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"Ich bin nicht Stiller"

Max Frisch ist der meistgelesene Schriftsteller der Schweiz. Auch in Deutschland verkaufen sich seine Bücher in Millionenauflage. Für die vorliegende Biografie wurden erstmals alle zugänglichen Quellen ausgewertet. Auch unbekannte Briefe, Notate und Dokumente.

Von Martin Krumbholz | 15.05.2011
    Plötzlich erhält der berühmte erste Satz des Romans "Stiller" - "Ich bin nicht Stiller" - einen markanten Doppelsinn. Hier spricht nicht nur der angebliche "Mr. White", der seine Identität als Schweizer Bürger leugnet, man kann den kleinen Satz auch metatextuell deuten, als Statement des Autors Max Frisch und sogar als Gegenentwurf zu Flauberts Satz "Madame Bovary, c'est moi": Frisch ist nicht Stiller, oder doch jedenfalls nicht ganz und gar. Es handelt sich um eine Limitierung der autobiografischen Lesart, so wenig abwegig diese von vornherein ist. Nicht das geringste Verdienst von Julian Schütts fulminanter Biografie ist es, dass sie die Dinge doppelt beleuchtet und Determinierungen vermeidet, die Frisch verhasst wären.

    Frisch hätte es wohl lieber gehabt, wenn er der Autor der Verwandlungen geworden wäre (wie er es in dieser Biografie sein soll), statt nur als der Autor des Identitätsproblems zu gelten.

    Das Identitätsproblem fragt: Wer bin ich? Der Autor der Verwandlungen dagegen fragt: Wer kann ich sein, wer kann ich werden? Um diese Differenz dreht sich in Frischs Werk fast alles. Ludwig Anatol Stiller soll sich selbst annehmen, ja, aber das ist nur eine Stufe auf dem Weg zur Freiheit. Er hat auch das Recht, sich selbst neu zu definieren, wie sein Autor sich im Lauf seines wendungsreichen Lebens stets neu definiert hat: zunächst als Student und freier Journalist, dann als Schriftsteller, dann als Architekt, schließlich wieder als Schriftsteller. Man könnte auch diese Metamorphosen negativ deuten, als Flucht vor sich selbst. Doch dieses "Selbst" ist in Frischs Augen keine absolute Größe, sondern etwas, das im Fluss ist, das permanent neu entsteht. Ein berühmter Germanist, zunächst freundschaftlicher Wegbegleiter, später eher kritischer Antipode, Emil Staiger, der den "Stiller" prompt als das Meisterwerk erkannte, als das er bis heute gilt, schrieb an Max Frisch:

    Eines Deiner zentralen privaten Probleme - genauer, ein Problem, das ich bisher nur als ein privates anzuerkennen vermochte -, das 'schlechte Gewissen‘, das Leiden am Ich, die Unmöglichkeit, sich zu gewöhnen und in einer stetigen Folge zu leben: dieses Problem ist im 'Stiller‘ zu einer Bedeutung gediehen, die weit über Deine Person hinausreicht und für ein ganzes zeitgenössisches Schicksal symbolischen Sinn gewinnt.

    Das hier von Staiger erkannte Hervortreten des Exemplarischen, also die in der metatextuellen Deutung des Satzes "Ich bin nicht Stiller" gebündelte Überschreitung des (bloß)Biografischen, ist das Ziel einer jeden schriftstellerischen Entwicklung - und dieses Ziel hat auch der Frisch-Biograf Julian Schütt souverän erreicht. Denn wenn es einzig und allein um die Person Max Frischs ginge, um die Bewertung seiner Schriften und um Gedeih und Verderb seiner Ehen und Liebschaften, hätte man vielleicht doch nicht so minutiös recherchieren müssen, wie Schütt es getan hat; offensichtlich geht es in diesem Buch um Grundsätzliches, wofür der Schriftsteller Max Frisch eben ein leuchtendes Beispiel ist. Wenn Schütt mit dem Erscheinen des "Stiller" im Jahr 1954 abbricht, dann nicht deswegen, weil schon alles erzählt wäre, sondern eher weil man, salopp gesprochen, "das Prinzip begriffen" hat. Und das Prinzip, also das Lebens-Prinzip des Max Frisch, ist das Nicht-Aufhören, das Nicht-Aufgeben. Im Übrigen hält Schütt den jungen Frisch, den noch nicht weltberühmten, für den interessanteren. Den Weltstar Frisch kennt man oder glaubt man zu kennen, aber wie ist er es geworden? Frisch selbst hätte es so ausgedrückt:

    Die Ergebnisse kennen wir, wir suchen die Anfänge.

