Samstag, 20. April 2024

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"Ich hab die Troika erfunden"

Er begann als FDP-Politiker, wechselte später zu SPD und machte dort Karriere als EU-Kommissar in Brüssel. Günter Verheugen erzählt von seinem Bruch mit den Liberalen, von der Konstellation des sozialdemokratischen Dreierteams Scharping, Schröder, Lafontaine bei der Bundestagswahl 1994 und von der Enttäuschung, doch nicht Minister im ersten Kabinett Schröders geworden zu sein.

Günter Verheugen im Gespräch mit Stefan Detjen | 26.04.2012
    Sprecher: Bevor Günter Verheugen in die Politik ging, wollte er Journalist werden. Der gebürtige Bad Kreuznacher, Jahrgang 1944, studierte nach einem Volontariat bei der "Neuen Rhein-Ruhr-Zeitung" in Bonn und Köln Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaften. Seine politische Karriere startete Verheugen in den 60er-Jahren bei der FDP, für die er zwischen 1978 und 1982 Generalsekretär war. Als Parteichef Hans-Dietrich Genscher aus der Koalition mit der SPD ausbrach und zur Union wechselte, kehrte Verheugen der Partei den Rücken und trat der SPD bei. Für sie saß er viele Jahre im Deutschen Bundestag. Er war Chefredakteur des SPD-Organs "Vorwärts", Bundesgeschäftsführer der Partei und wurde schließlich, nach der Wahl der rot-grünen Bundesregierung 1998, Staatsminister im Auswärtigen Amt unter Joschka Fischer. Diese Funktion erwies sich als Sprungbrett in die EU-Kommission nach Brüssel. Als Erweiterungskommissar bereitete Günter Verheugen die Osterweiterung der Union im Jahre 2004 vor und war anschließend in der Kommission von José Manuel Barroso verantwortlich für Unternehmen und Industrie. Mittlerweile hat sich Günter Verheugen aus der aktiven Politik zurückgezogen. Seit 2009 ist er Honorarprofessor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und leitet eine von ihm gegründete europapolitische Beratungsfirma. Günter Verheugen sammelt Antiquitäten und gilt als ausgesprochen belesen.

    Günter Verheugen: Diese FDP war damals eine noch sehr stark nationalliberal geprägte Partei.

    Sprecher: Doppelstart: von der FDP zur SPD, und die Lage des Liberalismus heute.

    Stefan Detjen: Herr Verheugen: 1980 veröffentlichte der damalige Generalsekretär der FDP, Günter Verheugen, ein Buch, das hieß: "Eine Zukunft für Deutschland". Man liest darin eine scharfe Kritik am politischen Betrieb in Deutschland, vor allen Dingen im Zusammenspiel von Politik und Medien, von einer Mediendemokratie, von Seifenblasenpolitik ist da die Rede, von einer Ablösung sachlicher Diskussionen durch PR. Nur eine Frage stellt der Autor dann, und zwar, Zitat: "Wer hat wen zurechtgebogen - die Politik die Medien oder die Medien die Politik?" Haben Sie 32 Jahre später eine Antwort darauf gefunden?

    Verheugen: 32 Jahre später würde ich sagen, es ist eher noch schlimmer geworden, und meine Antwort ist hier stabil: Die Verantwortung dafür liegt bei der Politik, die Medien mehr und mehr instrumentalisiert und Medien dazu benutzt, sehr eigene Partikularinteressen zu befolgen.

    Detjen: Noch mal zurück in die 80er-Jahre - damals sprach ein 38-Jähriger, der schon eine beachtliche politische Laufbahn hinter sich hatte. Was für eine Gemütslage haben Sie damals zum Ausdruck gegeben?

    Verheugen: Ich war unzufrieden mit dem Zustand der deutschen Politik, ich war unzufrieden mit meiner eigenen Partei, das war damals noch die FDP, ich war aber auch ein gutes Stück unzufrieden mit mir selbst, weil mir zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon klar war, dass ich viele Dinge hätte anders betreiben sollen, energischer hätte betreiben sollen, dass ich manchmal meine eigenen Möglichkeiten unterschätzt hatte und manchmal meine eigenen Möglichkeiten überschätzt, weshalb ich ja heute immer ein bisschen bedenklich bin, wenn ich sehe, dass Mittdreißiger solche Funktionen übernehmen. Ich kann für mich sagen: Ich war damals schlicht und einfach zu jung für die Ämter, die ich hatte.

    Detjen: Aber Sie hatten ja schon reichlich Erfahrung, ich habe das gesagt, Sie waren schon fast 20 Jahre Mitglied der FDP, sind ganz jung zu der Partei gestoßen. Wenn Sie mal zurückdenken an die 60er-, 70er-Jahre, was für eine Partei haben Sie da eigentlich heute in Erinnerung?

    Verheugen: Zwei ganz verschiedene. Die FDP, in die ich eingetreten bin, und das war ja weniger eine bewusste politische Entscheidung, sondern das war unter dem Einfluss meines Elternhauses, meines Vaters, der ein aktiver FDP-Kommunalpolitiker und Landespolitiker war. Diese FDP war damals eine noch sehr stark nationalliberal und eindeutig wirtschaftsliberal geprägte Parte. Von fortschrittlichem Liberalismus oder sozialem Liberalismus war überhaupt keine Rede. Und die ganzen 60er-Jahre hindurch eigentlich, sagen wir von dem Augenblick an, wo mir bewusst wurde und ich erkannte, wo ich da eigentlich hingeraten war, waren die ganzen 60er-Jahre ein Kampf um eine Veränderung. Und in diesem Kampf stand ich ja nicht alleine. Es gehörten ja Namen dazu, die einen großartigen Klang haben für unser Land. Ich nenne an erster Stelle Gerhart Baum, meinen engen persönlichen Freund, aber ich würde auch Hans-Dietrich Genscher in dieser Reihe nennen, Walter Scheel und viele, viele andere.

    Detjen: Genscher, der für Sie auch eine Leitfigur, auch eine Vaterfigur war? Sie waren beim ihm dann ja ...

    Verheugen: Genscher? Ja, ohne jeden Zweifel war er für mich der entscheidende politische Lehrer, und ich bin auch dankbar dafür. Man kann wirklich eine Menge von ihm lernen. Und er ist auch derjenige, der mich gefördert hat, auch gegen große Widerstände. Es ist ja nicht so, als wäre das einfach gewesen. Aber er hat an mich geglaubt, und der Bruch, der dann später erfolgte, der dann geheilt werden konnte, aber der Bruch, der folgte, war extrem schmerzhaft.

