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"Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort" (3/3)

Die Angst vor der drohenden Verdrängung des Deutschen qua Fremdwort begleitet den Gebrauch der deutschen Sprache schon einige Jahrhunderte. Doch nicht nur Anglizismen rufen mit schöner Regelmäßigkeit engagierte Sprachkritiker auf den Plan.

Von Dagmar Lorenz | 30.09.2012
    Im dritten Teil unserer Dreierserie "Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort" widmet sich Literaturwissenschaftlerin Dagmar Lorenz in ihrem Essay dem Thema

    "Vom Jargon der Eigentlichkeit zum Gender Slang"

    "Angry Birds für Bastler:
    Ein Selbstbau-Gamecontroller soll die Haptik des Kultspiels "Angry Birds" verbessern, eine Webcam das Wohnzimmer zur Skype-Telefonzelle aufrüsten und ein Mini-PC dumme Fernseher schlau machen: die Gadgets der Woche."

    Dies ist die Ankündigung zu einem Artikel über neue Computeranwendungen, gefunden in der Internetausgabe des Nachrichtenmagazins "Spiegel": ein Text, der - so unschuldig er auch auf den ersten Blick daherkommt - sich in den Augen unserer deutschen Sprachhegerinnen und -heger gleich mehrfach versündigt haben dürfte.

    Erstes Vergehen: die Überschrift, im Journalistenjargon auch "Headline" genannt: Wäre der "Spiegel" das Mitteilungsblatt einer x-beliebigen deutschen Stadtverwaltung und seine Redaktion das örtliche Presseamt, so hätte ein Satz wie: "Angry Birds für Bastler" nie und nimmer die Zensur, pardon, die geschlechtersensible Sichtung der örtlichen Gleichstellungsbeauftragten passiert.

    Aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit müsse es, so argumentierte dann unsere fiktive Gleichstellungsbeauftragte, zwingend heißen: "Angry Birds für Bastlerinnen und Bastler" , oder "Angry Birds für Bastler Schrägstrich "innen"" oder - vermutlich eher in Universitätsstädten - "Angry Birds für "BastlerInnen" mit groß geschriebenem Binnen-"I". Denkbar wäre auch - das schlägt beispielsweise das vom Familienministerium einst finanzierte GenderKompetenzZentrum Berlin vor: "Angry Birds für Bastelnde".

    Zweites Vergehen: die leidigen Anglizismen. Viel gescholten etwa durch den Nestor der populären Sprachkritik, Wolf Schneider, der bereits Generationen von Absolventen deutscher Journalistenschulen mit Kursen und Buchtiteln à la "Deutsch für Profis", respektive "Wege zu gutem Stil", wie es im Untertitel heißt, in den rauen Medienalltag entlassen hat. Ob die "Gadgets der Woche" Gnade vor seinen gestrengen Augen finden würden? Eher nicht.

    Drittes Vergehen: Wie war das? "Ein Selbstbau-Gamecontroller soll die Haptik des Kultspiels ‘Angry Birds’ verbessern, eine Webcam das Wohnzimmer zur Skype-Telefonzelle aufrüsten". Die Vorstellung, dass eine Webkamera selbsttätig das eigene Wohnzimmer aufrüsten könnte - wenn auch vielleicht eher "umrüsten" gemeint ist und das Ergebnis eine Telefonzelle zu friedlichem Gebrauch sein soll, mutet dann doch leicht gruselig an.

    Ein Sprach-Unterhalter und Glossenschreiber wie Bastian Sick würde sich eine solche "Steilvorlage", wie es heutzutage in Politik und Medien heißt, kaum entgehen lassen. Denn - ähnlich wie Wolf Schneider - verspricht auch Bastian Sick seinem Publikum vor allem einen Leitfaden zu vermeintlich richtigem Sprachgebrauch. Wenn auch sein Buch mit dem schönen Titel "Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod" zum spontanen Durchstöbern des Sprachdickichts ermuntert - am Ende der Exkursion stehen dann doch wieder Hinweisschilder. Im Vorwort heißt es dazu:

    "Zunächst einmal ist es kein Lehrbuch, allenfalls ein lehrreiches Buch. Sie können es von vorn nach hinten lesen oder von hinten nach vorn oder einfach irgendwo mittendrin anfangen. Die Orientierung verlieren dabei können Sie nicht, denn überall sind Hinweisschilder aufgestellt, die Ihnen helfen, sich im Irrgarten der deutschen Sprache zurechtzufinden."
    Den Irrgarten der deutschen Sprache beackern darüber hinaus seit vielen Jahren diverse Sprachvereine, wie etwa die "Gesellschaft für deutsche Sprache" oder der "Verein deutsche Sprache". Letzterer hat einen sogenannten Anglizismen-Index herausgegeben, über den es sicherheitshalber auf der Vereinswebpage heißt:

    "Der Anglizismen-Index ist weder puristisch noch fremdwortfeindlich."

    Dennoch muss man sich offenbar Sorgen machen, denn:

    "Der Index ordnet die 7.400 aufgeführten Anglizismen zu 3 Prozent als den deutschen Wortschatz ergänzend ein; 18 Prozent differenzieren ihn zumindest, während 79 Prozent der Anglizismen des Index existierende, voll funktionsfähige und verständliche Wörter aus der deutschen Sprache zu verdrängen drohen."

    Die Angst vor der drohenden Verdrängung des Deutschen qua Fremdwort begleitet den Gebrauch der deutschen Sprache schon einige Jahrhunderte lang: Waren es in früheren Epochen vor allem Fremdwörter aus dem Französischen, so sind es schon seit einigen Jahrzehnten vor allem gewisse Anglizismen, welche mit schöner Regelmäßigkeit engagierte Sprachkritiker auf den Plan rufen. Letztere sorgen sich darüber hinaus auch immer wieder um Stilblüten, die falsche Verwendung von Dativ- und Genitiv-Formen, die sträfliche Vernachlässigung von Konjunktiven.

    "Laienlinguistische Sprachkritik" nennt solches Tun die akademische Sprachwissenschaft, die sich selbst wohlweislich jeder Werturteile enthält. Sie verweist auf den antiquierten Sprachbegriff, der solchen sprachlichen Reinheitsbestrebungen zugrunde liegt. Während sich in der Linguistik nämlich spätestens mit Ferdinand de Saussure zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Auffassung von Sprache durchsetzte, die, statt auf naturgegebenen Gesetzmäßigkeiten, auf einem per Konvention oder Vereinbarung geregelten System von Zeichen beruht, hielt die populäre Sprachkritik an einem Begriff von Sprache als einem Organismus fest, der "erkranken" und "verfallen" kann und deshalb "geschützt", "bewahrt" und "gepflegt" werden muss.

    Zuweilen allerdings kann es auch vorkommen, dass Sprachkritik sich gerade gegen die behauptete Naturwüchsigkeit eines bestimmten Sprachgebrauchs richtet. Allerdings: Auch in diesen Fällen handelt es sich nicht um Linguistik. Vielmehr fungiert hier Sprache als Symptom politischer, moralischer - oder auch ideologischer Positionen. Der öffentliche Sprachgebrauch und die Debatten darüber spiegeln ein Stück deutsche Gegenwartsgeschichte wider – was die folgenden Beispiele ohne Anspruch auf Vollständigkeit illustrieren:

    Beispiel eins: Die Falschmünzer oder Adornos Jargonkritik:
    Im Jahre 1964 - die Studentengeneration von 1968 saß noch weitgehend geschlossen im Hörsaal - veröffentlichte Theodor W. Adorno im Frankfurter Suhrkamp-Verlag einen schmalen Band mit dem Titel "Jargon der Eigentlichkeit." Darin wandte er sich gegen bestimmte Sprechusancen im damaligen westdeutschen Kultur- und Gesellschaftsleben. Adorno schreibt:

    "In Deutschland wird ein Jargon der Eigentlichkeit gesprochen, mehr noch geschrieben, [ ... ]. Er erstreckt sich von der Philosophie und Theologie nicht bloß Evangelischer Akademien über die Pädagogik, über Volkshochschulen und Jugendbünde bis zur gehobenen Redeweise von Deputierten aus Wirtschaft und Verwaltung."
    Gemeint sind die Sprachattitüden eines vermeintlichen Tiefsinns, die vor allem in den 1950er und 1960er-Jahren Konjunktur hatten. In den von Adorno beschriebenen Kreisen gab man sich gerne modernekritisch und dekorierte seine Sehnsüchte nach dem Überschaubaren, Naturhaften und Ursprünglichen mit solch hochtrabenden Floskeln wie dem " Wesen der Dinge" oder dem "Eigentlichen" im Gegensatz zum "Uneigentlichen". Abgeschaut ist diese Begrifflichkeit bei Martin Heidegger, der - so spöttelt Adorno - den Vorwurf des Provinzialismus dadurch entkräfte, dass er ihn positiv wende. Als amüsantes Beispiel hierfür dient Adorno etwa folgendes Stück Heidegger-Prosa:

    "Wenn in tiefer Winternacht ein wilder Schneesturm mit seinen Stößen um die Hütte rast und alles verhängt und verhüllt, dann ist die hohe Zeit der Philosophie. Ihr Fragen muss dann einfach und wesentlich werden."

    Dazu Adorno:

    "Ob Fragen wesentlich sind, darüber lässt allenfalls nach der Antwort sich urteilen, es lässt sich nicht vorwegnehmen und schon gar nicht nach dem Maß einer meteorologischen Ereignissen nachgebildeten Einfachheit."
    Wenn Adorno solche Passagen auf die darin verwendete Begrifflichkeit hin abklopft, geht es ihm nicht darum, eine, wie er schreibt, "bescheidene Anzahl signalhaft einschnappender Wörter" auf den Index unerlaubten Wortgebrauchs zu setzen. Er beabsichtigt nach eigenem Bekunden vielmehr, der "Sprachfunktion" dieser Signalwörter "im Jargon nachzugehen".

    Um "Jargon" handelt es sich, nach Adorno, dann, wenn die konkrete Bedeutung an und für sich banaler Worte überspannt wird, bis letztere schließlich gar nichts Konkretes mehr bedeuten. Insofern bewirkt der Gebrauch des Jargons, dass es schließlich gar nicht mehr auf den Inhalt des Gesagten ankommt, sondern ausschließlich darauf, eine bestimmte Wirkung bei einem Publikum zu erzielen, dessen Zustimmung man sich ohnehin schon sicher sein kann. Argumentation ist da nicht mehr erforderlich, ebenso wenig muss man sich als Zuhörer der Mühe unterziehen, das Gesagte zu verstehen.

    Jargonhafte, floskelhafte Sprache tendiert also zur Inhaltsleere. Ihre Worte sind, wie Adorno schreibt, beliebig "austauschbare Spielmarken". Dennoch suggerieren Spielmarken-Begriffe, wie "Wesen", "Eigentlichkeit", "Urgrund" fälschlicherweise, dass ihnen ein unveränderlicher Gehalt zukomme, der jeder Veränderung, jeder Geschichtlichkeit von Sprache entzogen sei.

    Bei all seiner Kritik an der sprachlichen Falschmünzerei war es Adorno jedoch in letzter Konsequenz nicht um Sprach-, sondern um Ideologiekritik zu tun. Wenige Jahre später dann kam zwar der Gebrauch der "Eigentlichkeits-Sprache" aus der Mode - der Jargon jedoch keineswegs. Der wandelte sich spätestens in den 1970er-Jahren zum ideologiekritischen Jargon der Frankfurter Schule. Und ein gutes Jahrzehnt lang tönte aus Volkshochschulen, Uni-Seminaren, evangelischen Akademien und Feuilletons das "Sich selbst zur Ideologie werden" des "falschen Bewusstseins" in ebensolch formelhafter Weise, wie vordem das Eigentliche aus den eingebildeten oder tatsächlichen Blockhütten der Heideggerianer.

