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"Ich bekam ein Puzzle zum Geschenk"

"Ich bekam ein Puzzle zum Geschenk: Die farbige Karte Europas, auf Holz aufgeklebt, war in die einzelnen Länder zersägt worden. Man warf die Stücke auf einen Haufen und setzte blitzrasch Europa wieder zusammen." So berichtet der Autor Elias Canetti in seiner Autobiografie.

Von Sven Rücker | 16.08.2014
    Elias Canetti, der deutschsprachige Schriftsteller bulgarischer Herkunft.
    Elias Canetti war ein deutschsprachiger Schriftsteller bulgarischer Herkunft. (picture-alliance / dpa / Votava)
    Was als Kinderspiel begann, entwickelte sich sehr schnell zum Ernstfall seiner persönlichen und künstlerischen Existenz. Mehr als einmal wurde während seines Lebens Europa zersägt und neu wieder zusammengesetzt. Als Nachkomme einer Kaufmannsfamilie mit spanischen Wurzeln wuchs Elias Canetti in Bulgarien auf, lebte in Österreich-Ungarn, in Deutschland und in England. Sein Leben umspannte fast das gesamte 20. Jahrhundert, und es umspannte fast den gesamten Kontinent.

    Wer also, wenn nicht er, war dazu prädestiniert, das Puzzle Europa ins Werk zu setzen? In ein Werk, das selbst wie ein Puzzle in disparate Teile zerfällt, aber vielleicht gerade dadurch seinem Gegenstand gerecht wird.
    So, wie Elias Canetti in seinen Texten Europa seziert, auseinandernimmt und wieder zusammenfügt, soll auch in dieser "Langen Nacht" aus den Puzzleteilen seiner zentralen Motive – Berühren, Einverleiben, Wachsen, Überleben und Verwandeln – das Bild Canettis und seines Werks zusammengesetzt werden.