    Detjen: Genscher hat später einmal gesagt, dass er es Ihnen immer hoch angerechnet hat, und das war dann vielleicht der Grund dafür, dass das persönliche Verhältnis darüber nicht zu Bruch gegangen ist, dass Sie ihn als Ersten darüber informiert haben, über Ihren Austritt aus der FDP. Was haben Sie ihm damals gesagt?

    Verheugen: Ich habe ihm gesagt, dass ich keine andere Möglichkeit mehr sah, meine politischen Überzeugungen in die Tat umzusetzen oder für meine eigene politische Überzeugung zu arbeiten als in der SPD. Ich sah in der FDP keine Möglichkeiten mehr für mich. Meine Analyse war jedenfalls: Dort kannst du allenfalls noch eine Art Feigenblatt sein. Das ist dasselbe, was ich dann auch Gerhart Baum, Burkhard Hirsch und Hildegard Hamm-Brücher und anderen gesagt habe, die die Entscheidung nicht getroffen hatten, zu gehen, sondern zu bleiben: Ihr werdet nicht glücklich werden mit dieser Entscheidung.

    Detjen: Sind sie auch nicht.

    Verheugen: Nein. Sind sie nach meiner Meinung nicht.

    Detjen: Die FDP hat unter dieser Abspaltung gelitten, es war keine komplette Abspaltung, was war das damals? War das ein Schisma? Und welche Folgen hat die FDP eigentlich heute noch zu tragen, in ihrer heutigen schwierigen Situation?

    Verheugen: Ich glaube, dass die heutige Lage der FDP auch - nicht nur - auch, und ich kann das nicht in Prozentzahlen beziffern, noch eine Spätfolge der Tatsache ist, dass im Jahre 1982 der sozialliberale Flügel in der FDP praktisch abgetrennt wurde. Und damit hat die FDP etwas verloren, was sie nicht wiedergewonnen hat die folgenden drei Jahrzehnte, nämlich eine ganzheitliche liberale Politik, eine liberale Politik, die alle Spektren unseres gesellschaftlichen und politischen Lebens abdeckt. Und die Verengung wurde, so wie ich das beobachte, immer enger und immer enger, bis ...

    Detjen: Aber sie war politisch ja lange erfolgreich, die FDP hat auch unter Westerwelle hervorragende Ergebnisse eingefahren, die besten Ergebnisse ihrer Geschichte.

    Verheugen: Sie hat Ergebnisse eingefahren auf der Grundlage von Versprechungen und Erwartungen, die nicht zu halten waren. Und die Strafe folgte ja auf dem Fuß. Und ich glaube, dass diese Verengung wirklich auch ein Problem für die politische Kultur in Deutschland ist, denn ich bin nach wie vor fest davon überzeugt: Unser Land sollte eine Partei haben, die liberal ist und sonst nichts anderes. Natürlich kann man als Liberaler in der SPD sein. Ich denke, ich bin ein gutes Beispiel dafür. Man kann auch als Liberaler in der CDU sein oder bei den Grünen, ohne jedes Problem. Aber die Liberalen in den anderen Parteien hätten es wesentlich schwerer, wenn es nicht die Konkurrenz einer Partei gäbe, die nur liberal ist, und sonst nichts.

    Detjen: Es gibt einen eifrigen Wettstreit darüber, wo eigentlich die politische Heimat des Liberalismus heute in der Parteienlandschaft der Bundesrepublik ist. Die Grünen nehmen das für sich in Anspruch, jetzt neuerdings die Piraten, die FDP nach wie vor.

    Verheugen: Das sind alles Elemente. Aber der Versuch, eine liberale Partei zu schaffen, die, wie ich eben gesagt habe, einen ganzheitlichen, einen nicht schichtenspezifischen oder ständespezifischen Liberalismus vertritt, sondern einen ganzheitlichen Liberalismus, dieser Versuch ist nur in den 70er-Jahren gemacht worden.

    Detjen: Was wäre der ganzheitliche Liberalismus? Der klassische Bürgerrechtsliberalismus der 70er-, 80er-Jahre kann es ja so heute auch nicht mehr alleine sein.

    Verheugen: Nein, alleine nicht. Das war es ja auch nicht. Sondern ich würde vier Elemente hier nennen. Für mich selber kommen an erster Stelle ganz eindeutig die bürgerlichen Freiheitsrechte, das ist die Essenz unserer Demokratie und es muss jemand geben, der bedingungslos, mit Zähnen und Klauen die Freiheitsrechte vertritt. Wie Werner Maihofer einmal gesagt hat: Im Zweifelsfall immer für die Freiheit. Das ist Nummer eins. Nummer Zwei ist, und das hört sich vielleicht für einen Sozialdemokraten ungewöhnlich an, ich denke, dass wir an einer regulierten, geordneten Marktwirtschaft festhalten müssen und eine geordnete, mit einem Rahmen versehene Marktwirtschaft verteidigen müssen. Das dritte ist: Freiheit in einer Gesellschaft braucht eine soziale Absicherung. Freiheit bedeutet für Menschen, die in bitterster Armut leben, eigentlich so gut wie nichts. Und dann würde ich an vierter Stelle nennen, und jetzt denke ich allerdings wieder an die 70er-Jahre, da käme heute sicher noch mehr: Die Ergänzung des bestehenden Regelwerks um die Umweltkomponente.

    Detjen: Sie sind 1982 Sozialdemokrat geworden, bekamen dann dort in der bayerischen SPD gleich einen sicheren Listenplatz und sind in den Bundestag eingezogen?

    Verheugen: So sicher war er nicht! Ich bin da gerade noch als Vorletzter reingerutscht. Das war auch nicht so einfach am Anfang, und die Vorstellung, dass man mit offenen Armen da überall willkommen gewesen wäre, schlicht und einfach falsch. Ich musste mich, ich musste mich durch ...

    Detjen: Wie sind Sie denn willkommen geheißen worden?