    Beispiel zwei: Von Unmenschen und Unwörtern:
    Hatte es sich Adorno einst mit guten Gründen versagt, dem Jargon mit einem Index verbotener Wörter zu Leibe zu rücken, so sind andere Autoren in dieser Hinsicht weniger zögerlich. Die Kritik an einem Sprachgebrauch, der als scheinhaft, in ethischer Hinsicht defizitär oder als einem bestimmten Konzept von Wirklichkeit nicht angemessen empfunden wird, verführt offenbar zum Aussprechen von Berührungstabus - und zur Aufrichtung gebrauchssprachlicher Normen.

    Dass damit zweifellos noble Absichten verbunden sein können, zeigt das bekannte Beispiel eines Buches, das 1957 unter dem Titel "Aus dem Wörterbuch des Unmenschen" erschien. Verfasst hatten es die Publizisten Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind in der aufklärerischen Absicht, dem deutschen Publikum etwas mehr als ein Jahrzehnt nach dem Krieg die Sprache des Nationalsozialismus "fremd zu machen", wie die Autoren sich ausdrückten.
    Zahlreiche Wörter, die Sternberger und seine Mitautoren damals als sprachliche Symptome nationalsozialistischer Unmenschlichkeit auflisteten, darunter zum Beispiel "Zeitgeschehen", "durchführen", "Gestaltung" oder "Kontakte" - erscheinen uns heutzutage nicht mehr sonderlich suspekt zu sein. Den Autoren von damals war es allerdings nicht primär um isolierte Worte zu tun. Sie leiteten die Bedeutung eines Wortes aus seinem Gebrauch in bestimmten Zusammenhängen ab - wobei, wie sie behaupteten - die Kontextbedeutung im Verlaufe der Zeit in die Wortbedeutung eingehen und sie dominieren könne.
    Aber: Sind es wirklich die Wörter, denen moralische Qualitäten zukommen? Oder sind diese moralischen Qualitäten nicht vielmehr als Eigenschaften von Sprechern zu betrachten, die diese Wörter zu bestimmten Zwecken gebrauchen? Dolf Sternberger jedenfalls war von der Existenz einer moralisch als unmenschlich zu wertenden Sprache überzeugt:

    "Meine Behauptung, nein: meine Überzeugung ist, dass diese Maßstäbe der Sprache nicht fremd oder äußerlich, sondern ganz und gar angemessen und eingewachsen sind - eben deswegen, weil die Menschlichkeit der Sprache ihr letztes und schärfstes Wesensmerkmal bildet, und weil man sich Geist und Sprache ‘nie identisch genug denken kann’ - im Guten wie im Bösen."

    Solchen sprachkritischen Programmen widersprach schon damals der Sprachwissenschaftler Peter von Polenz, erblickte er in ihnen doch untaugliche Versuche, eine moralisch motivierte Kulturkritik mit Hilfe veralteter sprachwissenschaftlicher Methodik zu begründen: Denn solches Urteilen über "die Sprache" ignoriert, nach von Polenz, ihre Unterscheidung in "langue" , dem durch Regeln bestimmten Sprachsystem, und "parole", der in ihm realisierten Redeweise. Peter von Polenz:

    "Sobald aber solche Deutung von Sprache zu einer Verurteilung wird [ ... ], müssen sich die Wege von Sprachkritik und Sprachwissenschaft trennen. Sprachkritik hat es dann nur mit Sprache als ‘parole’ zu tun, ist also Stilkritik gegenüber dem Sprachgebrauch. Erhebt sich dennoch Anspruch auf Sprache als ‘langue’, ist sie nur eine Methode der Kulturkritik."

    Dergleichen Einwände jedoch bewirkten wenig. Statt sich in mühsamer Kleinarbeit den Strukturen der Sprache und den historischen Ursachen eines bestimmten Sprachgebrauchs zu nähern, schien es verlockender, das gesamte Sprachsystem selbst in den moralischen Wertemaßstab einzubinden. Das jedenfalls suggeriert der Buchtitel "Linguistik der Lüge" von Harald Weinrich, der seit seinem Erscheinen im Jahre 1966 immer wieder zahlreiche Neuauflagen erlebte. Dort heißt es:
    "Es besteht kein Zweifel, dass Wörter, mit denen viel gelogen worden ist, selber verlogen werden. [ ... ] Wer sie dennoch gebraucht, ist ein Lügner, oder Opfer einer Lüge. Lügen verderben mehr als den Stil, sie verderben die Sprache."

