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"Ich bin ein europäischer Patriot"

Der Schweizer Philosoph Iso Camartin hält einen europäischen Patriotismus für möglich. Entscheidend sei eine "Art von Anhänglichkeit an gewisse Errungenschaften", sagte er. Beispiele dafür seien das Bekenntnis zu Menschenrechten oder auch bestimmte Vorlieben für Künstler oder Formen des Zusammenlebens.

Moderation: Christine Heuer | 10.07.2006
    Christine Heuer: Bemerkenswerte Dinge passieren draußen im Lande, wie es früher ja oft hieß. Die Deutschen entdecken, dass sie sich mögen, und sie fühlen sich wohl dabei. Man nennt es Patriotismus. Dabei war die Botschaft der Weltmeisterschaft, so ist das dieser Tage zu lesen gewesen, gar nicht "Wir sind wieder wer", sondern "Wir sind wie Ihr".

    Aber wie sind wir denn dann? So wie die anderen Europäer? Und, gibt es auch einen europäischen Patriotismus? Am Telefon ist der Schweizer Philosoph Iso Camartin, Autor des bald erscheinenden Buchs "Bin ich Europäer? Eine Tauglichkeitsprüfung", dies der Untertitel. Guten Morgen, Herr Camartin.

    Iso Camartin: Guten Morgen, Frau Heuer.

    Heuer: Haben Sie denn die von Ihnen angestellte Tauglichkeitsprüfung selber bestanden?

    Camartin: Na ja, das ist immer so ein bisschen mit den Wünschen schwierig zu sagen, ob man dort angekommen ist, wo man eigentlich hin möchte. Aber nachdem Zugehörigkeit ja auch etwas ist, was sozusagen in der Zukunft liegen kann, würde ich sagen: Ja, ja, ich bin gut unterwegs und ein ziemlich europäischer Patriot.

    Heuer: Wo möchten Sie denn hin? Was ist ein Europäer?

    Camartin: Also ich würde meinen, dass man tatsächlich diese Zugehörigkeit einmal beispielsweise über den Pass definieren kann und sagen: Ich habe einen europäischen Pass, also bin ich Europäer. Das gilt aber für sehr viele, die eigentlich im Innersten, ja, den Wunsch haben, Europäer zu sein, ja nicht. Ich als Schweizer bin jemand, der zwar zu Europa im Sinne des Historischen und des Kulturellen ohne weiteres gehört, aber ich gehöre nicht politisch dazu. Und darum habe ich auch keinen Pass, einen Pass der Europäischen Union. Also muss man versuchen, diese Zugehörigkeit ein bisschen anders zu definieren. Und meine Lösung ist, dass wir sagen, welche Figuren, Geschichten, Erfahrungen, welche haben uns am meisten geprägt? Und man muss versuchen, sich selbst zu definieren als eine Art von Anhänglichkeit an gewisse Errungenschaften. Die können ganz einfacher Natur sein, wie zum Beispiel das Stehen zu den Menschenrechten oder wie immer, oder sie können auch komplexer Natur sein: die Vorliebe für ganz bestimmte Künstler oder aber auch ganz bestimmte Leistungen im Bereich des Zusammenlebens. Daraufhin kommt es an, zu sagen: Ich will eigentlich zu dieser Gruppe von Menschen, die das erreicht haben, möchte ich eigentlich dazugehören. Und darum kann auch ein Außenstehender, also ein Passloser sozusagen, sagen: Ich bin ein europäischer Patriot.

    Heuer: Was ist ein Europäer denn dann nicht, Herr Camartin? Was vor allem unterscheidet ihn von anderen?

    Camartin: Ich denke schon, dass es da darauf ankommt, den historisch-geografischen Raum ein bisschen genauer anzuschauen. Die Amerikaner haben ihre befreienden Erfahrungen in anderen Bereichen gemacht als die Europäer - in einer Art zunächst auch an Absage an eine europäische Form des Kolonialismus', in einem anderen Verständnis des Eigenen, der sich zusammensetzt aus - in einem Einwanderungsland -, aus sehr vielen Komponenten unterschiedlicher Weltteile. Und bei den anderen Kontinenten ist es wieder so. Die asiatische Tradition ist sicher ein bisschen eine andere als die europäische. Und natürlich gibt es so etwas wie einen kosmopolitischen Hintergrund bei uns allen. Wenn wir die Analyse machen, dann entdecken wir auch bei Japanern Dinge, die sehr viel mit der europäischen Tradition zu tun haben, wo jedenfalls wir reklamieren: Das kommt aus einem westlichen Verständnis von Zivilisation und nicht aus einem östlichen. Dabei aber gibt es in Japan bestimmte Weisheitslehren und Klugheitslehren und Verhaltensformen, wo wir sagen: Ja unter Umständen sind die ja älter als die europäischen, und wir haben sie wiederum aus solchen Ländern mit übernommen. So dass wir eigentlich in dieser Frage "Wer bin ich?" sind wir alle Empfänger auf der einen Seite, und wir sind unter Umständen auch Geber auf der anderen Seite.

    Heuer: Wenn wir über europäische Muster sprechen, vielleicht kann man das so zusammenfassen, und Sie haben vorhin erwähnt ein Gefühl der Zugehörigkeit, wenn man das versucht, zusammenzubringen, Herr Camartin, wie stark ist diese Zugehörigkeit ausgeprägt, die wir vielleicht "europäischen Patriotismus" nennen können?

