Freitag, 19. April 2024

Archiv


Hundsnächte

Seit 1989 ist Reinhard Jirgl plötzlich in der deutschen Literatur präsent. Der inzwischen vierundvierzigjährige Berliner Schriftsteller, von Beruf Elektronik-Ingenieur, hatte zu DDR-Zeiten über anderthalb Jahrzehnte lang zwischen Beruf und Literatur ein Doppelleben führen müssen, weil seine Manuskripte nicht veröffentlicht wurden. Nach der Wende sind die ersten von ihnen ans Licht gekommen. Doch seinen literarischen Durchbruch hat er erst 1995 mit "Abschied von den Feinden" geschafft, einem Roman, der nach der Wende entstanden ist und auch in der unmittelbaren Nach-Wende-Zeit spielt. Jirgl erzählte in diesem Roman von einem Rechtsanwalt, der Anfang der 80er Jahre aus der DDR "ausgeheiratet" hatte und kurz nach dem Mauerfall in diese für ihn wie "verstrahlte" Welt zurückreiste, auf den Spuren seines Vorlebens, einer Frau und seines Bruders, den er schließlich umbrachte. An diesen Roman voller Verstrickungen, Verrat und tiefen Affekte, einem großartigen Logbuch der Expedition durch einen Ozean von Erinnerungen, aber auch der aufgeladenen Stimmungslagen der Nach-Wende-Zeit, knüpft Reinhard Jirgl jetzt mit dem Roman "Hundsnächte" an.

Uwe Pralle | 01.01.1980
    Auch dieser fünfhundertseitige Roman ist wieder ein literarischer Glücksfall, fast einzigartig in der heutigen deutschen Prosa mit seiner Erzählwut und einer daraus hochlodernden Sprache, die zu großen Vergleichen herausfordert: ob Arno Schmidt auf der einen oder Gottfried Benn auf der anderen Seite. Sicher, beide haben Jirgl sehr stark beeinflußt; aber er folgt heute natürlich ganz eigenen Linien:

    "Mein poetisches Prinzip ist, diese Emotionalität von draußen in den Text zu übertragen, also in die Bandbreite literarischen Sprechens zu übertragen", erklärt Reinhard Jirgl. "Das heißt also, ich bin nicht der allmächtige Autor, sondern ich befrage die Sprache, welche Möglichkeiten es gibt, mir diesen Text zu liefern, durch welche Widerstände, durch welche Beschleunigungen hindurch kann dieser Text überhaupt zustande kommen. Aus der Sprache kommen. Und das hat natürlich mit diesen Figuren zu tun, mit ihrem Leben, und deshalb versuche ich jedenfalls, diese Emotionalität von draußen zu bündeln, sprachlich zu bündeln und dann in eine Art - ja, wenn man will - Destillat zu bringen. Und das ist dann der Text."

    Am Ende von "Abschied von den Feinden" war die Hauptfigur der Anwalt, der auf freiem Feld aus einem Zug ausgestiegen und in den Ruinen eines Dorfes im Niemandsland der ehemaligen innerdeutschen Grenze verschwunden war. In der Zeitlücke zwischen seinem Mord am Bruder und diesem Verschwinden in den Dorfruinen setzt nun "Hundsnächte" mit zwei Haupterzählstrecken ein. Die eine führt nach Berlin. Hier hat der Anwalt - wie alle Figuren trägt er keinen Namen - auf der Durchreise in einer Bar nahe der Friedrichstraße eine frühere Geliebte treffen wollen; aber statt dessen taucht ihr einstiger Mann auf, der im Roman "der Feiste" heißt. Dieser Feiste ist eine der drei männlichen Hauptfiguren, eine höchst abgründige und bösartige Gestalt: "Er ist eine dieser Figuren, das hat man jetzt häufig in den Medien, daß solche zwielichtigen Gestalten aufsteigen und sichtbar werden", erläutert Jirgl. "Man könnte durchaus von einer Art Doppelagent reden, also zu Kalten-Kriegs-Zeiten; er hat sein Scherflein für die DDR getan, hat überall seine Pfoten drin gehabt, wo es irgendwie um Westgeldbeschaffung ging, Devisenbeschaffung, wie das hieß, hat auch im Westen ein bißchen mitgemischt."

