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"Ich habe meine politische Pflicht getan"

"Ich gehe selbstbestimmt, das ist besser, als wenn man davongejagt wird," sagt der Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD). Thierse feiert in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag und war 23 Jahre Mitglied des Bundestags.

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Bettina Klein | 29.08.2012
    Bettina Klein: Auszug aus einem Brief, der für viele offenbar doch überraschend kam: "Ich möchte dem Kreisvorsitzenden mitteilen, dass ich mich zur nächsten Bundestagswahl nicht wieder um eine Kandidatur bemühen werde." So schreibt Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse auf seiner Homepage. Und weiter: "Das tue ich sehr ungern, denn ich bin ja gern mit Leidenschaft Parlamentarier. Im kommenden Herbst werde ich es 24 Jahre gewesen sein." – Das war es dann also für den SPD-Politiker im Deutschen Bundestag, er wird dem ab 2013 nicht mehr angehören, und heute Morgen sprechen wir mit ihm hier im Deutschlandfunk. Guten Morgen, Wolfgang Thierse.

    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Frau Klein.

    Klein: Sie sagen ausdrücklich, Sie tun es ungern, und all dies nicht fortzusetzen, falle Ihnen schwer. Weshalb haben Sie sich dennoch dafür entschieden?

    Thierse: Nun ja, Sie haben schon daran erinnert: 24 Jahre sind es dann, dass ich Parlamentarier war – Volkskammer, das knappe Jahr Volkskammer 1990 und dann 23 Jahre Bundestag, eine sehr intensive Zeit. Und im nächsten Jahr werde ich dann 70 Jahre alt. Ich denke, es ist besser, von sich aus zu gehen, als dass Menschen dann, politische Freunde oder andere, gähnen oder hämisch auf einen blicken und sagen, wann haut der endlich ab, wann hält der endlich den Mund. Nein, ich gehe selbstbestimmt, das ist besser, als wenn man davongejagt wird.

    Klein: Stand denn das zu befürchten, dass Leute mit Häme und mit Gähnen über Sie sprechen und Sie davonjagen?

    Thierse: Also es gibt natürlich immer Konkurrenz im politischen Bereich und es hat sich auch bei mir im Wahlkreis ein jüngerer SPD-Genosse gemeldet, der mich gerne ablösen will. Seit ich gestern meinen Rückzug mitgeteilt habe, hat sich ein weiterer gemeldet. Also die politische Konkurrenz ist wach!

    Klein: Ich darf noch einmal aus dem Brief auf Ihrer Homepage kurz für unsere Hörer zitieren: "Vor allem", so schreiben Sie, "weiß ich auch, dass sich schlecht erfolgreich Wahlkampf machen lässt, wenn sich einige wichtige Mitglieder des Kreisvorstandes bereits seit Längerem auf einen Nachfolger verständigt haben und" – da zitieren Sie jetzt – "nun endlich auch mal jemand anderes dran sei." Das klingt in meinen Ohren schon so, dass sich wichtige Mitglieder vor Ihrem Rückzug auf einen anderen Kandidaten verständigt haben?

    Thierse: Ja, weil es doch einige gibt, die damit gerechnet haben und die darauf hingearbeitet haben, und ich finde, das ist im politischen Leben durchaus etwas Normales. Da hat einer ganz lange diesen Wahlkreis vertreten. Ich habe viele, viele Wahlkämpfe bestritten, manche sehr erfolgreich, manche weniger erfolgreich. Und dann ist damit zu rechnen, dass der Thierse auch mal aufhört. Also ich will das nicht menschlich übel nehmen, das ist im politischen Leben so.

    Klein: Das klingt nicht so, als habe man Sie vorher um Ihr Einverständnis gebeten, das klingt auch nicht so, als habe man versucht, Sie zu einer erneuten Kandidatur zu bewegen.

    Thierse: Es hat beides gegeben, Leute, die gesagt haben, jetzt müsste er aber mal abgelöst werden, und ganz viele Leute, die gesagt haben, mach doch unbedingt weiter, machen Sie weiter, und ich hatte das abzuwägen, was ich tue, und wie gesagt: Entscheidend war für mich 24 Jahre und dann 70 Jahre alt, das reicht. Ich denke, da habe ich meine politische Pflicht getan.