    Verheugen: Nun ja. Sagten wir einmal, auf der Ebene der obersten Parteiführung mit großer Freundlichkeit. Die haben mich ja auch - ich meine, Willy Brandt ist es ja selber gewesen, der mich gebeten hat zu kommen, und sich dann auch für mich eingesetzt hat. Aber das mittlere Management sah das eher als ein Risiko oder was weiß ich - jedenfalls, ich musste mich durchbeißen, und das ging relativ schnell, aber es war eine harte Zeit. Das waren ein paar harte Jahre.

    Sprecher: Deutschlandfunk. Das Zeitzeugengespräch. Heute mit dem ehemaligen Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, Günter Verheugen.

    Verheugen: Aber ich bin derjenige gewesen, der das Fenster der Gelegenheit erkannt hatte.

    Sprecher: Die ungeplante Karriere. Berufspolitiker in Bonn und der Weg nach Brüssel.

    Detjen: Sie haben in Ihrer politischen Vita ungewöhnlich viele Funktionen ausgeübt. Zunächst stand da eine Ausbildung zum Journalisten, Sie waren dann, das hatten wir schon erwähnt, an der Seite von Hans-Dietrich Genscher zunächst im Bundesinnenministerium, dann im Außenministerium, SPD-Abgeordneter, Chefredakteur der Parteizeitung "Vorwärts", dann Bundesgeschäftsführer der SPD. Wie verläuft so eine politische Karriere eigentlich? Wo waren da die Momente, rückblickend, in denen Sie Dinge angestrebt haben, und wo sind Ihnen Dinge zugefallen, angetragen worden?

    Verheugen: Es ist alles viel zufälliger als man denkt. Es gab keinen Plan. Ich hatte nie einen Karriereplan. Alle Ämter, die ich bekleidet habe, sind mehr oder weniger überraschend zu mir gekommen. Ich war darauf in keiner Weise darauf vorbereitet. Ich hätte nie im Traum daran gedacht, als ich im Innenministerium und im Auswärtigen Amt für Hans-Dietrich Genscher gearbeitet habe, mit ihm gearbeitet habe, dass mich das auf direktem Weg in die Laufbahn eines Berufspolitikers bringen würde. Es war ein Angebot und ich nahm es an. Das Bundestagsmandat bot mir Willy Brandt an, ich nahm es an, war dann kurze Zeit Sprecher des Parteivorstandes, das war ebenfalls ein Angebot. Bis hin zum Kommissar in Brüssel, das war ein Angebot, das Gerhard Schröder mir gemacht hat. Also, um ehrlich zu sein, ich habe mich auf keines der Ämter, das ich bekleidet habe, tatsächlich beworben. Und nie geplant, das oder das willst du unbedingt werden. Also, wir wollen ja ehrlich sein in einer solchen Sendung. Es gibt einen Punkt: Ich wollte gerne Außenminister werden. Und ich war zweimal relativ nahe dran. Aber es war nicht so, dass ich Tag und Nacht an nichts anderes gedacht hätte. Sondern ich dachte, das wäre eine schöne Abrundung gewesen und das wäre eine Möglichkeit gewesen 1994 und dann vielleicht noch einmal eine Möglichkeit 2005, Bundestagswahl, aber die erste Chance ergab sich nicht, weil das Wahlergebnis das nicht erlaubt hatte, und beim zweiten Mal, da war ich schon nicht mehr so sicher, was ich eigentlich tun sollte, und ich fand eigentlich, dass die Aufgabe in Brüssel so faszinierend und so wichtig war, dass da noch so viel zu tun war, dass es mir sehr leicht gefallen ist, dann nicht nach Berlin gegangen zu sein, sondern in Brüssel zu bleiben.

    Detjen: Den ersten Anlauf in die Regierung, den Sie jetzt erwähnt haben, 1994, den haben Sie ja als Bundesgeschäftsführer auch an einer entscheidenden Stelle mitgestaltet - das war ja auch eine Zeit des innerparteilichen Ringens, von Machtkämpfen. Da ist zum ersten Mal der Begriff der Troika geprägt worden, Schröder, Lafontaine, Scharping damals.

    Verheugen: Ich habe sie erfunden. Ich hab die Troika erfunden. Und das war sehr schwierig. Als ich sah, im August 1994, dass so, wie der Wahlkampf lief, unter keinen Umständen zu gewinnen war, sondern dass wir die ganze Breite und Stärke der SPD auch in der Führung demonstrieren mussten, das hieß Lafontaine und Schröder einbeziehen, da musste Rudolf Scharping, der Spitzenkandidat, natürlich davon überzeugt werden. Das war für ihn ja ein bitterer Moment, als ich ihm gesagt habe: Die einzige Chance, die ich noch sehe, ist, wir müssen das so machen. Es spricht für Rudolf Scharping übrigens, dass er das akzeptiert hat. Aber fragen Sie mich bitte nicht nach den Problemen, die damit verbunden waren. Ich war heilfroh, als der Wahltag vorbei war und dieser Ritt über den Bodensee nicht fortgesetzt werden musste. Das war ein Ding, das konnte jeden Tag knallen.

    Detjen: Die Bruchlinien, die dann zu den Abspaltungen von der SPD später geführt haben, die waren ja damals auch in dieser Troika an sich schon angelegt. Was ist da passiert mit dieser Partei, die aus den Höhen einer 36-, 1998 dann über 40-Prozent-Partei heute auf 26, 24 Prozent abgestürzt ist?

    Verheugen: Na ja, es gab doch danach, wenn ich mich richtig erinnere, das Wahlergebnis bei der Bundestagswahl 1998 war ja noch besser.

    Detjen: 40.

    Verheugen: Ja, genau, das war dann das Beste. Und da ich also nicht die Frage stellen würde, was ist nach 1994 passiert, sondern die Frage ist wohl zu stellen: Was ist während der Regierungszeit und nach der Regierungszeit der SPD passiert ...

    Detjen: Die Frage war, ob die Brüche damals schon angelegt waren.

    Verheugen: Was Oskar Lafontaine und sein späteres Verhalten angeht, ganz offensichtlich. Er hatte vollkommen andere Vorstellungen davon, wie diese Koalition arbeiten sollte und auch, wie die Gewichte in der Regierung verteilt sein sollten. Er war ja wirklich der Überzeugung, dass es ziemlich egal ist, wer unter ihm Kanzler sein würde. Und da hat er sich eben getäuscht. Er hatte eine vollkommen falsche Einschätzung von der enorm starken konstitutionellen Stellung des Bundeskanzlers.