    Hatten sich Dolf Sternberger und seine Mitautoren in ihrer Sammlung "Aus dem Wörterbuch des Unmenschen" noch die Mühe gemacht, die zu kritisierenden Wörter und Wortzusammensetzungen - wenn auch mit linguistisch unzureichenden Mitteln - in ihren unterschiedlichen historischen Funktionalisierungen zu analysieren, so begnügen sich neuere normative Sprachkritiken mit dem moralisch begründeten Verdikt. Eine sprachkritische Aktion, die alljährlich immer wieder für entsprechende Meldungen in den Medien sorgt, ist etwa die von einer Jury aus Germanisten und journalistischen Gastjuroren vorgenommenen Wahl zum "Unwort des Jahres".

    Zum "Unwort des Jahres" werden in jedem Jahr bis zu drei Begriffe aus dem aktuellen öffentlichen Sprachgebrauch gewählt und der Öffentlichkeit als abschreckende Negativ-Beispiele präsentiert - und zwar mit dem volkspädagogisch inspirierten Ziel, wie es im Internet heißt,

    "das Sprachbewusstsein und die Sprachsensibilität in der Bevölkerung zu fördern."

    Chancen, in die nähere Wahl zum "Unwort des Jahres" zu kommen, haben dabei , so der Informationstext,

    "Wörter und Formulierungen, die gegen sachliche Angemessenheit oder Humanität verstoßen."

    Näher erläutert wird dies anhand von Beispielen. So sind Wörter und Wendungen zu indizieren,

    "weil sie gegen das Prinzip der Menschenwürde verstoßen,
    weil sie gegen das Prinzip der Demokratie verstoßen,
    weil sie einzelne gesellschaftliche Gruppen diskriminieren,
    weil sie euphemistisch, verschleiernd oder gar irreführend sind."


    Dass Wörter immer in komplexe und teilweise höchst unterschiedliche kommunikative, zeitliche und situative Zusammenhänge eingebunden sind, die ihre jeweilige Bedeutung konnotieren, dass diese Bedeutungen zudem häufig nicht eindeutig bestimmbar, geschweige denn bewertbar sind, dass daher die Juroren ihre Kritik am einzelnen Wort geradezu zwangsläufig mit einer oft auf subjektiver Einschätzung fußenden Haltung begründen müssen, die seinem Gebrauch - vermeintlich - zugrunde liege : all dies lässt sich am Beispiel eines der "Unwörter" des Jahres 2011 besichtigen.

    "Gutmensch. Begründung: Mit dem Ausdruck ‘Gutmensch’ wird
    Insbesondere in Internet-Foren das ethische Ideal des ‘guten Menschen’ in hämischer Weise aufgegriffen, um Andersdenkende pauschal und ohne Ansehung ihrer Argumente zu diffamieren und als naiv abzuqualifizieren. Ähnlich wie der meist ebenfalls in diffamierender Absicht gebrauchte Ausdruck ‘Wutbürger’ widerspricht der abwertend verwendete Ausdruck ‘Gutmensch’ Grundprinzipien der Demokratie, zu denen die notwendige Orientierung politischen Handelns an ethischen Prinzipien und das Ideal der Aushandlung gemeinsamer gesellschaftlicher Wertorientierungen in gemeinsamer rationaler Diskussion gehören."


    Dass der Gebrauch der Vokabel "Gutmensch" jener Demokratie widersprechen soll, zu deren Grundprinzipien die Redefreiheit gehört, erstaunt dabei ebenso wie die Tatsache, dass sich hier offenbar ein Gremium von Sprachkritikern anmaßt, darüber zu richten, welche Wörter den Prinzipien der Demokratie zuwiderlaufen und welche nicht. Einmal davon abgesehen zeigt das Beispiel jedoch, wie problematisch solche Verdikte im Namen des Ethischen sind, wenn sie es mit uneigentlichen Wortschöpfungen zu tun haben, die mit der Bedeutungskluft zwischen Gesagtem und Gemeintem spielen.