    Klein: Hat es Sie enttäuscht, dass Ihre Partei oder wichtige Mitglieder derselben Sie im Deutschen Bundestag für verzichtbar halten?

    Thierse: Natürlich tut es einem ein bisschen weh. Aber ich lebe doch ganz gut damit, dass es viele, viele andere Menschen gibt, die mir immer wieder ganz freundlich begegnen und sagen, ich sei wichtig, ich sei doch auch irgendwie ein anderer Typus von Politiker, ich spreche anders. Also für mein Selbstbewusstsein reicht das und das andere kann ich beiseite schieben.

    Klein: Das eine ist ja, was es für Sie persönlich bedeutet. Die andere Frage ist ja, welche Menschen brauchen wir in der Politik. Halten Sie sich selbst denn als jemand mit einem ursprünglich ostdeutschen Erfahrungshintergrund als jemand, der Jahrzehnte Zeitgeschichte aus dieser Perspektive überblickt, halten Sie Politiker mit diesem Hintergrund insgesamt für verzichtbar im Deutschen Bundestag oder auch sonst in herausragenden politischen Ämtern?

    Thierse: Es ist immer gut, wenn es in der Politik Menschen mit ganz unterschiedlichen biografischen, geschichtlichen Prägungen gibt, übrigens auch aus unterschiedlichen Berufen kommend und übrigens auch aus unterschiedlichen Generationen stammend, und insofern ist es richtig, dass auch 20 Jahre nach Ende der DDR wichtig ist, dass es in der Politik Menschen gibt, die noch diese Erfahrung aus der DDR mitbringen, auch der Überwindung der DDR. Für mich, in meinem politischen Leben war die Erfahrung der friedlichen Revolution entscheidend, ein ganz wichtiges Befreiungserlebnis, das in mir immer noch anwesend ist, immer noch nachwirkt.

    Klein: Ein Faktor, Herr Thierse, der vielen gleich auffällt, ist: So viele Ostdeutsche in herausgehobenen Positionen haben wir eigentlich gar nicht in der Politik. Oder muss man sagen, Bundeskanzlerin, Bundespräsident, nun ist aber auch mal gut?

    Thierse: Nein, es gibt wirklich nicht mehr so viele, und gelegentlich habe ich mich so als einen der letzten Mohikaner empfunden. Von den Sozialdemokraten des Jahres 1990 sind nicht mehr viele in der Politik. Manfred Stolpe ist nicht mehr da, Regine Hildebrandt ist gestorben, Ringstorff, Höppner und wie sie alle heißen. Das ist halt so der Gang der Dinge, der Geschichte; 20 Jahre sind eine sehr lange Zeit. Aber ich halte es nach wie vor für wichtig, dass es Leute gibt, die aus der Erfahrung der DDR kommen, die gewissermaßen auch von den Ostdeutschen wahrgenommen werden als ihres gleichen. Wie oft ist mir gesagt worden, ja, Sie sprechen für uns, Sie sprechen unsere Stimme, wir merken, Sie haben unsere Erfahrungen mitgebracht, mitgenommen in die Politik, und ich glaube, das ist immer noch ein bisschen wichtig, auch wenn es nicht mehr ganz so wichtig ist wie vor 15, vor zehn Jahren.

    Klein: Aber aus Ihrer Sicht ist das Thema Ost-West in Deutschland, sind Unkenntnis und Vorurteile auf beiden Seiten nicht erledigt?

    Thierse: Das ist noch nicht erledigt. Da wird es wahrscheinlich doch noch weitere Generationen brauchen. Die jüngeren Leute – das sage ich ohne Vorwurf – wissen halt wenig über die DDR, sie wissen auch wenig über die Schwierigkeiten, die der Umbruch in Ostdeutschland bedeutet hat, und wir sind natürlich auch immer noch nicht mit der politischen Aufgabe fertig. Es gibt immer noch sichtbare Ost-West-Unterschiede ökonomischer, sozialer Art, die Einkommensverhältnisse, Renten, das Lebensgefühl ist durchaus noch unterschiedlich, und da mag es dann wiederum auch Differenzierungen zwischen den Generationen geben. Aber die deutsche Einheit ist noch nicht gänzlich vollendet.

    Klein: Und wer weist darauf in Ihrer Partei statt Ihrer jetzt hin?