    Eitel und brillant, gemein, boshaft, aber auch ehrlich und charmant, aufbrausend aber auch feinsinnig, so war Elias Canetti. "The Godmonster", so lautete sein Spitzname in London. Göttlich und monströs – ein Mann, der Widersprüche vereint.
    Wer Eindeutigkeit und Kohärenz sucht, sollte also besser von Canetti die Finger lassen. Wer sich aber gerne auf Ambivalenzen einlässt, wer geistige Beweglichkeit schätzt, der ist bei ihm bestens aufgehoben.
    Canetti - Mann der vielen Stimmen
    Widersprüchlich war auch Canettis Haltung zu sich selbst und zu seiner Herkunft. Die jüdisch-spaniolische Kaufmannsfamilie, aus der er stammte, seine "Sippschaft", wie er sie nannte, war für ihn bloß ein Konglomerat aus geistloser Geschäftemacherei. Es ist diese Herkunft, die er durch sein Werk loswerden wollte, die aber andererseits dieses Werk auch erst möglich machte. Denn die Zerstreuung der Familie über ganz Europa machte ihn schon früh mit unterschiedlichen Kulturen und ihrer Vielsprachigkeit vertraut.
    So sprach Canetti nicht nur viele Sprachen, sondern er besaß auch viele Stimmen. Die gerettete Zunge ist mehrfach gespalten: "Seit meinem zehnten Lebensjahr ist es eine Art Glaubenssatz von mir, dass ich aus vielen Personen bestehe", formuliert er es selbst im ersten Band seiner Autobiografie.
    Diese "vielen Personen" brauchen natürlich auch entsprechend viel Aufmerksamkeit. Und so widmet Canetti einen großen Teil seines Werkes, immerhin drei Bücher, sich selbst; ausführlich darf der Leser erfahren, wie der Autor Canetti auf den kleinen Elias zurückblickt und der kleine Elias schon den späteren Autor Canetti vorausahnt.
    Diese Egozentrik ist aber keineswegs egomanisch, denn kaum ein Leben verdient es mehr, erzählt zu werden, und kaum ein Leben eignet sich mehr, um anhand seiner die Epochenumbrüche des Jahrhunderts zu vergegenwärtigen. Canetti, der nichts so sehr hasste wie den Tod, wurde immerhin 89 Jahre alt. Sein Leben umfasst fast das gesamte 20. Jahrhundert, dessen Kriege sich in seinen Wanderungsbewegungen, seiner nomadischen Existenz abbilden. Rastlos wanderte er durch Europa, vom heutigen Bulgarien über Deutschland, Österreich, die Schweiz und England. Und ebenso rastlos wanderte er durch die literarischen Gattungen, samt größeren Ausflügen in die Theorie. Das Werk und das Leben - ein Puzzle:
    "Ich bekam ein Puzzle zum Geschenk: Die farbige Karte Europas, auf Holz aufgeklebt, war in die einzelnen Länder zersägt worden. Man warf die Stücke alle auf einen Haufen und setzte blitzrasch Europa wieder zusammen. So hatte jedes Land seine eigene Form, mit der meine Finger sich vertraut machten, und eines Tages überraschte ich den Vater mit der Behauptung: 'Ich kann es blind'".
    Auf diese Weise macht sich der kleine Elias nicht nur mit Europa vertraut, sondern auch mit seiner späteren Rolle als Künstler und Chronist seiner selbst. Denn wer könnte sich besser eignen, das Puzzle Europa zusammenzusetzen als Elias Canetti - jene laut Selbstaussage multiple Identität, die ebenfalls aus vielen Puzzleteilen besteht und dessen Familie sich über den gesamten Kontinent verteilt? Das Puzzle Europa, das während Canettis Leben so oft auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt wurde, findet in seinem Werk zu einer heterogenen, offenen und immer fragilen Einheit.
    Dieses Puzzle gilt es, auch in der Langen Nacht über Elias Canetti wieder neu zusammenzusetzen. Um den "vielen Personen", die den Autor Canetti bilden, gerecht zu werden, ist sie selbst wie ein Puzzle zusammengesetzt. Die einzelnen Puzzleteile bilden die zentralen Motive seines Werkes: Berühren, Einverleiben, Wachsen, Überleben und Verwandeln. Zusammen ergeben sie das Bild Canettis und der Epochen, deren Augenzeuge er war.
    Sven Rücker
    Elias Canetti – Ein Leben im 20. Jahrhundert
    Nachlass von Elias Canetti in der Zentralbibliothek Zürich
    Empfohlene Werke von Elias Canetti:
    • "Die gerettete Zunge"
      Autobiografie
      1.Band. Frankf. a.M. 1979
      Zitat: "Wie hätte ich nicht fühlen sollen, dass ich eben hier, wo es um etwas Erfundenes ging, der Wirklichkeit nahe war?"
    • "Masse und Macht"
      Frankf. a.M. 1980
      Zitat: "Die Masse will immer wachsen. Ihrem Wachstum sind von Natur aus keine Grenzen gesetzt. [ ... ] Häuser, Türen und Schlösser erkennt sie nicht an; die sich vor ihr versperren, sind ihr verdächtig"
    Empfohlene Links:
    Die Mannsprächtige [Tonaufnahme Canettis]
    "Wenn es ginge, würde ich den Tod abschaffen" – Der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti spricht über sein Leben und über die Angst vor dem Tod [Audio-Interview mit Canetti über Autobiografie, über Masse und über die Abschaffung des Todes]
    Auszug aus dem Manuskript:
    Am Anfang sieht alles aus wie ein Kinderspiel.
    "Ich bekam ein Puzzle zum Geschenk: Die farbige Karte Europas, auf Holz aufgeklebt, war in die einzelnen Länder zersägt worden. Man warf die Stücke alle auf einen Haufen und setzte blitzrasch Europa wieder zusammen. So hatte jedes Land seine eigene Form, mit der meine Finger sich vertraut machten, und eines Tages überraschte ich den Vater mit der Behauptung: 'Ich kann es blind.' 'Das kannst du nicht', sagte er. Ich schloss fest die Augen und setze Europa blind zusammen. 'Du hast geschwindelt', sagte er, 'du hast zwischen den Fingern durchgeschaut.' Ich war beleidigt und bestand darauf, dass er mir die Augen zuhielt.'Fest! Fest!', rief ich aufgeregt und schon war Europa wieder beisammen. 'Wirklich, du kannst es', sagte er und lobte mich, kein Lob ist mir je so teuer gewesen.
    Neue Länder, neue Sprachen
    So setzt Elias Canetti in seiner Autobiografie die Puzzleteile seiner Erinnerung zusammen und lässt ein Bild entstehen, das nur auf den ersten Blick ein harmloses Kinderspiel zeichnet. Die Szene stellt vielmehr eine diskrete Initiation dar. Mit dem Geschenk wird zugleich eine besondere Gabe transportiert: das Gespür für die Form, die Fähigkeit, das Disparate und Zerstreute zu einem Ganzen zusammenzufügen. Mit dem Puzzle beginnt der junge Elias zum Künstler und Autor Canetti zu werden.
    Dass sich diese Initiation anhand einer Landkarte Europas vollzieht, ist kein Zufall. Denn ein Europa-Puzzle bildet auch Canettis Leben selbst. Als Produkt der Vereinigung zweier jüdisch-spaniolischer Kaufmannsfamilien wächst er zunächst in Bulgarien auf, aber bald schon führen ihn die Umzüge seiner Familie durch ganz Europa, nach England, Österreich, der Schweiz und Deutschland, und fast jeder Umzug ist verbunden mit dem Erlernen einer neuen Sprache.
    Elias Canetti:
    "Ja, das ist schon richtig, Deutsch ist erst die vierte Sprache, die ich gelernt habe, und zwar mit Acht. Die erste Sprache war Spanisch, und zwar eine alte Form des Spanischen, das Spanisch des 15.Jahrhunderts, das von den Juden, die Spanien während der Inquisition verlassen mussten, mitgenommen wurde in die Länder, in die sie ausgewandert sind. Und ich bin in dieser Sprache also zuerst aufgewachsen, ich habe sechs Jahre eigentlich nur diese Sprache gesprochen. Dann übersiedelten wir nach England, ich ging in England in die Schule und lernte Englisch. Dann hatten wir eine Gouvernante, die da war, um uns Französisch beizubringen. Und erst nach dem Tod meines Vaters, als meine Mutter mit uns nach Wien übersiedelte, als ich acht Jahre alt war, habe ich Deutsch gelernt."
    So berichtet es Canetti selbst auf Deutsch, mit seiner hohen, spitzen Stimme. Die blinde Vertrautheit mit dem Puzzle Europa rührt auch aus dieser Biografie her. Canettis Leben, das 1905 begann und 1994 endete, umfasst nicht nur zeitlich fast das gesamte 20. Jahrhundert, sondern erschließt auch räumlich den gesamten Kontinent. Die Wanderungen der Familie Canetti lässt sie von Puzzleteil zu Puzzleteil springen und die Verknüpfung und Verzahnung der Teile herstellen. Aber ergibt sich so ein Ganzes? Kann es gelingen, das Puzzle vollständig und auf Dauer zusammenzusetzen?
    Werke, die im Umfeld von Canettis Ästhetik stehen oder helfen, diese zu verstehen:
    • Gilles Deleuze/ Félix Guattari
      "Tausend Plateaus"
      Kapitalismus und Schizophrenie
      Berlin 1992
    • Walter Benjamin
      "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen"
      In: "Gesammelte Schriften.
      Band 2.1"
      Frankf. a.M. 1991
    • Walter Benjamin
      "Die Aufgabe des Übersetzers"
      In: "Gesammelte Schriften. Band 4.1"
      Frankf. a.M. 1972