    Der viel belächelte "Gutmensch" ist dann eben nicht gleichzusetzen mit dem, wie die Sprachjuroren schreiben, "ethischen Ideal des guten Menschen", sondern vielmehr mit dessen ironisch gezeichnetem Zerrbild. Klaus Bittermann, der dem "Gutmenschen" schon 1994 ein ganzes Buch widmete, das er - in Anspielung auf das Wörterbuch des Unmenschen - mit Wörterbuch des Gutmenschen betitelte, zeichnet darin das satirische Porträt eines Typus aus einem ehemals politisch links gerichteten Öko-Milieu, in dessen Betroffenheitsjargon sich moralinsaure Selbstgerechtigkeit mit Gesinnungskitsch mischt.

    Es spricht übrigens einiges für die historische Verwandtschaft des Gutmenschen mit den zahlreichen uns aus der Literatur des 19. Jahrhundert überlieferten Spießbürgern und gestrengen Tugendwächtern. Und schlägt man gar bei Friedrich Nietzsche und in dessen Schrift Zur Genealogie der Moral nach, so mag man selbst dem "guten Menschen" nicht immer trauen:

    "Alles, was sich heute als ‘guter Mensch’ fühlt, ist vollkommen unfähig, zu irgend einer Sache anders zu stehn als unehrlich-verlogen, abgründlich-verlogen, aber unschuldig-verlogen, treuherzig-verlogen, blauäugig-verlogen, tugendhaft-verlogen. Diese ‘guten Menschen’, - sie sind allesamt jetzt in Grund und Boden vermoralisiert und in Hinsicht auf Ehrlichkeit zu Schanden gemacht und verhunzt für alle Ewigkeit: wer von ihnen hielte noch eine Wahrheit ‘über den Menschen’ aus!."

    Beispiel drei: Genderslang und Sprachdiktat:
    Wer heutzutage, im Jahre 2012, von "den Studenten" oder "den Lehrern" spricht und damit Lehrer und Studenten beiderlei Geschlechts meint, der setzt sich dem Verdacht aus, eine männlich geprägte Sprache in frauendiskriminierender Absicht zu gebrauchen, oder, schlimmer noch: den Ausschluss von Frauen aus der Sprache zu betreiben. In jedem Falle wird er sich rechtfertigen müssen.

    Da hilft es ihm wenig, dass er darauf hinweist, es handele sich bei "den Studenten" um eine allgemeine Bezeichnung für Menschen, die studieren, und also keineswegs um eine "männliche" Formulierung , in der die Frauen nur am Rande "mitgemeint" sind, wie die feministische Sprachkritik immer wieder behauptet. Es hilft ihm ebenso wenig, dass er auf dem Unterschied zwischen Genus - dem grammatischen Geschlecht - und Sexus, dem natürlichen, biologischen Geschlecht, beharrt.

    Und dass er demnach argumentiert: Das deutsche Sprachsystem kennte bekanntlich drei Genera, nämlich das Maskulinum, das Femininum und das Neutrum. Insofern sei mit dem simplen Kurzschluss vom grammatischen auf das natürliche Geschlecht nicht viel gewonnen - was Wörter belegten wie "das Mädchen", "das Vereinsmitglied" oder gar "der Tisch".

    Doch Argumente, die auf Sprachstrukturen Bezug nehmen, finden kaum mehr Beachtung. Vor rund drei Jahrzehnten hatten sich feministische Sprachkritikerinnen erstmals daran gemacht, "das Deutsche als Männersprache" zu entlarven, wie ein Buchtitel von damals hieß. In der fragwürdigen Tradition staatlicher Sprachlenkung ließ sich daraus dann die Forderung ableiten, dass die Sprache nun zugunsten von Frauen geändert werden müsse.

    Der daraus resultierende Jargon kompensatorischer Geschlechtergerechtigkeit herrscht inzwischen in allen Institutionen unserer Mainstream-Kultur. Im Bemühen, dem vermeintlichen Ausschluss von Frauen aus der Sprache zu begegnen und Frauen, wie es hieß, sprachlich "sichtbar zu machen", wurden Personen-, Gruppen- und Berufsbezeichnungen kreiert, Syntax und Lexik teilweise verändert.