    Detjen: Herr Verheugen, in der rot-grünen Koalition war zunächst mal ein, war das nächste Mal ein Regierungsamt für Sie in greifbarer Nähe, da waren Sie im Gespräch als Verteidigungsminister zunächst, ...

    Verheugen: Ja, das wollte der Bundeskanzler, aber ...

    Detjen: Das war eine Enttäuschung für Sie?

    Verheugen: Ja, das war eine Enttäuschung für mich. Zumal Gerhard Schröder es versäumt hatte, mich darüber zu informieren, dass es wenige Stunden vor der Bekanntgabe der Kabinettsliste da eine Änderung gegeben hatte. Ich wusste es gar nicht. Ich saß in der Sitzung des Parteivorstandes, die Kabinettsliste wird vorgetragen, und ich bin gar nicht dabei. Das war schon eine Enttäuschung. Ich muss aber Gerhard Schröder sagen, einräumen, er hat wirklich alles getan, um das für mich erträglich zu machen. Und das war auch erfolgreich. Er hat mir als Staatsminister im Auswärtigen Amt eine Rolle gegeben, die vor mir und nach mir dort wohl keine Staatsminister hatte, und er hat dann auch die erste Gelegenheit genutzt, mir eine neue Karriere anzubieten, deren Verlauf natürlich unsicher war, aber Brüssel war für mich gar nicht so im Zentrum ...

    Detjen: Das war dann 99 und war im Grunde wieder ein Zufall. Da ist die Kommission von Kommissar Jacques Santer gescheitert zunächst einmal ...

    Verheugen: Nein, die Kommission wäre in jedem Fall 1999 neu zu besetzen gewesen. Also ...

    Detjen: Aber das Scheitern war dramatisch. Die gesamte Kommission ist zurückgetreten damals ...

    Verheugen: Ja gut, das hat den Prozess ein wenig beschleunigt, aber nicht viel. Also ich glaube, dass die neue Kommission nur drei Monate vor der Zeit dann ins Amt gekommen ist. Das war nicht ausschlaggebend, die Krise der Kommission. Sondern ausschlaggebend war wohl, dass die Staats- und Regierungschefs der wichtigsten EU-Länder, also Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die in dieser Frage eng zusammengearbeitet haben, das waren also Tony Blair, Jacques Chirac und Gerhard Schröder, dass die sich abgesprochen hatten, dass die nächste Kommission eine politisch sehr viel stärkere Kommission sein müsste. Und dass man nach Möglichkeit starke Leute da hinschickt.

    Detjen: Ist es dann eine starke Kommission geworden?

    Verheugen: Ja, ich denke schon, dass die Prodi-Kommission eine sehr gute Kommission war, und wenn man die Liste der Mitglieder sich anguckt, dann hatte die Prodi-Kommission eine Reihe von wirklich sehr gestandenen, international hoch angesehenen und auch in ihren Heimatländern sehr erfolgreichen Politikern. Sie war eine sehr politische Kommission und ich bin sehr froh, dass Romano Prodi der Präsident war und wir diese von sehr starken Persönlichkeiten geprägte Kommission hatten. Sonst hätte ich das große Projekt, das dann meine, wenn ich so sagen darf, fast politische Lebensaufgabe wurde, das hätte ich sonst gar nicht bewältigen können.

    Detjen: Osterweiterung dann, 2004 abgeschlossen - was hat das für Sie bedeutet, und was hat das insgesamt bedeutet? Das war eine, tja, eine Wiedervereinigung Europas, historisch, politisch, ökonomisch?

    Verheugen: Ja. Also ich habe in der Tat von Anfang an diese Aufgabe in erster Linie in ihrer historischen Dimension gesehen. Ich habe das nicht als eine ökonomische Frage betrachtet, nicht als eine Frage der tagespolitischen Zweckmäßigkeit, sondern wirklich als eine Frage von historischer Bedeutung. Zum ersten Mal die uralte Teilung in Europa, zwischen Ost und West überwinden zu können. Die Folgen des Zweiten Weltkrieges endgültig zu beseitigen, den Völkern hinter dem Eisernen Vorhang Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Also für mich stand hier wirklich im Mittelpunkt die Frage nach historischer Gerechtigkeit. Ich habe diese Aufgabe von Anfang an, wenn Sie so wollen, und auch ganz bewusst, eine moralische Überhöhung gegeben. Ich habe das nicht allein gemacht, ja. Oder das wär ganz verwegen. Aber ich bin derjenige gewesen, der das Fenster der Gelegenheit erkannt hatte und der erkannt hatte, dass aller Kritik zum Trotz, es absolut notwendig war, jetzt die Sache zu beschleunigen. Denn als ich nach Brüssel geschickt wurde oder was heißt - als ich nach Brüssel kam, war die generelle Einschätzung eine ganz andere. Wenn über Erweiterung gesprochen wurde, dann streckten die Gesprächspartner die Hände weit von sich und signalisierten schon mit der Körpersprache: Das hat noch viel Zeit. Und ich erkannte aber relativ schnell, dass wir eben nicht viel Zeit haben. Und heute wissen wir das ja auch. Wenn das in diesen Jahren nicht zustande gekommen wäre - nach 2004 wäre es gar nicht mehr gegangen.

    Detjen: Die Kritik bezog sich auf einen Gegensatz oder auf einen Widerspruch zwischen Erweiterung und Vertiefung. Heute wissen wir, dass auch Chancen zur Vertiefung der Integration verpasst worden sind. Steht das in einem Widerspruch?

    Verheugen: Ja, das ist korrekt. Aber ich glaube nicht, dass man die Erweiterung dafür verantwortlich machen kann. Und ich habe immer die französische Auffassung geteilt, dass zuerst die Vertiefung kommen sollte und dann die Erweiterung. Aber die Mitgliedsländer haben damals die Vertiefung nicht geschafft. Die EU-15, das war nicht die große, die neue, sondern die alte EU hat das nicht geschafft, und die Frage war: Können wir die jungen Demokratien in Ost- und Mitteleuropa, können wir die jetzt so lange warten lassen, bis die 15 sich einig sind, wie das institutionelle Gesicht der EU aussehen soll. Und meine Antwort darauf war: Nein, das können wir nicht. Und es kann sogar vielleicht ganz nützlich sein, wenn beim nächsten Vertiefungsschritt die Neuen schon dabei sind.

