Freitag, 19. April 2024

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Humorlos und bigott

Mädchen, die bei Amputationen helfen, die Männer erschießen oder ihnen den Kopf abschlagen: das ist die Welt, mit der die Schriftstellerin Celia Rees den gängigen Blutorgien der Medienindustrie Paroli bieten will. Schon nach wenigen Seiten ist ihre Piratengeschichte auf dem Niveau eines Splatter-Movies angekommen, und wer sich darüber entsetzt, hat wohl noch nicht begriffen, dass Kinder- und Jugendbücher heutzutage offenbar mit allen Hässlichkeiten des Kinos konkurrieren sollen. Und dann beginnt die ganze leidige Gewalt-Diskussion – bloß in literarisch verfeinerter Weise: Das Lesen eines Buchs sei ja schon an sich ein kulturell höherwertiger Akt als bloßer Bilderkonsum, sagen manche gleichsam zur Entschuldigung solcher Lektüre. Andere finden den forcierten Realismus der Autorin geschichtlich instruktiv. Doch all diese aufgesetzten Rechtfertigungen gehen vollkommen vorbei am Verständnis- und Einfühlungshorizont junger Leserinnen, die gerade Zeuginnen werden, wie die gerade 16-jährige Nancy Kington den Plantagenaufseher Duke abknallt, um ihre Freundin Minerva vor einer Vergewaltigung zu retten.

Katja Lückert | 14.02.2004
    Noch nie in meinem Leben hatte ich soviel Blut gesehen, und ich versuchte, den Blick von der über und über bespritzten Wand abzuwenden. Dicke, bittere Rauchschwaden hingen in der Luft, und der Schuss klang noch in meinen Ohren nach, während ich Minerva ansah, fassungslos über das, was ich getan hatte.
    "Das wollte ich nicht..." , begann ich, während wir einander über Dukes Überreste hinweg anstarrten. "So etwas könnte ich gar nicht..."Aber ich hatte es doch gewollt. Und ich hatte es einfach getan. Einen Mann getötet.

    Doch noch bevor das Blut getrocknet ist, erholen sich die Mädchen von dem Schrecken und beschließen, Dukes Leiche den Krokodilen zum Fraß vorzuwerfen. Nach dieser Initiation sind die zivilisatorischen Dämme gebrochen und die Weichen für die beiden Mädchen gestellt – von nun an werden alle Konflikte mit Waffengewalt gelöst. Dass dies immer im Tonfall eines sanften Bedauerns erzählt wird, gehört zu besonders bigotten Tricks der Autorin: so kann sie sich stets hinter dem pädagogischen Paravent verstecken und behaupten, dass sie keine Gewaltverherrlichung betreibe.

    Doch welche Bestialität sich unter diesem Deckmantel Bahn bricht, zeigen Szenen wie diese:

    Ich hatte schon öfters Männer am Galgen gesehen. (...) Aber dies hier war anders. Der Mann in diesem Käfig war noch am Leben. Die Vögel hatten ihm die Augen ausgepickt. Mit ihren Schnäbeln hatten sie ihm unerbittlich die Haut im Gesicht und an den Schultern bis auf die Knochen aufgeschlitzt. Das Blut tropfte ihm wie Tränen über die zerschundenen Wangen und fiel in schwarzen Lachen auf den staubigen Boden. Ich bedeckte meine Nase, denn der Gestank war fürchterlich, als ob der Körper des Mannes bereits in einem Zustand der Verwesung übergegangen wäre, und ein Zucken brachte den eisernen Käfig an seiner Kette zum schwanken, wodurch eine schwarze Wolke aus wütend summenden Fliegen aufgeschreckt wurde. Seine Hand bewegte sich. Seine Lippen zuckten, als ob er etwas sagen wollte.

    Die Bilder von zerstückelten Leichen, von Gefangenen, denen bei lebendigen Leib die Augen ausgestochen werden oder von einem frisch abgeschlagenen Kopf, den Minerva und Nancy als Trophäe auf das Deck eines Piratenschiffs schleifen, haben gewiss Unterhaltungswert. Doch zur Illustration der rauen Seefahrerwelt im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts hätten ein paar weniger Leichenteile durchaus genügt. Dann aber wäre die ungeheure Humorlosigkeit, die dieses ganze Buch durchzieht, noch quälender hervorgetreten – ein gerade im Bereich der Jugendliteratur unverzeihlicher Makel.

    Todernst erzählt Nancy ihre Geschichte: Sie wächst als Kind einer recht wohlhabenden Familie in Bristol auf, ihr Vater besitzt eine Handelsflotte und eine Zuckerrohrplantage auf Jamaika. Eines Tages zerstört ein Sturm einen großen Teil der Schiffe, Nancys Vater geht darüber vor Gram zu Grunde und noch auf dem Totenbett nimmt er seiner Tochter das Versprechen ab, auch ihren Teil zur materiellen Sicherung der Familie zu tun. Sie soll – wie sie erst später begreift – eine gute Partie machen und den steinreichen und skrupellosen brasilianischen Seefahrer Bartolome heiraten. Doch Nancy spielt nicht die ihr zugedachte weibliche Rolle, im Gegenteil: in Fountainhead, ihrem Landgut auf Jamaika, freundet sie sich zunächst mit ihrer Sklavin Minerva an, flieht dann später mit ihr und schließt sich – in männlicher Verkleidung – einer Gruppe von Piraten an.

    Die Mädchen müssen ihren Mut beweisen; zusammen mit den Männern entern sie Schiffe, machen Beute und metzeln, wenn nötig, auch die Besatzung nieder. Unterdessen wird Nancy von Bartolome verfolgt – unter anderem durch das mystische Mittel einer Halskette, die er ihr geschenkt hat:

    Ich hatte eine tiefe abergläubische Angst davor entwickelt; allein das Gefühl der Kette auf meiner Haut, jagte mir kalte Schauer über den Rücken. Der mittlere Stein war größer als die anderen. Rund und blank poliert, in der Mitte ein wenig runder, wirkte er wie ein gewaltiges rotes Auge. Ich wusste, dass es Unsinn war, aber ich begann mir vorzustellen, der Brasilianer könne mich sehen, wenn ich sie um den Hals trug, und so weigerte ich mich.
    Die Geschichte nimmt mit einer deprimierenden Absehbarkeit ihren Lauf: Natürlich muss Bartolome auftauchen und natürlich wird er kurzerhand geköpft, natürlich heiratet Minerva ihren geliebten Vincent, und natürlich erzählt Nancy das alles, um ein aufrichtiges Zeugnis von einer aufregenden Epoche abzulegen. Aber nicht nur. Ganz zum Schluss wird sogar angedeutet, dass sich der große Daniel Defoe von Nancys Story irgendwie habe inspirieren lassen. Das soll wohl ein literargeschichtliches Augenzwinkern sein, zeigt aber nur die Vermessenheit der Autorin Celia Rees, die beileibe keinen Robinson Crusoe geschaffen hat, sondern eine herzlos zusammengebraute Retorten-Mischung aus Kill Bill, Baise-moi und Lara Croft.

    Celia Rees
    Piraten!
    Bloomsbury, 383 S., EUR 14,90