    Über den korrekten Gebrauch der sogenannten "geschlechtergerechten", beziehungsweise "geschlechtersensiblen" Sprache in Behörden, Unternehmen und Universitäten wachen inzwischen Kontrollgremien, die sich wiederum auf entsprechende Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften stützen. Was dies für das Texten etwa von Infobroschüren bedeutet, wird in einer Checkliste zur Öffentlichkeitsarbeit des Familienministeriums wie folgt erläutert:

    "Geschlechtersensibel heißt nicht nur, auf differenzierende Formulierungen zu achten, sondern auch, ausschließlich männliche Formulierungen gerade in männlich dominierten Bereichen (wie zum Beispiel "Wissenschaftler", "Professor", "Chef") bewusst zu vermeiden. Sprachklischees sollten tabu sein (‘Lieschen Müller’ für die Frau von der Straße mit dem einfachen Begriffsvermögen, ‘Otto Normalverbraucher’ für den Durchschnittstypen in der Gesellschaft). Verallgemeinernde Aussagen sollen durch differenzierte Aussagen zu Männern und Frauen ersetzt werden. Sexismen sind nicht akzeptabel. Eingangsbemerkungen bei Broschüren oder Berichten wie ‘Zur besseren Lesbarkeit wird das generische Maskulinum verwendet’ oder ‘Bei männlichen Formulierungen sind Frauen mitgedacht’ sind ebenfalls nicht akzeptabel."

    Mit der Gerechtigkeit ist das ja bekanntlich so eine Sache: Wer sie partout herbeizwingen will, verkehrt die gute Absicht oft ins Gegenteil: Und so wäre es ja denkbar, dass es gerade der von den Geschlechtersensiblen beförderte sprachliche Separatismus ist, - diese geradezu obsessive Einteilung aller Tätigkeiten, Personen und Bezeichnungen in "weiblich" und "männlich" - , der zu einer nahezu ausschließlichen Hervorhebung des biologischen Geschlechts führt - und damit gerade zur wohlfeilen Zementierung jener Geschlechterklischees, die man doch vorgeblich bekämpfen will.

    Daneben freilich machen sich die Widerhaken des sprachlichen Geschlechtergerechtigkeits-Programms schon in kurzen alltagssprachlichen Sätzen störend bemerkbar: Dann nämlich, wenn Klammer- und Bindestrich-Bezeichnungen ebenso wie das berühmte große Binnen-I mitten im Wort, lästige Verständnisbarrieren vor ZuhörerInnen und LeserInnen auftürmen, wie folgender Satz der Sprachwissenschaftlerin Ingrid Samel unfreiwillig belegt:

    "Ob sich mit dieser Variante des Sprachgebrauchs Sprecherinnen und Sprecher, die der Sprachideologie der Gleichbehandlung anhängen, gegenüber den Vertreterinnen und Vertretern der androzentrischen Sprachideologie durchsetzen, kann von Sprachdokumentarinnen und -dokumentaren beobachtet werden."

    Doch Gerechtigkeit kann auch erfinderisch sein. Zwar geht man nicht soweit, aus sprachökonomischen Gründen wieder auf das bewährte generische Maskulinum zurückzugreifen, doch man kreiert Auswege. Und so hat es sich in jüngster Zeit eingebürgert, die groß geschriebenen Binnen I-s und Schrägstrich-Kompositionen durch ein - scheinbar neutrales - Partizip zu ersetzen.

    Auf diese Weise lassen sich dann tatsächlich gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Die lästigen Paarbezeichnungen - "Studentinnen und Studenten" - inklusive Klammerkonstruktionen kann man sich guten Gewissens sparen - ohne in den hässlichen Verdacht zu geraten, in männliche Sprachdominanz zurückzufallen. Und so ist es sicher kein Zufall, dass sich das substantivierte Partizip Präsens als neue geschlechtergerechte Personenbezeichnung vor allem an Universitäten zunehmender Beliebtheit erfreut.

