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"Ich bin Miss Holocaust, 1945."

Was wäre, wenn Anne Frank überlebt hätte? Dieser Frage ist Shalom Auslander in seinem ersten Roman "Hoffnung. Eine Tragödie" nachgekommen. Mit viel Humor zeigt er eine fiktive Anne Frank, nicht als Opfer, sondern als hässliche, arrogante Alte.

Von Sigrid Brinkmann | 06.06.2013
    "Ich kann nicht fürs Judentum sprechen, sondern nur über das, was ich selbst durchgemacht habe."

    In der Wohnung der Familie Auslander hingen überall Fotografien von Familienangehörigen, die in den Konzentrationslagern ermordet wurden. Als Kind fühlte sich der Autor gemartert von den Blicken der getöteten Verwandten. Seine Mutter, die als Pflegerin arbeitete, berichtete beim Abendessen oft von schlimmen Erkrankungen, und statt den Kindern eine Gutenachtgeschichte vorzulesen, erzählte sie von Grausamkeiten, die Glaubensbrüdern in früheren Zeiten angetan wurden.

    "Die größten Helden waren immer diejenigen, die im Elend umkamen. Wenn ein gewisser Rabbi an den Hoden aufgehängt wurde, dann war das ein toller Mann. Aber eben nicht ganz so großartig wie der Typ, der vor den Augen seiner Familie gehäutet wurde. Diese Art der Leidenspornographie ist nichts für mich, und ich weiß nicht, warum man nicht aufhört, solche Gräuel zu erzählen. Für mich fühlte sich das an, als säße ich in einem Film."

    An jedem Holocaust-Gedenktag musste Shalom Auslander zuhause das Bild der lächelnden Anne Frank anschauen. Als Kind von in Amerika geborenen Juden fühlte er sich trotzdem schuldig dafür, zu den Davongekommenen zu gehören. Wie eine späte Befreiung mutet daher der aberwitzige Entschluss des Autors an, sich ausgerechnet Anne Frank als Überlebende vorzustellen: nicht als Opfer, sondern als hässliche, arrogante Alte mit literarischen Ambitionen. Auslanders fiktive Anne Frank will der Welt beweisen, dass sie mehr kann, als nur Tagebuch schreiben. Einem Journalisten des British Guardian sagte Auslander:

    "Sie wäre die reinste Nervensäge geworden, genauso ätzend wie ich."

    Der Held des tragikomischen Romans heißt Salomon Kugel. Auslander lässt ihn mit Frau und Kind sowie seiner sterbenskranken Mutter in ein Landhaus ziehen. Seltsame Geräusche und fäkale Gerüche zwingen Kugel, auf dem Dachboden nach dem Rechten zu schauen. Dort findet er eine Frau, die vor einer Schreibmaschine hockt und sich als Anne Frank ausgibt.

    "Ich weiß, dass Anne Frank in Auschwitz gestorben ist. Und ich weiß, dass sie mit vielen anderen gestorben ist, von denen einige meine Verwandten waren. Und ich weiß, wenn man das verharmlost, indem man behauptet, Anne Frank zu sein, dann ist das nicht nur nicht lustig, sondern abscheulich.
    Das war in Bergen-Belsen, Sie Esel, sagte sie.
    Kugel funkelte sie weiter an, noch während er merkte, wie eine Welle der Scham sein Gesicht erröten ließ. Er drehte sich um und stieg die Treppe hinunter.
    Und was diese Verwandten betrifft, die Sie im Holocaust verloren haben, fuhr sie fort.
    Kugel blieb stehen und sah zu ihr hin, worauf sie den Ärmel zurückschob und die verblasste blauschwarze KZ-Nummer entblößte, die innen auf ihren fahlen Unterarm tätowiert war.
    Die können mich mal, sagte Anne Frank."


    Auslanders Held Salomon Kugel sitzt in der Falle. Aufgewachsen mit einer Mutter, die 1946 in Brooklyn zur Welt kam, aber felsenfest beteuert, sie sei im Konzentrationslager geboren worden, ist es Kugel nicht möglich, die "verdammte Holocaust-Überlebende" auf die Straße zu setzen. Der ruppige Abgeklärtheit steht im Kontrast zum Realitätsverlust vieler amerikanischer Juden. Mit krassem Humor attackiert Auslander deren Weise, sich im Leid einzurichten.

    "Krieg kennen die doch gar nicht, es sei denn, man rechnet den Schlussverkauf bei Bambergers am Morgen nach Thanksgiving dazu."

    Als Kugel acht war, hatte ihm seine Mutter erzählt, dass der Lampenschirm neben seinem Bett eigentlich sein Großvater sei.

    "Kugel nahm den Lampenschirm und drehte ihn herum. ( …)
    Da steht Made in Taiwan, sagte Kugel.
    Mutter sah ihn an, Enttäuschung und Zorn in den tränennassen Augen.
    Na, sie werden ja wohl nicht Made in Buchenwald draufschreiben, blaffte sie.
    (…) Wenn der Lampenschirm sein Großvater sein konnte, war dann das Sofa sein Vetter? War die Ottomane seine Tante? Wochenlang schlich er sich nach draußen und pinkelte gegen die Hauswand, voller Sorge, die Toilette könnte vielleicht sein Onkel sein (…) Bis zum heutigen Tag war Kugel ein verbissener Anthropomorphisierer, der sich um die Qualen der Holzscheite sorgte, die er zum Kamin verurteilte."


    Kugel sucht wöchentlich einen Psychoanalytiker auf. Der vertritt die Auffassung, dass "weder Krankheit noch Rassen noch Religion" das Elend der Welt bedingten, sondern allein die Hoffnung. Shalom Auslander nimmt diese Behauptung ernst und erfindet deshalb Szenen, um deren Gültigkeit zu testen. Mutter Kugel, die das Leben nur als "einen kolossalen Leichenhaufen" betrachtet, inkarniert die pessimistische Weltsicht. Anne Frank hingegen symbolisiert in Auslanders Roman die Hoffnung: Mithilfe ihres Schreibens will sie sich aus der für sie vorgesehenen Rolle des jüdischen Leidens befreien. Am Ende resigniert auch sie.

    "Ich bin Miss Holocaust, 1945. Jesus war Jude, aber ich bin der jüdische Jesus."

    Shalom Auslander karikiert in bissiger Weise, wie Individuen, Interessengruppen und Buchverlage das Leiden mit der Aura der Heiligkeit versehen. Seine Stärke als Autor sind die Dialoge. Schnelle Wortwechsel eignen sich besser für das Abfeuern politisch unkorrekter Sprüche. Er platziert sie gut, genauso wie die pietätlosen Witze, für die der 42 Jahre alte Autor ein Faible hat. Sie dienen der Selbstbehauptung und verschärfen die Beschreibung des Dilemmas, in dem Auslanders Generation steckt: Diese mag sich noch so sehr nach Indifferenz gegenüber dem Jüdischsein sehnen, solange die Elterngeneration lebt, bleibt die Furcht vor einem zweiten Holocaust wach. Shalom Auslanders Roman "Hoffnung. Eine Tragödie" ist eine glanzvolle Abrechnung mit den Neurosen Nachgeborener, denen auch philosophische Angebote nicht helfen, sich der Zukunft hoffnungsvoll zu stellen.


    Shalom Auslander: "Hoffnung. Eine Tragödie", Aus dem Englischen von Eike Schönfeld,
    336 Seiten, 19,99 Euro, Berlin Verlag 2013