    • Gustave Le Bon
      "Psychologie der Massen"
      Hamburg 2009
    Arzt, Ethnologe, Soziologe und Psychologe. Er gilt als Begründer der "Massenpsychologie".Sein berühmtes Werk "Psychologie der Massen" übte einen nachhaltigen Einfluss in der Wissenschaft und praktischen Politik aus. Dieses Grundlagenwerk der Sozialpsychologie beeinflusste nicht nur Siegmund Freud ("Die Massenpsychologie und die Ich-Analyse"), sondern wurde auch von Politikern und Diktatoren des 20. Jahrhunderts für die Ausarbeitung ihrer Propagandatechniken benutzt.
    Tonträger:
    • Elias Canetti liest "Der Ohrenzeuge – Fünfzig Charaktere"
      (1 LP) (Deutsche Grammophon 2570 003), 1975

    • "Die gerettete Zunge und Der Ohrenzeuge"
      Ausschnitte der Lesung in Hoser's Buchhandlung am 6. Oktober 1978 (1 LP) (Hoser's Buchhandlung, Stuttgart, ohne Nummer)

    • "Das Hörwerk 1953- 1991"
      (2 CD). Prosa, Dramen, Essays, Vorträge, Reden, Gespräche. Frankfurt/M.: Zweitausendeins Verlag, 2006