    Ob das Partizip also wirklich zum Genus-Ersatz taugt? Auch die Journalistin Ulrike Steglich zweifelt in ihrer Internetglosse daran, nachdem sie als Redakteurin einer Berliner Stadtteilzeitung offenbar so manches Mal mit geschlechtersensiblen Sprachvorschlägen bedacht wurde:

    "Was feministisch angeblich korrekt ist, ist einfach grammatischer Schwachsinn. Zeitformen scheinen für die Frauenbewegten keine Rolle mehr zu spielen. Meine Söhne lernen gerade Partizipien - was sollen sie, bitte schön, aus diesem -enden-Quark lernen? Ein Lesender ist nun mal etwas anderes als ein Leser. Wer schützt Autoren vor diesem Sprachirrsinn? Und warum liest man in feministisch bewegten Foren eigentlich nie von ‘VerbrecherInnen’?"

    Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der vereinfachenden Optik, welche - seit den 1980er-Jahren - die vorherrschende Tradition der populären feministischen Sprachkritik in der Bundesrepublik Deutschland bestimmt. Sprache wird in dieser durch die Autorinnen Luise F. Pusch und Senta Trömel-Plötz repräsentierten Tradition ausschließlich als Ausdruck männlicher Vorherrschaft und Macht betrachtet, Kommunikationshandlungen eindimensional nach der Zugehörigkeit der Beteiligten zum männlichen oder weiblichen Geschlecht interpretiert und bewertet: Was dann regelmäßig im essentialistischen Klischee mündet, wonach "der Mann" einen konfrontativen Gesprächsstil praktiziere, während "die Frau" in friedlicher und kooperativer Weise kommuniziere.

    Dass solch naive Zuschreibungen durch keine seriöse empirische Forschung belegt werden kann - darauf macht in den letzten Jahren eine jüngere Generation von Sprach- und Kulturwissenschaftlerinnen aufmerksam. In ihren Augen mehr als fraglich ist auch jene simplifizierende Vorstellung, auf der letztlich die behördlichen Regelungen zum Gebrauch einer geschlechtergerechten Sprache fußen und die von der Voraussetzung ausgeht, dass staatliche Eingriffe in den Sprachgebrauch letztlich auch eine Veränderung des Denkens bewirken müssten. Die Sprachwissenschaftlerin Ruth Ayaß stellt in ihrem Buch über "Kommunikation und Geschlecht "gar die Frage,

    " ... inwiefern die feministische Sprachkritik zu einer Veränderung von Sprache beigetragen hat. In offiziellen Dokumenten werden die Richtlinien für einen "geschlechtergerechten" Sprachgebrauch heute vielfach umgesetzt. Ob sich dieser offizielle Wandel auch umfassend (über akademische Zirkel hinaus) in der Alltagssprache durchsetzen kann, ist fraglich. Auch andere Versuche von Sprachnormierungen erwiesen sich als eher erfolglos."

    Das allerdings wiederum lässt hoffen. Was aber das Reden und Schreiben in und über die Sprache angeht, so lohnt es sich, noch einmal nachzuschlagen - dieses Mal allerdings bei Jacob Grimm, der in der Vorrede zu seiner Deutschen Grammatik aus dem Jahre 1819 allen Sprachwissenschaftlern, Sprachkritikern und Sprachwächtern folgende Zeilen ins Stammbuch schrieb:

    "Sobald die Kritik gesetzgeberisch werden will, verleiht sie dem gegenwärtigen Zustand der Sprache kein neues Leben, sondern stört es gerade auf das Empfindlichste. Weiß sie sich dagegen von dieser falschen Ansicht frei zu halten, so ist sie eine wesentliche Stütze und Bedingung für das Studium der Sprache und der Poesie."

    Am kommenden Feiertag zur Deutschen Einheit (3.Oktober 2012) bringen wir den Essay von Ingrid Füller "Altern und Jugendwahn. Von der Last mit der Vergänglichkeit".
    Der Philosoph Theodor W. Adorno auf einem Archivbild vom 10. Sept. 1968
    Theodor W. Adorno (Archivbild aus dem Jahr 1968) wandte sich gegen bestimmte Sprechusancen im damaligen westdeutschen Kultur- und Gesellschaftsleben. (AP Archiv)