zurheide: Wie ist denn aus Ihrer Sicht die Kooperation mit der, nennen wir es: Regierung, oder mit den unterschiedlichen Gruppen, die jeweils die Macht in den unterschiedlichen Bezirken haben?
    Stöbe: Insgesamt ist es möglich, aber es ist eben immer sehr zeitaufwändig. Für jede Bewegung, für jede … Jetzt, was wir hier von Sanaa aus machen, diese Erkundungsfahrten in die verschiedenen Landesteile, das muss immer lange vorhergeplant werden. Behinderungen im Personal oder auch in der Streckenführung sind fast nicht möglich. Das ist ein hoher logistischer, ein hoher administrativer Aufwand, den wir jedes Mal leisten müssen. Da wünschen wir uns natürlich, dass das flexibler ist. Ja, da werden uns sehr viele Hindernisse in den Weg gelegt, auch dass wir eben nicht so viele Mitarbeiter ins Land bringen können, wie wir gerne wollen, weil die Visa deutlich beschränkt sind. Das sind alles große, große Hürden, die wir überwinden müssen. Aber wenn es dann gelingt zu arbeiten in den Krankenhäusern, dann können wir sehr viel machen. Das ist die gute Nachricht. Die Krankenhäuser, in denen wir arbeiten, die Cholerabehandlungszentren, die funktionieren ganz gut, aber wir dürfen eben nicht nachlassen, jetzt wo die Cholerazahlen etwas zurückgehen, nicht nachlassen. Solange Cholera in diesem Land noch so existent ist, ist es eben auch immer eine Gefahr, dass sie sich immer noch mal stärker ausbreitet.
    Politische Akteure müssen eine Lösung finden
    Zurheide: Gibt es aus Ihrer Sicht irgendeine mögliche politische Unterstützung von außerhalb, von Deutschland, von der Europäischen Union oder von wem auch immer? Was könnten Sie sich da vorstellen und wünschen?
    Stöbe: Natürlich ist dieser Konflikt ein interner, der längst internationale Dimensionen angenommen hat. Und die Bombardierung, die immer wieder durch die Koalition, die von Saudi-Arabien angeführt wird, die hier viele Zivilisten treffen, das ist natürlich unerträglich und das muss aufhören. Die Weltgemeinschaft muss diesen Krieg aufhören und ihn nicht weiter unterstützen und endlich dafür sorgen, dass die Menschen, die sowieso zu den Ärmsten der Welt zählen, ein normales Leben wieder aufnehmen können, dass sie ihre Gehälter bekommen, dass sie ihre Familien ernähren können, dass die Kinder zur Schule gehen können, dass sie nicht mangelernährt sind. Da gibt es ganz viel. Aber natürlich ist das einer der Konflikte, die – Sie hatten es eingangs gesagt – der Welt verschwiegen bleiben, und da wünschen wir uns mehr Aufmerksamkeit. Und natürlich, die politischen Akteure sind aufgerufen, hier eine Lösung zu finden.
    Zurheide: Genau deshalb haben wir heute Morgen mit Ihnen gesprochen, Tankred Stöbe war das von Ärzte ohne Grenzen. Ich bedanke mich ganz herzlich für diese Informationen, und Ihnen alles Gute bei Ihrer weiteren Arbeit. Herzlichen Dank!
    Stöbe: Vielen Dank, Herr Zurheide!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. DLFKultur/Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.