    Detjen: Wie haben die Neuen, die Sie ja gerade eben richtig als junge Demokratien bezeichnet haben, wie haben die Europa, die Europäische Union verändert?

    Verheugen: Ich glaube, sie haben klar gemacht, dass Europa eine weltpolitische Rolle zu spielen hat. Wir sind herausgewachsen aus dem bescheidenen Anspruch einer Regionalorganisation. Wir haben das Ziel noch nicht ganz erreicht, als Gleicher unter Gleichen mit anderen regionalen Mächten zu kooperieren, aber das hat uns auf diesem Weg ein gutes Stück vorangebracht. Unter dem Strich ist mein Ergebnis, dass die vielen, vielen Befürchtungen, die mit dieser, dem gewaltigen Projekt verbunden waren, die ja ihre Berechtigung hatten, ich bestreite das ja überhaupt nicht, dass diese vielen Befürchtungen sich nicht bewahrheitet haben. Wir sind nicht von Kriminalität überflutet worden, wir werden nicht von einer Masseneinwanderung von verarmten Menschen überflutet. Die EU ist weiter entscheidungsfähig - also ich sehe nicht, dass diese Ängste eine Begründung in der Wirklichkeit haben.

    Sprecher: Heute im Deutschlandfunk: das Zeitzeugengespräch mit dem früheren EU-Kommissar Günter Verheugen.

    Verheugen: Also das Bürokratieproblem ist ein sehr universelles Problem.

    Sprecher: Das vereinte Europa. Ein politisches Friedensprojekt.

    Detjen: Unter Ihrer Ägide hat nicht nur die Osterweiterung stattgefunden. Auch die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei haben von Ihnen mit gefördert, ihren Anfang genommen in dieser Zeit. Gibt es nach wie vor die Option für Griechenland, der optimistische Ausblick auf eine mögliche Erweiterung durch die Türkei, heute in Ihren Augen in einer Zeit, wo Europa ja in der Finanzkrise um den Fortbestand der Gemeinschaft, so wie sie im Moment ist, kämpfen muss?

    Verheugen: Also Erweiterung steht im Augenblick in der Europäischen Union nicht besonders im Kurs, und nicht sehr hoch auf der Tagesordnung, obwohl ich fest davon überzeugt bin, dass es eine historische Notwendigkeit ist, dass wir uns weiter auch räumlich integrieren. Und dass wir nicht erlauben, dass irgendwo östlich von uns sich eine neue Grenze verfestigt, ja. Die dann zufälligerweise die Westgrenze der früheren Sowjetunion wäre mit Ausnahme der baltischen Länder. Das sollten wir nicht zulassen. Ich weiß aber auch, dass wir jetzt nicht Versprechen machen können, von denen ich nicht weiß, ob wir sie halten wollen oder halten können. Aber zumindest eins sollten wir tun: Allen, die noch dazugehören wollen, klar sagen, dass die Perspektive besteht. Ich kann zum Beispiel nicht begreifen, warum wir einem Land wie der Ukraine nicht sagen: Ja, auch ihr habt ein Recht, dazuzugehören, und wir wollen euch auch. Aber es fehlt noch viel daran. Also, strengt euch an, tut das, was notwendig ist. Aber dieser positive Impuls, der fehlt.

    Detjen: Aber die Voraussetzungen müssen ja auf beiden Seiten gegeben sein, auch aufseiten der Gemeinschaft und auch die ist ja weit davon entfernt, weiter aufnahmefähig zu sein.

    Verheugen: Sicher. Im Augenblick ist keine - Fähigkeit ist nach meiner Meinung schon da, aber der Wille fehlt. Oder wir sehen ja, wie mühsam das mit Kroatien zustande gekommen ist, wie viele Jahre da mit diesem kleinen Land verhandelt werden musste. Dann weiß ich schon, dass wir da noch einen weiten Weg vor uns haben. Aber ich sage Ihnen eines: Der Weg zu der Erweiterung von 2004 und 2007 muss man ja sagen, also plus Rumänien und Bulgarien ist freigemacht worden auf dem Gipfel in Helsinki im Jahre 1999, wo die Vorschläge der Kommission, die wiederum meine Vorschläge waren, von den Staats- und Regierungschefs angenommen wurden, einschließlich der Türkei. Warum war das möglich? Das war möglich, weil im Jahre 1999 wir alle noch unter dem Eindruck des Kosovo-Krieges standen und wieder einmal erlebt hatten, dass der Krieg in Europa zurückkehren kann, und wir wieder einmal erlebt hatten, dass europäische Einigung als Friedensprojekt, als das entscheidende Instrument zur Sicherung des Friedens in Europa eben unverzichtbar ist. Unter nur unter diesem Eindruck, denke ich, konnten diese Entscheidungen getroffen werden. Und nun sage ich voraus, dass die geopolitischen Umstände, unter denen wir uns befinden, die strategischen Notwendigkeiten, denen wir uns ausgesetzt sehen, dass die sich sehr schnell ändern können. Das heißt, ein neues Fenster der Gelegenheit kann sich relativ schnell wieder öffnen, und ich bin da nicht ungeduldig.

    Detjen: Herr Verheugen, während Sie um die Osterweiterung der Europäischen Union gerungen haben, wurden auf ganz anderer Ebene Verhandlungen über den Beitritt Griechenlands zur Eurogruppe geführt ...

    Verheugen: Nein, das war schon gemacht, Griechenland trat im Jahre 2000 mit allen anderen auch hat Griechenland den Euro eingeführt. Also Griechenland hat den Euro zeitgleich mit allen anderen eingeführt.

    Detjen: Hat ihn zeitgleich mit eingeführt. Aber die Verhandlungen liefen, Sie haben später einmal ...

    Verheugen: Nein, die Entscheidung, die endgültige Entscheidung, ob die Kriterien erfüllt waren, die fiel im Falle Griechenlands erst im Jahre 2000, bei den anderen war sie schon 1998 gefallen.

    Detjen: Sie haben später, wenn ich das richtig gelesen habe, mal gesagt, das sei eigentlich eher eine Sache von Beamten gewesen. Hatte das niemand auf dem Schirm, welches Problem da auf die Europäische Union zurollt?