    Die Anfänge. Wenn man sie auf knappe Gleichungen reduziert, wird man der Genauigkeit nicht gerecht, mit der Schütt Frischs Werdegang darstellt. Wenn man etwa behauptet: Frisch war ein Muttersohn, oder: Frisch war kein großer Leser. Der Vater Franz Bruno Frisch, ein Mann mit österreichischen Wurzeln, Architekt und Makler, ist früh gestorben; an die Mutter Lina hatte Max Frisch, wie viele "Frauenmänner", eine zärtliche Bindung bis zu ihrem Tod. Was das Lesen betrifft, so hatte der junge Frisch schlicht wenig Zeit dafür. Er musste früh zum Unterhalt der Familie beitragen. Er war also durchaus keine "Leseratte", ob man diesen seltsamen Begriff nun bezeichnend findet oder nicht. Vielleicht hat ihn der ökonomische Umgang mit Literatur ja davor bewahrt, ein Epigone zu werden. Denn eines kann der Biograf entschieden festhalten: Schon in seinen frühen journalistischen Arbeiten entwickelt Frisch einen unverwechselbaren Stil.

    In seinen Texten ist trotz aller Einflüsse, Stereotypen, Traditionsverhaftung von Anfang an ein eigener Ton, ein eigenes Temperament vernehmbar. Ein Leichtes, die Arbeiten, selbst wenn sie nur mit einem Kürzel wie 'f.‘ gezeichnet sind, zu identifizieren.

    Ein weiteres Merkmal, das womöglich mit dem Privileg des Muttersohnes zu tun hat, arbeitet Schütt deutlich heraus: Frisch hat, scheinbar zumindest, ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Als totaler Sport-Dilettant, der er ist, lässt er sich als Sonderkorrespondent zur Eishockeyweltmeisterschaft nach Prag schicken und schließt gleich einmal eine ausgedehnte Südosteuropareise an. Aber auch das Merkmal Selbstbewusstsein ist, natürlich, nicht absolut, Selbstzweifel zuhauf stellen die Gegentendenz dar. Daraus resultiert das Bedürfnis nach Ermutigung, und für diese wird es letztlich zwei maßgebliche Quellen geben: das Theater, verkörpert in der Person des Zürcher Chefdramaturgen Kurt Hirschfeld, und von 1947 an den Suhrkamp-Verlag in Gestalt seines Chefs Peter Suhrkamp. Zunächst allerdings, mit seinen ersten Büchern, während der NS-Zeit, hat Frisch einen anderen deutschen Verlag ausfindig gemacht, die "Deva", die Deutsche Verlagsanstalt in Stuttgart.

    Er behauptete, sein Glück in Deutschland versuchen zu müssen, weil kein einheimischer Verlag bereit sei, seine Bücher herauszubringen. Dabei stand er durch seine journalistische Arbeit mit den meisten belletristischen Schweizer Verlagshäusern in Kontakt [ ... ]. Der Deva-Generaldirektor Kilpper war ein konservativer Verlegerpatron, kein NS-Apostel, aber auch kein Gegner des 'Dritten Reichs.

    In diesem Kontext - offensichtlich vor der nachhaltigen Politisierung Frischs - erzählt der Schweizer Julian Schütt viel Interessantes über die Schweiz und ihre uneindeutige Haltung zum NS-Staat, über die rechtsradikale "Nationale Front", die sich eines nicht geringen Anhangs erfreute, über die sogenannte "geistige Landesverteidigung" und den "Grenzdienst", an dem Frisch als Kanonier insgesamt 650 Tage lang aktiv beteiligt war; in dieser Zeit entstanden die "Blätter aus dem Brotsack". Auch der junge Frisch versuchte in den Jahren vor 1939 eine politisch "neutrale" Position einzunehmen, obwohl er mit einer Jüdin, Käte Rubensohn, liiert war. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, wie Frisch sich rückblickend an einer Persönlichkeit wie Thomas Mann reibt:

    Das war also damals politisch nicht mein Mann.