    Thierse: Also ich denke, es gibt ja doch auch noch andere, jüngere Politiker, die ihre Wahlkreise in der DDR haben, die zu einem Teil auch eine DDR-Geschichte haben. Die haben nach wie vor die Verpflichtung, dafür zu sorgen: Überwindung der Rentenunterschiede, Überwindung der Infrastrukturunterschiede, die es zum Beispiel bei der Forschung gibt und in vielen anderen Bereichen, und Überwindung der Lohnunterschiede. Das sind immer noch Aufgaben, die politisch zu bearbeiten sind, auch wenn ich keine Wunder erwarte, aber in den nächsten fünf bis zehn Jahren müssen diese Probleme gelöst werden.

    Klein: Wie verbreitet, Herr Thierse, ist Ihrer Meinung nach noch, dass man bei Ressentiments dann eben doch noch zum Beispiel in die Ossi-Wessi-Kiste greift, anstatt sich über die wahren Ursachen für Animositäten klar zu werden?

    Thierse: Das passiert immer noch, das passiert sogar mir. Leute, die mich und meine politischen Ansichten nicht leiden, die teilen mir in hämischen Briefen mit, dass ich eben so ein DDR-Kommunist sei oder eben eine DDR-Sozialisation habe. Das ärgert mich schon, weil ich nicht glaube, dass es stimmt. Mein Verhältnis zur Demokratie ist ein Verhältnis, das daher rührt, dass ich das Gegenteil von Demokratie 40 Jahre erlebt habe, und deswegen bin ich mit einer außerordentlichen Leidenschaft ein Anhänger von Demokratie und Freiheit, gerade weil ich Diktatur, Unfreiheit und Misswirtschaft erlebt habe, und deswegen ist das Gegenteil der Fall von dem, was häufig vorgeworfen wird, DDR-Prägung als nachwirkende undemokratische Belastung.

    Klein: Die Autorin Gertrud Höhler hat in einem derzeit viel diskutierten und gerade erschienenen Buch eine Politikerin einer anderen Partei als der Ihren scharf angegriffen: die Bundeskanzlerin nämlich. Und auch wenn Frau Höhler das so deutlich ja offenbar nicht aussprechen möchte, scheint sie ja vieles, was sie an Frau Merkel stört und was sie sogar auch als gefährlich für unsere Demokratie hält, auf Merkels Ost-Sozialisation zurückzuführen. Kurze Zitate: "Das System Merkel etabliert eine leise Variante autoritärer Machtentfaltung. Ein autoritärer Sozialismus sei im System Merkel angelegt" – nur mal zwei Beispiele. Für wie zutreffend halten Sie diese Kritik an einer Politikerin, die ja nicht Ihrer Partei angehört?

    Thierse: Also ich halte diese Kritik für nicht zutreffend, auch wenn manche Beobachtungen von Frau Höhler, bezogen auf die Kanzlerin, nicht falsch sind. Aber die Herleitung aus DDR-Prägung, die halte ich für fatal. Natürlich beobachte ich auch an der Kanzlerin, dass sie – wie soll ich das nennen? – ein Prototyp einer modernen Politikerin ist. Sie besteht aus reinem Pragmatismus. Starke Überzeugungen hindern sie nicht, Entscheidungen, die sie gestern getroffen hat, heute vollkommen zu verändern, das, was sie gestern gesagt hat, heute zu widerlegen. Aber ich glaube nicht, dass das eine DDR-Prägung ist, sondern das hat mit den politischen Verhältnissen heute zu tun. Und wenn überhaupt man Ihre Biografie heranzieht, dann vielleicht doch die kollektive Erfahrung, die wir gemacht haben, dass eine Ideologie zugrunde geht, dass die kommunistische Utopie gescheitert ist, dass man also an Utopien, Visionen, allzu starken Überzeugungen nicht hängen soll, sondern Politik definieren sollte als den Pragmatismus, egal was man gestern gesagt hat, es geht darum, heute Lösungen zu finden für ein Problem, das zu bewältigen ist.

    Klein: Wolfgang Thierse (SPD), Bundestagsvizepräsident. Er hat gestern angekündigt, nicht mehr für den Bundestag kandidieren zu wollen. Ich bedanke mich für das Gespräch, Herr Thierse.

    Thierse: Auf Wiederhören, Frau Klein.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.