    Verheugen: Doch, schon. Aber ich erinnere mich sehr genau an die Abläufe. Das ist damals entschieden worden, ich sag das mal ganz unverblümt, auf der Grundlage von Papieren. Und die Politiker schreiben die Papiere nicht. Die Papiere sind geschrieben worden von Spitzenbeamten in griechischen Ministerien und von Spitzenbeamten der Kommission, und die waren zu dem Ergebnis gekommen, jetzt sind alle Bedingungen erfüllt und es ist politisch nicht mehr in Zweifel gezogen worden, wohl auch deshalb, weil man das politisch nicht mehr in Zweifel ziehen wollte. Es ist jedenfalls überhaupt nicht mehr diskutiert worden.

    Detjen: Wer hätte damals diskutieren müssen?

    Verheugen: Na, zuerst die Kommission. Die hätte kritischer darangehen müssen. Das hat sie nicht getan, und dann selbstverständlich auch der Rat, auch der hätte kritischer an die Sache herangehen müssen. Aber ich sage noch einmal, mein Eindruck ist heute: Ich habe damals die Dimension dieser Frage genauso wenig gesehen wie jeder andere auch. Mein Eindruck heute ist: Man wollte vielleicht auch gar nicht so genau hingucken. Wie der ganze Fall Griechenland ja ein Fall des permanenten Wegsehens ist. Seit 1980 und nicht erst seit 2000.

    Detjen: Sie haben später einmal und haben damit selber sehr viel Kritik auf sich gezogen, die Macht der Beamtenapparate in Brüssel kritisiert. Ist das auch ein Beleg dafür, dass Brüssel nicht so gesteuert wird und nicht vielleicht so gesteuert werden kann in seinen jetzigen Strukturen, wie es eigentlich sein müsste?

    Verheugen: Meine Kritik daran ist eher schärfer geworden. Aber ich muss ganz deutlich sagen, das ist kein Brüsseler Phänomen allein. Das ist ein Phänomen in jeder großen Organisation, noch nicht einmal nur in der Politik. Ich meine, Sie haben solche Bürokratieprobleme auch in den Verwaltungen großer internationaler Konzerne oder Verbände oder was weiß ich - also das Bürokratieproblem ist ein sehr universelles Problem. Aber es ist besonders ausgeprägt in Brüssel, weil wir hier mit der Kommission einen Apparat haben, der sehr statisch ist und sehr stabil und bei dem nur die Spitze alle fünf Jahre wechselt. Aber der Apparat als solcher ist sehr monolithisch und bleibt, wie er ist. Und diejenigen, die diesen Apparat zu steuern und zu kontrollieren haben, neigen dazu - ich drück es mal jetzt vorsichtig aus, man wird ja etwas milder - neigen dazu, sich eher als Teil dieses Verwaltungsapparates zu fühlen, mehr jedenfalls als Teil einer Verwaltung denn als politischer Inspirator, aber eben auch als Element der demokratischen Kontrolle. Also ich habe meine Aufgabe ...

    Detjen: Eben, es geht ja - das ist ja der Unterschied zu Unternehmen. Es geht nicht um ein einfaches Wirtschaftsunternehmen, sondern es geht um einen politischen Organismus und es geht um Demokratie in Europa. Die schärfsten Kritiker sagen: Europa ist schon längst im Zustand der Postdemokratie angekommen, wo die demokratischen Verfahren nur noch sozusagen Hüllen sind, wo aber die Beamten und die Lobbyisten die eigentliche Macht übernommen haben.

    Verheugen: Nein, wir können, Europa kann nicht im Zustand der Postdemokratie sein, weil es ja einen wirklich vollständigen demokratischen Zustand überhaupt noch nie erreicht hat. Und hier liegt ein ganz großer Mangel. Meine feste Überzeugung ist, dass der nächste große Vertiefungsschritt in Europa nicht damit abgetan sein kann, dass wir zusätzliche Souveränitätsrechte abgeben von der nationalen auf die europäische Ebene. Ich teile ganz die Meinung von Gerhard Schröder, die er vor wenigen Tagen geäußert hat, dass das notwendig ist. Aber ich füge eines hinzu: Das ist nur möglich, wenn es verbunden ist mit einer grundlegenden Reform des gesamten Systems. Wir brauchen ein voll entwickeltes parlamentarisches System auch auf europäischer Ebene. Ich kann zum Beispiel überhaupt nicht begreifen, warum die europäische Exekutive, der ich ja zehn Jahre lang angehört habe und die in jeder Weise vergleichbar ist mit einer Regierung, in manchen Bereichen sogar stärker ist als eine nationale Regierung, warum die nicht aus Wahlen hervorgeht.

    Detjen: Aber einer weiteren Übertragung von Souveränitätsrechten hat ja auch das Bundesverfassungsgericht in Deutschland Grenzen gezogen. Brauchen wir dann im Ergebnis ein neues Grundgesetz, um uns weiter integrationsfähig zu machen?

    Verheugen: Das ist möglich. Ich bin da übrigens ganz auf der Seite des Bundesverfassungsgerichts. Ich halte eine Weiterentwicklung der europäischen Integration in dem Sinne, dass immer mehr nationale Verantwortung nach Brüssel übergeht, ohne dass dort ein entsprechendes Maß an demokratischer Leitung und Kontrolle entsteht, für nicht verantwortbar. Also wir können nicht demokratisch kontrollierte Macht abwandern lassen in eine Art bürokratische Grauzone. Deshalb muss - ich wiederhole es und ich glaube, da bin ich ganz auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts - muss gleichzeitig mit dem nächsten Vertiefungsschritt hier ein Veränderung erfolgen. Ob die so weit geht, dass wir dazu ein neues Grundgesetz brauchen, das weiß ich nicht. Ich hab da eher Zweifel, weil das Grundgesetz so, wie es heute formuliert ist, in Artikel 23, ja alle Weiterentwicklungsmöglichkeiten erlaubt.

    Detjen: Aber man bräuchte, wenn ich Sie richtig verstehe, eine wirkliche, echte europäische Verfassung.

    Verheugen: Das hängt davon ab, was wir unter dem Begriff Verfassung verstehen. Wir haben mit dem EU-Vertrag eine Verfassung. Der enthält alle Elemente, die Sie für eine Verfassung brauchen. Ist halt nur ein bisschen lang und unübersichtlich.

    Detjen: Und die niemand versteht. Das ist auch eine bewusste Verkomplizierung gewesen.