    Camartin: Ich glaube, das entscheidet sich in sehr vielen Lebenssituationen, dass wir es so spüren. Die Zugehörigkeit hat ja auch einen willentlichen Aspekt. Man "will" dazugehören. Man hat ja nicht immer den Beweis, dass man dazugehört. Es ist übrigens auch ein bisschen so wie mit der Liebe. In der Liebe ist es ja auch nicht immer so, dass wir sagen: Wir sind Liebende. Aber wir möchten häufig welche sein und haben vielleicht den Zustand noch nicht erreicht. Und so ist es eigentlich hier auch. Es ist ein Willensakt, gleichsam sich selbst zurechnen zu können, und zwar mit guten Gründen und auch mit einer gewissen Art von Verdienst. Man muss ja auch etwas tun dafür, dass man Europäer ist. Man ist nicht einfach Europäer und sagt sich, alles ist mir geschenkt worden. Wie ich meine, dass ja auch ein Patriotismus der nationalen Art nicht etwas ist wie eine Kindsgabe, die man gleichsam in die Wiege bekommt und dann bleibt das einfach, sondern das ist auch ein Prozess, der sich entwickelt, der sich charakterisiert, Profil bekommt während des eigenen Lebens. Und darum ist ein Deutscher nicht einfach ein Deutscher, sondern er ist einer, der sich zwar zu einem vermeintlich klaren geografischen und historischen Raum bekennt, aber worin die Ingredienzien dieses Deutschseins oder dieses Europäerseins dann letztlich sind, das ist etwas, was man auseinanderfieseln muss auf Grund der eigenen Lebensgeschichte: Was habe ich erlebt, was habe ich gemacht, um dazuzugehören? Und nicht einfach: Was ist mit mir geschehen?

    Heuer: Kann man ...

    Camartin: Wenn jemand sagt: Ich bin Deutscher, weil ich Deutschland nie verlassen habe, ist das ein bisschen eine unzureichende Definition von Patriotismus.

    Heuer: Herr Camartin, kann man das, was Sie da gerade geschildert haben für eine einzelne Person auch auf eine Nation übertragen? Dann hieße ja die Frage: Was haben die Deutschen beigetragen zu Europa?

    Camartin: Die Deutschen haben unendlich viel beigetragen genau zu diesem europäischen Selbstverständnis - nicht, weil sie jetzt alles sozusagen aus sich selbst ausgebrütet haben, sondern weil sie, ich würde sagen, gemeinsame Anliegen, die Menschheitsanliegen sind, in einer ganz spezifischen Art und Weise auf Grund ihrer eigenen Anlagen und Entwicklungen ausgeprägt haben. Also nehmen Sie zum Beispiel die deutsche Romantik, die deutsche Melancholie, dieses deutsche Ungenügen und Immer-weiter-Wollen als eine unglaubliche, man kann sagen, auf das nicht vollendbare gerichtete Anlage ist das etwas Großartiges. Natürlich kann das in bestimmten Augenblicken in, man könnte sagen, unter politischen Bedingungen, die den Totalitarismus kennzeichnen, kann das auch in eine ganz falsche Richtung gehen. Aber da sind unendlich viel Elemente, die dieses Suchen nach der Abrundung, nach der Gestalt, nach dem Profil eben ausdrücken. Und da verdankt Europa Deutschland - wie übrigens allen großen Nationen und Kulturen, und selbst manchmal den Minderheiten -, wir verdanken, wir sind alles, drum sagte ich: Wir sind alle Geber und Nehmer.

    Heuer: Herr Camartin, man hört Ihnen Ihre Europabegeisterung an. Andererseits ist mir aufgefallen, dass das häufigste Adjektiv, das in Verbindung mit Europa in den vergangenen Jahren zu hören ist, das Adjektiv "müde" ist. Wie können wir diese Müdigkeit vertreiben, die Begeisterung für Europa stärken, wenn wir Ihnen nicht gerade zuhören können?

    Camartin: Ich glaube, ganz entscheidend ist, dass wir nicht nur das politische oder das wirtschaftliche Feld Europas uns anschauen. Wenn ich die Agrarpolitik Europas nehme, dann bin ich sehr schnell europamüde, weil ich den Eindruck habe, hier ist eine Art von Abmachung der merkantilen Art zwischen den großen europäischen Staaten getroffen worden und man kommt irgendwie nicht weiter, es ist eine Art von Sackgasse. Hingegen wenn ich Schriften großer Europäer lese - ob die aus Italien oder aus Finnland kommen, das spielt gar keine Rolle - und dann entdecke ich, was da für Lebensvisionen drin sind, dann denke ich plötzlich: Jetzt bin ich nicht mehr müde, jetzt werde ich hellwach. Und da ist eine Art von einem europäischen Versprechen, dem es nachzusuchen gilt. Und darum denke ich, Europäer ist man eigentlich vielleicht mit dem letzten Atemzug, aber nicht schon, wenn man mittendrin steht.

    Heuer: Der Schweizer Philosoph und Autor Iso Camartin. Herr Camartin, herzlichen Dank.

    Camartin: Danke Ihnen, Frau Heuer.