    Dieser "Feiste" hat die ins ins Trockene gebrachten Scherflein profitabel in Immobilien angelegt. Doch eigentlich operiert er in dem ersten Nach-Wende-Jahr nur noch leerlaufend wie jemand, dem das vertraute Machtspielfeld von Ost und West unter den Füßen weggezogen ist. Nach dem Treffen in der Bar bringt er den Anwalt in jener Nacht schließlich bei einer Hure unter, die er voller Haß verfolgt. "Der Feiste ist ja im Prinzip ein Fädenzieher", so Jirgl. "Er ist ja eine Figur, die sich durch diese ganze Strecke der Berlin-Bilder hindurchzieht. Die Existenz des Bruders in der Wohnung der Hure geschieht ja eigentlich, weil - das würde jetzt ein bißchen zu weit führen, das aufzublättern. Aber es gibt eine konkrete und auch begründete Angst der Hure vor dem Feisten, der ein Wohnungsbesitzer ist und sozusagen aus einer alten Geschichte, die auch in dem Buch eine Rolle spielt - nämlich der Mann der Hure hat sich umgebracht zu Ostzeiten, weil er ein Arzt in einem Krankenhaus war und eine Geschichte aufgedeckt hat von Organschiebereien zwischen Ost und West, woran der Feiste sehr gut verdient hat. Er hat seine Finger auch in diesem Geschäft gehabt. Und dieser sich selbst getötet habende Mann hat sozusagen die Dummheit besessen und ist zu DDR-Zeiten zu einem DDR-Gericht gegangen, um die DDR anzuzeigen. Und das war sein Fehler. Und seither trachtet der Feiste nach dem Leben dieser Frau. Es gibt eigentlich keinen richtigen Grund, warum er das macht, es ist eine Art von - man muß sich den Feisten vielleicht als eine Art eines neuen, funktionierenden Menschen ohne Skrupel vorstellen. Der allzeit adäquate, der allzeit kompatible Mensch, für den wichtig ist, daß etwas funktioniert. Egal was funktioniert, das, was angeleiert ist, muß funktionieren, und zwar perfekt. Insofern ist er der perfekte Technokrat."

    Die Hure hält den Anwalt für einige Tage in ihrer Wohnung fest - so glaubt sie, vor dem mörderischen Haß des Feisten eine Weile sicherer zu sein. Diese Hure ist eine von drei Frauenfiguren, deren Lebensversuche in dieser unsicheren Zeit Jirgl in das Gewebe von "Hundsnächte" eingeflochten hat. "Da spielt die Lebenspraktik von drei Frauenfiguren eine Rolle, drei völlig unterschiedliche Frauen, eine Rechtsanwältin aus Westdeutschland, die Frau eines arbeitslos gewordenen Akademikers, der absteigt in eine sehr tiefe, proletarische Arbeit in einer Abrisskolonne, und die dritte Frau, eine in Ostberlin lebende Hure, die versucht, sozusagen mit den neuen Gegebenheiten fertig zu werden. All diese Frauen haben eines gemeinsam, so unterschiedlich ihr Leben auch ist: sie haben das Bestreben, ihr Leben als ihren Besitz neu zu organisieren, wobei die alten Strukturen - Mann, Kind, Familie - als überflüssig gelten, nicht mehr wichtig sind, verloren gehen; und mich interessierte der Spannungspunkt, oder diese Spannungsbeziehung mit diesen Leuten, die das Verlieren registrieren innerhalb dieser Beziehungen."

    Als der Anwalt nach einigen Tagen von der Hure freigelassen wird, kommt es auf dem Dachboden eines Berliner Hauses zwischen ihm und dem Feisten zur tödlichen Konfrontation. Denn auch sie sind - wie alle Romanfiguren - im unendlichen Albtraum von Geschichte und Geschichten vielfach miteinander verstrickt. Aber auch die Tötung des Feisten, den der Anwalt auf dem Dachboden kreuzigt, bietet keine Auswege aus dem Labyrinth. Nach diesen Berliner Ereignissen ist der Anwalt schließlich in den Dorfruinen an der einstigen Grenze verschwunden, um nun seinerseits den Tod zu suchen. Hier hat Jirgl die zweite Erzähllinie angesetzt: "Es gibt einen nach der Wende arbeitslos gewordenen Akademiker aus dem Osten, der sich selbst eine Arbeitsstelle sucht - er findet nichts anderes als in einer Abrißkolonne, die sich Fremdenlegion nennt und über das ganze Land verteilt wird zu irgendwelchen Abrißarbeiten - unter anderem auch im ehemaligen Grenzstreifen der innerdeutschen Grenze, ein damals zu Ostzeiten schon geräumtes Dorf. Da stehen halt noch Ruinen - was übrigens eine reale Sache ist, also nicht erfunden. Es soll auf diesem ehemaligen Grenzstreifen, dem sogenannten Todesstreifen, ein Fahrradwanderweg gebaut werden, der sich sinnigerweise Lebensstreifen nennt - das ist keine Erfindung von mir, das ist tatsächlich. Und dieses Dorf, das einfach stört, das diesen Fahrradweg stört, das sozusagen dieses Vergnügen stört, das muß weg. Und nun stellt sich heraus - jedenfalls die Dörfler behaupten das, in diesen Ruinen lebt ein Mann, oder vegetiert, der stirbt vor sich hin und schreibt."