    Spätere Schriftstücke hätten ihm, Frisch, bewiesen, dass er nicht ganz falschlag: Thomas Mann habe lange gezögert, bis er Hitler-Deutschland verließ, und habe die Emigration 'performed (würde ich englisch sagen)‘. Wie immer Thomas Mann tatsächlich zum Emigranten wurde, bemerkenswerter ist eher Frischs eigene Performance, wie er sich zum wachen Genossen der Exilierten machte, der er in den dreißiger Jahren zweifellos noch nicht gewesen war.

    Politisch Frischs Mann sollte später ein anderer werden: Bertolt Brecht, der nach dem Krieg einige Monate in Zürich Zwischenstation machte und den Frisch als Gastgeber unter seine Fittiche nahm. Zunächst aber beleuchtet der Biograf eine Wendung in Frischs Leben, die von großer Bedeutung war. Er hatte mit dem "Jürg Reinhart" ein wohlwollend rezipiertes Debüt, seine Texte wurden gedruckt, aber seine Lage blieb prekär. Er suchte einen Brotberuf, bewarb sich vergeblich um einen Redakteursposten, verbrannte einige Manuskripte und nahm schließlich, mit Mitte zwanzig, ein Architekturstudium auf. Sein erstes Haus wird Frisch für seinen älteren Bruder Franz bauen, und kurios ist es, wie der junge Architekt gerade aufgrund seines Glaubens an Offenheit und ständige Selbstrevision dem Bruder und der Schwägerin eine Ästhetik der Begrenzung und der Abschottung aufzwingt, also bitteschön: Sprossen an den Fenstern, Gitter, Zäune ...

    [ ... ] je schrankenloser, praller, protziger die Aussicht sei, desto stumpfer würden sie beide sein, stumpf vor 'Ausschweifung des täglichen Blicks‘. Wenn alles offenbart und enthüllt werde, gebe es nichts Geheimnisvolles mehr, keine Sehnsüchte, keine Ahnungen, sie würden nichts mehr erwarten. Frisch konnte sich dabei auf Le Corbusier berufen, der forderte, man müsse eine Landschaft begrenzen, dimensionieren, damit sie Gewicht hat.

    Und der Biograf lehnt sich an dieser Stelle gleichsam aus dem Fenster:

    Das Plädoyer für Sprossenfenster fügt sich bruchlos in die vorherrschende schweizerische Neutralitätsideologie ein, die das Verschleiern und Ausblenden des Zeitgeschehens zur Norm, zum taktvollen Idealverhalten adelt.

    Die Anlehnung an den sogenannten Heimatstil, den Frisch aufgrund seiner Weltläufigkeit eigentlich ablehnen müsste, wird einmal ein ironisches Echo finden: Der Protagonist Stiller beschließt seine Tage in genau so einem idyllischen Heimatstil-Haus. Frischs "Sehnsuchtsästhetik", so Julian Schütt, sei deswegen zwar keineswegs gescheitert, aber derlei Widersprüche sind spannend. Eben auch der Widerspruch zwischen dem redlichen und fast zwanghaften Bemühen, das Leben in einem bürgerlichen Sinn zu "ordnen", und den quasi vorprogrammierten Ausbrüchen aus dieser Ordnung. Hierhin gehört nicht zuletzt Frischs Verehelichung mit einer Tochter aus gutem Hause, Gertrud Anna Constanze von Meyenburg, über die Schütt trocken konstatiert:

    Man könnte meinen, ein Arzt habe sie ihm gegen seine viel zu leicht erregbare Eifersucht empfohlen.

    Nicht, dass Julian Schütt generell auf derlei Pointen aus wäre, dazu ist sein Buch doch zu seriös; aber die spröde Constanze scheint eben tatsächlich eher eine Therapie als die berühmte "Frau fürs Leben" gewesen zu sein, eine Therapie nämlich gegen die Ichsucht, die hemmungslose Umtriebigkeit und die Unruhe des Herzens. Allerdings hat die Therapie nur für eine begrenzte Zeit geholfen. "Verliebt in die Ehe" nennt der Biograf das entsprechende Kapitel. Immerhin setzt Frisch mit seiner Trudy drei Kinder in die Welt, um die er sich nicht immer hinreichend kümmert; es unterläuft ihm sogar, dass er in Liebesbriefen ihr Geschlecht verwechselt. Apropos Liebesbriefe: Frisch lernte immer wieder auch andere Frauen kennen, bei der Uraufführung des Stücks "Die Chinesische Mauer" etwa die Schauspielerin Agnes Fink, die darin eine Hauptrolle spielte. Diesmal wurde - anders als in anderen Fällen - keine Affäre daraus, und später schrieb Frisch ihr:

    Du weißt, dass ich einmal in Dich verliebt war, vor fast drei Jahren ... , hoffentlich hat es Dich nicht allzu belästigt! Warum eigentlich, liebe Agnes, ist es nie über das Lächerliche hinausgekommen? Ich liebte Dich mit der Zeit, wie ich im Leben bisher nicht al lzu viele Frauen liebte, und war Dir gegenüber doch unfreier, unechter, unwirklicher als vielen anderen gegenüber. [ ... ] ein solches Entmanntsein, wie in Deiner Gegenwart, kannte ich bisher nicht, es hat mich mit allen Ausschlägen der Minderwertigkeit überzogen, u. es war sicher auch peinlich für Dich, das anzusehen.

    Belästigung, Lächerlichkeit, Entmannung, - es sind schon starke Ausdrücke, mit denen Frisch sich hier selbst geißelt, und es gehört einiges dazu, derlei Selbstzweifel dem anderen zu offenbaren. Das Wechselspiel von Ermutigung und Entmutigung spielt offensichtlich auch gegenüber den Frauen eine zentrale Rolle. Doch die schönen Schauspielerinnen am Theater sind das eine, die Dramaturgen das andere. Wir kommen auf Kurt Hirschfeld zurück, einen deutschen Emigranten, seit 1938 Dramaturg am Zürcher Schauspielhaus: der erste der beiden entscheidenden Förderer. Frisch:

    Was heißt Ermunterung? Ich kann einen Maler, zum Beispiel, noch so herzhaft ermuntern, ein Fresko zu versuchen, und es heißt gar nichts, wenn ich ihm nicht eine Wand, so groß wie meine Ermunterung, zur Verfügung stelle. Das hat das Zürcher Schauspielhaus getan, damals die einzige lebendige Bühne deutscher Sprache. Man ließ mich zu den Proben von Brecht, Sartre, Lorca, Giraudoux, Claudel, unter der einzigen Bedingung, im Dunkeln nicht zu rauchen und nicht zu husten. Proben, Sie wissen es, sind unwiderstehlich. Zwei Monate später - ich hatte mein Architektur-Atelier und tagsüber keine Zeit - brachte ich mein erstes Stück fertig.

    "Santa Cruz" hieß das erste geschriebene Stück, "Nun singen sie wieder" das erste aufgeführte. Es zeigt erstmals einen politisierten Autor, einen, für den ein Brecht sich zu interessieren vermochte. Schütt kann nun einen wachen, ständig produktiven Autor vorstellen, der seine vielen Einfälle in die blauen Heftchen, die sogenannten Milchbüchlein notiert, von denen rund 130 erhalten sind.

    Die Selbstdiagnose lautete auf 'Grafomanie‘. Zum Glücklichsein brauchte er wenig, weder gutes Essen noch exquisiten Wein - oft genügten ein Notizheft und das Rauchen, das seit den ersten Texten zum Schreiben dazugehörte. [ ... ] Die Hefte [ ... ] dokumentieren die Durchbruchsjahre des Autors, sind Frischs Anrichte, hier rüstete er erste Einfälle zu, schälte passende Begriffe heraus, verarbeitete einzelne Gedanken ... Mit seinen Eindrücken ging er entgegen eigenen Aussagen haushälterisch um, das meiste wurde in der einen oder anderen Form weiterverwendet.

    Mit der Aufführung seiner ersten Stücke, das dritte ist "Die Chinesische Mauer", am Zürcher Schauspielhaus gilt Max Frisch bereits 1946/47 als der künftige Literaturstar der Schweiz. In weit höherem Maß als heute war eine Uraufführung damals ein Politikum, und Frisch politisierte auch inhaltlich sein Schreiben.

    Erstmals beruft er sich öffentlich auf Brecht. Man sei als Autor zwischen zwei Polen: Die einen würden sich auf Goethe oder Hofmannsthal beziehen, auf ihr berühmtes Schweigen zur Revolution oder zum Ersten Weltkrieg. Auf der anderen Seite stehe das Wort Brechts von den Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließe. Und Frisch tendiert auf Brechts Seite.