    Verheugen: Wenn wir über den EU-Vertrag hinaus eine europäische Verfassung haben wollten - ich finde das als ein starkes Symbol der Integration wünschenswert, dann müsste das aber anders aussehen als der Verfassungsentwurf, der im Jahr 2005 gescheitert ist. Dann müsste es ein wirklich konstitutives Dokument sein, da würde ich mir als Vorbild eher die amerikanische Verfassung nehmen, aber nicht ein Werk von 400 Seiten.

    Detjen: Also die Vereinigten Staaten von Europa.

    Verheugen: Ja. Das ist ein möglicher Endzustand. Wir können den aber heute nicht festschreiben und definieren. Jeder kann für sich sagen, ob er das will oder nicht. Wir sind weit davon entfernt. Man muss da realistisch bleiben. Ich sehe im Augenblick keine europäische Nation, kein europäisches Volk, mit Ausnahme vielleicht der Belgier, aber aus ganz anderen Gründen, das bereit wäre, seine staatliche Identität vollkommen aufzugeben zugunsten einer übergeordneten europäischen staatlichen Instanz. Ich glaube nicht. Wir sind noch nicht so weit.

    Sprecher: Deutschlandfunk. Sie hören das Zeitzeugengespräch, heute mit Günter Verheugen.

    Verheugen: Wir wachsen nicht mehr zusammen, sondern wir wachsen auseinander.

    Sprecher: Die EU vor aktuellen Herausforderungen. Haushaltskonsolidierung und Wachstum.

    Detjen: Herr Verheugen, heute geht es akut erst einmal darum, Europa aus einer tiefen Haushalts- und Schuldenkrise herauszuführen. Gibt es da eine Alternative zu dem harten Kurs der Haushaltskonsolidierung, des Sparens, den Europa unter deutscher Führung eingenommen hat.

    Verheugen: Ja. Ich halte diesen Kurs für falsch. Und ich glaube auch nicht, dass er am Ende erfolgreich sein wird. Es wäre von Anfang an richtig gewesen, eine Kombination zu wählen aus Haushaltsdisziplin und stärkeren Wachstumsimpulsen. Und die stärkeren Wachstumsimpulse, die können nur geschaffen werden, wenn man das Problem endlich anpackt, über das niemand in Europa gerne redet, nämlich die Tatsache, dass die Ungleichheit in Europa wächst. Also die Disparitäten werden größer. Die Unterschiede werden größer statt kleiner, wir wachsen nicht mehr zusammen, sondern wir wachsen auseinander. Einige Mitglieder, vor allem Deutschland, profitieren von allem, was in Europa passiert, und andere eben nicht. Und ich denke, gerade wir Deutsche werden lernen müssen, dass wir nicht auf Dauer immer nur diejenigen sein können, die nur Vorteile aus der europäischen Einigung ziehen, sondern dass wir dafür auch etwas leisten müssen. Also denke ich, dass dieses deutsche Beharren auf reiner Haushaltskonsolidierung ohne Rücksicht darauf, was davon gesellschaftlich überhaupt verträglich und politisch möglich ist, wie wir am Beispiel Griechenland und Portugal ja deutlich sehen, dass das falsch ist, sondern dass wir uns auf den Weg machen, sollten hin zu einer Währungsunion, die tatsächlich eine Währungsunion ist. Die, die wir haben, der fehlen ja einige zentrale Elemente. Und ich bin auf der Seite der Kanzlerin, wenn sie sagt, dass eine vollständige Währungsunion bestimmte politische Voraussetzungen darf, also eine deutlich bessere, nicht nur ökonomische Koordinierung, sondern ökonomische Steuerung, eine deutlich bessere Steuerung der Fiskalpolitik, aber Europa begibt sich ja auf diesen Weg. Da hat die Kanzlerin wirklich etwas erreicht. Mit diesem Fiskalpakt, das ist noch nicht genug, aber es geht in diese Richtung.

    Detjen: Jetzt geht es erst mal darum, ob der Fiskalpakt so überhaupt zustande kommt. Und auch in Ihrer Partei gibt es ja unterschiedliche Positionen dazu. Wollen wir mal unter Umständen das Ergebnis der französischen Wahl abwarten, ob unter einem französischen Präsidenten Hollande dieser Fiskalpakt sowieso noch einmal scheitert.

    Verheugen: Das verstehe ich. Das ist auch mit Rücksicht auf den französischen Wahlkampf. Ich glaube aber nicht, dass das noch einmal neu verhandelt werden kann. Und wir haben schon aus der Vergangenheit gelernt, dass man nicht alles, was in einem französischen Wahlkampf gesagt wird, dann hinterher einklagen kann. Also da bin ich relativ gelassen. Wenn man den Fiskalpakt verbindet mit der Forderung nach einem Wachstumspaket für Europa, wie die SPD das jetzt tut, auch einen konkreten Vorschlag macht, wie eine solche Wachstumsinitiative finanziert werden könnte, dann ist das, wie ich finde, ein weiterführender und sehr nachdenkenswerter Vorschlag. In der konkreten Ausgestaltung durch eine Finanztransaktionssteuer habe ich ein Bedenken, weil ich nicht weiß, was die Folgen einer in Europa isoliert eingeführten Finanztransaktionssteuer wären. Also ob dann wirklich die Einnahmen kommen würden, die man sich verspricht. Und dann würde ich meinen Parteifreunden auch immer sagen an der Stelle: Wir reden ja über 60 Milliarden zusätzliche Einnahmen im Jahr, die für eine solche europäische Wachstumsinitiative mit Schwergewicht in den Ländern der südlichen Peripherie verwendet werden sollten, dass wir dann uns Gedanken darüber machen müssen, wer diese Geldströme steuert.

    Verheugen: Was einmal im Internet steht, kriegen Sie nie wieder weg.

    Sprecher: Konflikte im digitalen Zeitalter. Günter Verheugen im Shitstorm und die Neuausrichtung als Berater.

    Detjen: Herr Verheugen, wir haben am Anfang des Gesprächs über Erfahrungen und über Perspektiven auf Medien in der Demokratie gesprochen. Zu Ihren Erfahrungen gehören auch die Erfahrungen, die Sie gemacht haben, als Ihr Privatleben plötzlich in die Diskussion geriet, Ihre Beziehung zu Ihrer späteren Büroleiterin, Petra Erler, mit der Sie heute zusammenleben, zusammen eine Beratungsfirma in Potsdam haben. 2006 waren Sie deswegen scharfen Vorwürfen, harter Kritik ausgesetzt. Von Günstlingswirtschaft war da die Rede, von Ämterpatronage - war das eine berufliche, eine politische, eine persönliche Krise für Sie?