    Auch diese Ruinen sind, wie die Wohnung der Hure und der Berliner Dachboden, Magnetfelder, wo sich die Lebenswelten der Romanfiguren verdichten. In diesem Erzählstrang stehen der einstige Akademiker, die aus Ost und West kommenden Kollegen aus der "Fremdenlegion" sowie Dörfler eines nahen Ortes im Vordergrund. In diesem Figurenkreis kommt eine weitere Schicht von Stimmen und Stimmungslagen aus dieser Umbruchszeit und der in ihr verkapselten Gegenwart zum Vorschein. "Mit dem bewußt etwas altertümelnden Begriff könnte man sagen, daß das Alltagsleben, das allgemein erlebbare Leben, immer mehr in einer ‘bösen Zone’ siedelt. Altertümelnd extra betont, weil auch sehr archaische Ängste und Gefahren aufgeschwemmt werden; man kann sagen: der innere Kompaß der Lebensempirik, die wir haben, scheint immer mehr ins Leere zu weisen. Die Erfahrungen gelten in immer kürzeren Räumen, wir haben den Einsturz von Sicherheiten zu verzeichnen. Das Vertraute, Menschen, Natur, kehrt sich mit einem Mal in Bedrohliches, in Ungewohntes zumindest. Das ist ein Hauptthema zumindest der einen Erzählstrecke des Buches, man kann sagen, der Zusammenbruch des Gehäuses Familie, also dieser Schutzgemeinschaft, erlebt mit einem Mal merkwürdige Wandlungen bis hin zur Vereinzelung. Also die Kälte dringt ein, die Hundsnachtkälte aus den Steppen dringt sozusagen in die Beziehungen der Menschen ein und läßt sie allein zurück und drängt sie wiederum - und das sind die Möglichkeiten, die sich ergeben - in neuen biographischen Räumen zusammen."

    In der Tat mißt Jirgl in "Hundsnächte" die Gegenwart mit ihren extremen Temperaturen und Vergangenheiten aus, die sich - wie heute zu spüren ist - spätestens seit 1989 in starken Umbrüchen befindet. Aber seinen Roman zeichnet der hohe Verdichtungsgrad dieser Vermessungen aus. Ihn erreicht er, indem er in die Welt und Stimmungslagen der Romanfiguren - er nennt das ihre "Emotionalität" - ohne Vorbehalte oder Sentimentalitäten eintaucht; und diese "Emotionalität" explodiert in der ungeheuer expressiven, kraftvollen und rhythmischen Prosa. Für die Erzählkonstruktion von "Hundsnächte" ist natürlich der Anwalt, der in der Ruine dahinvegetiert und ewig schreibt, die Schlüsselfigur.

    Am Ende des Romans, wenn die Dorfruinen durch eine Explosion dort vergrabener Chemikalien, also die Altlasten deutscher Vergangenheiten, in die Luft fliegen, dann gibt Jirgl auch eine überraschende Auflösung der Erzählkonstruktion dieses wie ein Möbius-Band angelegten Romans. Über die Erzählerfigur sagt er: "Es ist eigentlich eine menschliche Aufzeichnungsmaschine, die sich durch die eigene Welt bewegt, wobei diese Welt - das zeigt sich ja sehr schnell in dieser Figur - mit Wirklichkeit angereichert ist. Es ist also keine autistische Beschäftigung, ein Mensch, der an seinen Grenzen sich wundläuft ohne Wörter, sondern im Gegenteil: dieses Hereinlassen, auch sehr kalter, sehr nüchterner Erinnerungsflut ist eigentlich genau das Gegenteil von Erstarrung, eigentlich ein Fluß."

    Ohnehin besteht Reinhard Jirgl auf der Wirklichkeitsnähe des Romans: weder Ruinen-Romantik noch symbolhaftes Erzählen. Diese Reisen durch die Landschaften des Jahres 1990 und deutsch-deutsche Vergangenheiten: das sind seine Versuche, in einem sehr abgründigen Sinn "strahlende" Lebens- und Totenwelten dieser Zeit im Phantasieblick von Texten zu erfassen. Vermutlich wird "Hundsnächte" - zusammen mit "Abschied von den Feinden" - einmal als eines der wenigen großen Erzählwerke gelten, das im Moment dieser Umbrüche ihre wie Fliegenschwärme hochwirbelnden Geschichten eingefangen hat. Und es wundert nicht, daß Jirgl auf dieser Wirklichkeitsnähe mit dem Hinweis auf einen der eigenwilligsten Maler dieser Zeit beharrt: "Es ist mir wichtig, zu betonen, daß diese Figur des in der Ruine sterbenden Mannes wie auch alle anderen Figuren keine Psycho-Projektionen sind, sondern bildet die Figur des ewig Schreibenden, Nicht-mehr-Ansprechbaren, in einer Ruine Lebenden eine konkrete Vorlage: ein Denken an den Maler Willem de Kooning, der Anfang 1997 gestorben ist, im hohen Alter, ich weiß nicht, über 90 war er wohl, der das Problem hatte, daß er in einer völligen Abgeschiedenheit durch Alzheimer und durch Autismus einfach nur einer einzigen Tätigkeit nachgekommen ist, nämlich Bilder zu malen. Wie eine menschliche Maschine ein Bild nach dem anderen, von den Erben belauert, die auf die Bilder lauern, auf den Tod dieses Mannes, der aber praktisch sein Erinnerungswerk in Spuren der Malerei verwandelt. In einer Permanenz, die einfach nicht zu unterbrechen war, nur durch den Tod. Und diese Reallebens- oder Hinübersterbens-Situation hat mich eigentlich dazu bewogen, dieser Figur - wenn Sie so wollen - ein Denkmal zu setzen.