    Dabei findet das Gespräch über Bäume, wenn man so will, bei Frisch ja durchaus statt: Er ist ein exzellenter Beschreiber von Landschaften, die Nähe zur Natur bleibt ihm lebenslang erhalten. Nur ist Frisch eben in aller Schärfe bewusst, dass gerade für einen aufgeklärten Schweizer die Naturliebe nicht alles andere überblenden darf, weil sonst die Gefahr des Quietismus droht. Dieser Gefahr entgeht Frisch konsequent, und zwar auch auf eine andere Gefahr hin: nämlich die, sich in der Schweiz unter Schweizern unbeliebt zu machen. Brecht als Kommunist war in der Schweiz nur zähneknirschend geduldet, und Frischs Sympathie für ihn war hochverdächtig, wenngleich Frisch nie im Leben Kommunist war, allenfalls - ein Sozialdemokrat. Damit aber zu dem neben Kurt Hirschfeld zweiten großen Förderer Max Frischs, zu Peter Suhrkamp, dem Frisch durch Carl Zuckmayer vorgestellt wurde. Es gebe in Frischs Leben eine Reihe von wichtigen Männern, schreibt Julian Schütt, zwei davon aber habe er "geliebt": Hirschfeld und Suhrkamp. Letzteren wohl auch als einen Vater-Ersatz. Suhrkamps Kritik an Frischs Texten war streng, hart, aber niemals niederschmetternd. Frisch:

    Er kam mit Maßstäben, die als solche schon eine Auszeichnung sind, sagte zum Beispiel, er hätte dieses Stück nun gelesen und, nun ja, es sei kein schlechtes Stück, einige Sachen seien gut, aber ja, 'wenn ich doch bedenke, was Brecht aus diesem Thema gemacht hätte‘, also ich wurde verglichen mit den Meistern, ich startete sozusagen auf olympischer Bahn, wo ich total verloren habe, aber das Stimulierende war, dass man ernst genommen wurde, wenn auch als ungenügend noch, als Scheiternder, und das war die Stimulation, man ging an die Arbeit, man wollte es besser machen.

    In Suhrkamps erstem Verlagsprogramm, im Herbst 1950, erscheint Frischs "Tagebuch 1946-1949". Es ist auch der Versuch, sich einen Leser zu erfinden.

    Man muss sich seinen Leser erfinden, das gehört schon zur Arbeit. Man muss sich einen Partner denken, der an ähnlichen Fragen herumwürgt [ ... ] Je verbrannter die Erde war, die Frisch im kleinen Kulturkosmos Zürich hinterließ, desto mehr wurde ihm als Autor bewusst, wie wichtig ein 'Klima der Sympathie‘ war. Ohne Leser als Partner fühlte man sich, 'als habe man keine Luft unter den Flügeln.

    Das viel zitierte Wort "Du sollst dir kein Bildnis machen" stammt aus diesem ersten Tagebuch; das Gebot entspricht, recht verstanden, dem trotzigen Satz "Ich bin nicht Stiller", es sind die beiden Seiten einer Medaille. Der Stiller-Roman ist in wesentlichen Zügen in Amerika konzipiert worden; dank eines Stipendiums der Rockefeller Foundation reiste Frisch ausgiebig durch die USA und Mexiko; am 3. Mai 1951 traf er in New York ein, ein Jahr später kehrte er nach Europa zurück. Mit der Rückkehr eines Amerika-Reisenden in die Schweiz setzt der Roman "Stiller" ein. Umso mehr gilt es, Frischs Diktum im Auge zu behalten: "Ich bin nicht Stiller". Julian Schütts Biografie eines Aufstiegs, die klug ist und ganz ohne Phrasen auskommt - sie zeigt, dass der nunmehr weltberühmte Schweizer Schriftsteller Max Frisch sich im Jahr 1954 erfolgreich gehäutet und gleichsam den Ludwig Anatol Stiller in sich selbst abgeworfen hat. Wenn man es wiederum recht versteht, lässt sich auf die Beziehung Frisch/Stiller die "unübertrefflich prägnante" Formel aus dem Tagebuch 1946/49 anwenden:

    Das Fremdeste, was man erleben kann, ist das Eigene einmal von außen gesehen.

    Julian Schütt: Max Frisch. Biografie eines Aufstiegs. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 592 S., 24,90 Euro.