    Verheugen: Es war eine schwierige Situation, aber sie konnte durchgestanden werden, weil an den Vorwürfen ja nichts dran war. Und auch die schärfsten Kritiker damals haben ja eines einräumen müssen, dass diese Mitarbeiterin hoch qualifiziert war und nach meiner festen Überzeugung die beste, die ich für diesen Job finden konnte. Was übrig geblieben ist bei mir, ist ein gewissen Misstrauen gegenüber denjenigen, die die totale Freiheit des Internets auf ihre Fahnen schreiben. Mich hat weniger persönlich betroffen gemacht, was alle möglichen Zeitungen da geschrieben haben eine Zeit lang. Das war ja ein kurzer Sturm nur. Aber was mich betroffen gemacht hat, weil das bis auf den heutigen Tag nachwirkt, ist das, was alle möglichen Leute dann, nicht unter ihrem eigenen Namen, sondern unter irgendwelchen erfundenen Namen, anonym, im Internet dann an Kommentaren oder an angeblichen Informationen über Sie verbreiten. Und ich sage Ihnen eins: Was einmal im Internet steht, kriegen Sie nie wieder weg. Ich finde nicht, dass wir ein 0 haben sollten, das, wie seinerzeit im alten Venedig vergleichbar ist, diesem Kasten, in den man anonyme Denunziationen werfen konnte, ja.

    Detjen: Sie betreiben heute eine oder haben eine Beratungsfirma in Potsdam, die sich auf Europapolitik, auf Europa bezieht. Auch das ist ja noch mal Gegenstand von Diskussionen gewesen, die Kommission hat Ihnen da Regeln auferlegt, was Kontakte angeht.

    Verheugen: Nein. Das sind die Regeln, die von Anfang an galten.

    Detjen: Wo verlaufen da die Grenzen, wie kann man als ehemaliger Kommissar seine Kontakte nutzen, kann man sie legal kommerzialisieren?

    Verheugen: Na ja, das ist eine interessante Frage, weil das ja, anders als in Deutschland, in Brüssel geregelt ist. In Deutschland können Sie ja, wenn Sie aus Ihren Ämtern ausscheiden, können Sie ja machen, was Sie wollen. Und Sie müssen Tätigkeiten, die Sie dann wahrnehmen wollen, anmelden, und es wird geprüft, ob daraus ein möglicher Interessenkonflikt entstehen kann. Wenn das der Fall ist, dann dürfen Sie das nicht. Wenn es aber nicht der Fall ist, dann dürfen Sie. Und das ist selbstverständlich auch so geschehen, aber ich hab mir von Anfang an ganz klar gesagt, ich werde überhaupt nichts tun, was einen Interessenkonflikt überhaupt nur möglich machen könnte. Also ich arbeite nicht mit Unternehmen oder Institutionen, für die ich zuständig war.

    Detjen: Wer sucht heute Ihren Rat?

    Verheugen: Das ist sehr unterschiedlich. Ich kümmere mich im Augenblick sehr stark um Energiewirtschaft in Ost- und Mitteleuropa, aber über die Europäische Union hinaus. Und berate die ost- und mitteleuropäische Energiewirtschaft in der Frage, wie sich selber so organisieren kann, dass sie als ein politischer Stakeholder auf europäischer Ebene wahrgenommen wird. Also das ist eine sehr interessante, sehr schwierige und sehr politische Aufgabe. Und ich berate auch den größten türkischen Wirtschaftsverband in der Frage, wie sich die Türkei selbst verändern sollte, nicht nur im Wirtschaftsbereich, sondern ganz allgemein, um europafähig zu sein.

    Detjen: Vermissen Sie die aktive Mitgestaltung in der Politik manchmal?

    Verheugen: Manchmal schon. Manchmal hat man schon das Gefühl, ach, wenn man jetzt, mit all den Erfahrungen, die man schon hat, und all dem, was man schon weiß, jetzt noch mal mitmischen könnte, wäre doch ganz schön. Auf der anderen Seite aber, muss ich sagen, ich hatte mich lange auf diesen Moment innerlich vorbereitet, den Moment des Ausscheidens aus der aktiven Politik. Ich wusste ja von vielen Kollegen, dass dieses Loslassen schwierig sein kann. Und ich denke, es ist erforderlich, dazu eine gewisse innere Einstellung zu entwickeln, und sich klarzumachen, dass dann praktisch von einem Tag auf den anderen, wirklich ein ganz anderes Leben anfängt. Sie können sich kaum vorstellen, wie tief dieser Bruch tatsächlich ist. Es fängt damit an, dass Sie bestimmte Dinge lernen müssen. Ich musste zum Beispiel lernen, wie man einen Straßenbahnfahrschein kauft. Ich hab das nicht gewusst. Oder wie man einen Flug bucht. Alle diese Dinge, das müssen Sie alles lernen. Alles, was für Sie gemacht worden ist, wie die Tatsache, wo immer Sie hin wollen, steht ein Auto bereit, Sie werden hingefahren, Sie brauchen sich um nichts zu kümmern, also sich zu - das, was für alle unsere Hörerinnen und Hörer das normale Leben ist, war es für mich eben nicht. Ich lebte nicht ein solches Leben. Und das müssen Sie lernen. Wenn Sie es dann zum ersten Mal geschafft haben, eine Fahrkarte aus einem Automaten zu ziehen, dann sind Sie richtig stolz, dass Sie das hingekriegt haben. Man muss diesen Übergang wollen und man muss sich auch klarmachen, dass die Attribute der Macht oder die Attribute des politischen Einflusses, nicht der Person gegolten haben. Sondern die Attribute gelten immer dem Amt. Diesen Unterschied muss man machen können. Das ist mir gut gelungen, glaube ich, ich bin ganz zufrieden so, und ich schreibe ja auch. Ich halte Vorträge, ich lehre, ich habe keinen Mangel an politischer Betätigung. Es ist eben nur eine ganz andere Art von politischer Betätigung als früher.

    Sprecher: In unserer Reihe "Zeitzeugen" hörten Sie Stefan Detjen im Gespräch mit Günter Verheugen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.