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Hundert Gedichte

Im Sommer 1987, drei Monate bevor Joseph Brodsky den Nobelpreis erhielt, war es ein paar Hamburger Literaturenthusiasten gelungen, den Dichter in ihre Stadt zu locken. Er kam direkt aus der Mailänder Klinik, in der sein krankes Herz behandelt wurde - und ließ sich noch im Auto vom Flughafen die erste, von den Ärzten verbotene, Zigarette geben.

Von Brigitte van Kann | 01.06.2006
    Hamburg mit seinem vielen Wasser gefiel dem Dichter ausnehmend gut, es erinnerte ihn, wie er sagte, an seine Heimatstadt Leningrad. Zur Überraschung aller zitierte er - in deutscher Sprache - ein paar Odenzeilen an Klopstocks Grab auf dem Friedhof der Christianskirche in Altona.

    Gutgemeinte Vorstellungen vom Ablauf seiner Lesung fegte der Gast knapp und bestimmt beiseite: No melodrama, sagte er, als jemand vorschlug, das Protokoll der Gerichtsverhandlung zu verlesen, die zu seiner Verbannung 1964 führte. Auch die Idee, er möge seine "Große Elegie an John Donne" vortragen, gefiel ihm nicht: such a beard! Ein alter Zopf, ein langer überdies, wenn wir den Dichter richtig verstanden haben. "Gegen die Übermacht der Biographie und der romantischen Legende (der einsam verbannte Dichter als Widerpart des staatlichen Kolosses) setzte Brodsky immer wieder dezidiert die Dynamik seines Werks, die Eigenwelt von Sprache und Schrift, die Autonomie der Poesie." - Was Herausgeber Ralph Dutli in seinem eleganten, erhellenden Nachwort zu den "Hundert Gedichten" von Joseph Brodsky schreibt, liest sich wie ein später Kommentar zu jener kleinen Szene.

    Brodskys Auftritt in Hamburg ist im übrigen als denkwürdige Veranstaltung in Erinnerung geblieben – wegen seines verstörenden, geradezu oratorischen Vortrags und wegen einiger russischer Dichterfans, die lautstark gegen die Lesung der deutschen Übersetzungen opponierten. Es war wohl eher alkoholgestärkter Nationalstolz als das Bewusstsein vom Prekären einer jeden Gedichtübersetzung, was die Pöbler damals auf die Stühle steigen ließ.

    1996 ist Joseph Brodsky, erst 55 Jahre alt, in seiner Wahlheimat New York an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben. Dreiviertel der hundert Texte, die der Hanser Verlag nun zu seinem 10. Todestag vorlegt, hat Herausgeber Ralph Dutli selbst übersetzt, darunter etliche Gedichte, die zum ersten Mal in deutscher Sprache erscheinen. Das übrige Viertel stammt aus den Brodsky-Bänden der letzten Jahrzehnte und ist Übersetzern wie Birgit Veit, Sylvia List und Felix Philipp Ingold zu verdanken. Aus dem Englischen übertragen hat der deutsche Dichter Raoul Schrott sechs Gedichte, von denen keine russische Fassung existiert. Dass Brodsky in der Sprache seines Exils nicht nur Essays, sondern auch poetische Werke geschrieben hat, dürfte für viele Leser neu sein. Das ganze Hundert – die magische Zahl – ist vom Herausgeber in behutsame Chronologie gebracht. Dutli weiß um das Subjektive seiner Auswahl, dem Anspruch, die Entwicklung des Dichters von seinen frühesten bis zu seinen letzten Arbeiten zu zeigen, wird er dennoch gerecht.

    Eindrucksvoll ist der Bogen geschlagen von Brodskys Gedicht über den "Judenfriedhof bei Leningrad", das er als 18jähriger schrieb und das den Band eröffnet, zu der in englischer Sprache 1995/96 geschriebenen philosophischen Betrachtung "An der Müllkippe der Stadt Nantucket", die ihn beschließt. Der Tod, das "Gesetz, das die Materie zerfällt", beschäftigte bereits den Jüngling auf der Suche nach seinen jüdischen Wurzeln und ließ den 55jährigen Dichter wenige Wochen vor seinem Tod eindringliche Bilder von Vergeblichkeit und Vergänglichkeit im Angesicht einer gleichgültigen Natur finden.

    Der Schwerpunkt der Ausgabe liegt auf den Arbeiten, die Brodsky noch selbst zu seinem letzten Gedichtband "Landschaft mit Hochwasser" zusammengestellt hatte, dessen Erscheinen er jedoch nicht mehr erlebte. Bislang haben diese Texte – Ralph Dutli spricht von ihrem testamentarischen Charakter – bei uns wenig Beachtung gefunden und so ist es nur gut, dass sie in großem Umfang in die "Hundert Gedichte" aufgenommen wurden. Damit ist der Band nicht nur etwas für deutschsprachige Einsteiger, die einen Überblick über Brodskys Werk gewinnen wollen, sondern auch für diejenigen, die den Dichter schätzen und die früheren deutschen Gedichtbände bereits besitzen. Letztere können nun in einigen Fällen sogar zwei deutsche Versionen vergleichen – zum Beispiel "Nature morte" in der Übersetzung von Sylvia List aus dem Jahr 1986 und in Ralph Dutlis neuer Übertragung. Ein Vergleich ergibt hier wie da wunderbar gelungene Zeilen und Strophen, aber auch die schwächeren Momente sind gerecht verteilt. Schwer zu sagen, welche Übersetzung hier die bessere ist.

    Joseph Brodsky, 1964 wegen angeblichen "Parasitentums" zu Zwangsarbeit verurteilt und 1972 seines Landes verwiesen, war ein provozierend unpolitischer politischer Dichter: Zu Anklage und Entlarvung des Sowjetregimes ließ er sich nicht herab, sein Schreiben selbst, die Behauptung seiner inneren Freiheit war ein politischer Akt eigenen Rechts. Er verwandelte sich die Rollen des verbannten Ovid und des heimkehrenden Seefahrers Odysseus an, Exil und Erinnerung sind sein Leitmotiv und Schreibstimulans, seine Echoräume die Städte am Wasser, an den Flüssen, die ins Meer münden: "Ich bin im baltischen Sumpfland geboren, bin großgeworden / dort, wo die zinkgrauen Wogen stets zu zweit anrollten / – Quelle all meiner Reime." schrieb der Dichter Mitte der siebziger Jahre.

    Das Fließen, die Kontinuität waren vielleicht seine atheistische Vorstellung vom ewigen Leben. Wie alle großen Dichter feierte er die Liebe und kreiste um den Tod und das Vergehen der Zeit. Er verstand sich als Nachfolger von Mandelstam, Achmatova, Zwetajewa, der Dichter der klassischen Moderne Russlands. Ihre Formstrenge löste er auf und entschied sich für den flexibleren unreinen Reim, den er in einer Frische und Fülle produzierte, die an den frühen Majakovskij erinnert. Die "Hundert Gedichte" sind eine gute Gelegenheit, den "Klassizisten" Brodsky, wie der Herausgeber schreibt, als "furiosen Innovator der Reimtechnik", als "paradoxen Futuristen" und "Verpaarer des scheinbar Unvereinbaren" kennenzulernen. Viele, die den Dichter bereits kennen und lieben, lesen Russisch. Russisch ist – um nur ein Beispiel zu nennen – in einer Stadt wie Hamburg nach dem Türkischen die zweite, machtvoll vertretene Migrantensprache. Wenn man sich für diese Leser etwas wünschen dürfte, so wären es die Hundert Gedichte in einer russisch–deutschen Ausgabe.