Freitag, 19. April 2024

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Ich habe sie geliebt

Die Falle besteht darin, zu glauben, dass man ein Recht darauf hätte, glücklich zu sein. Dumm wie wir sind. Naiv genug, eine Sekunde lang zu glauben, wir hätten unser Leben selbst in der Hand. Unser Leben entgleitet uns, aber das ist nicht schlimm(...)Optimal wäre nur, wenn wir es früher wüssten.

Sacha Verna | 11.04.2003
    Chloé, die diese Gedanken wälzt, hat nicht einmal geahnt, dass das Leben ihr eines Tages entgleiten könnte. Die Ich-Erzählerin in Anna Gavaldas erstem Roman war bis vor kurzem Ehefrau und Mutter und also glücklich, nun ist sie verlassene Ehefrau und allein erziehende Mutter und also todunglücklich. Vorbei die wohl organisierten Cocktail Partys, die sie als repräsentative Gattin regelmäßig organisierte, stattdessen Tränen über Tränen und ein Schwiegerpapa, der ihr sein Mitgefühl geradezu aufdrängt. Mit ihren beiden kleinen Mädchen landet Chloé schließlich in der Küche eines unbeheizten Landhauses, wo sie vergeblich auf einen Anruf ihres entlaufenen Gemahls hofft, während der besagte Schwiegerpapa sie mit teurem Wein und schmackhaften Gerichten moralisch aufzupäppeln versucht. Chloé erkennt in dem älteren Herrn, der da Karotten klein schneidet und Fleisch anbrät, den sauertöpfischen Patriarchen Pierre nicht wieder, der ihr und dem Rest der Familie mit seinem unterkühlten Verhalten bis dahin jede Form entspannten Zusammenseins verunmöglicht hat.

    Grob lässt sich Ich habe sie geliebt als Abfolge von Monolog, Dialog und Monolog beschreiben. Chloés zynisches Selbstgespräch bildet den ersten Teil. Zwischen dem hektischen Überprüfen nicht vorhandener Nachrichten auf dem Telefonbeantworter und beschäftigungstherapeutischen Anstrengungen zwecks Aufmunterung des gelangweilten Nachwuchs, bemüht sich Chloé mit Galgenhumor über die erlittenen Kränkungen hinweg zu kommen.

    Wie lange dauert es, bis man den Geruch desjenigen vergisst, der einen geliebt hat? Und wann hört man auf selbst zu lieben?

    ...fragt sie sich und bittet nicht um eine Antwort, sondern um eine Eieruhr. Sie überlegt sich, ihren Kopf abzuschrauben und ihn weit weg zu kicken, gibt das Vorhaben indes auf, da sie vermutet, ohnehin daneben zu treten.

    Nach einer Weile gelingt es Pierre, solche sadomasochistischen Turnübungen zu unterbrechen und Chloé in eine Unterhaltung zu verwickeln. Er nutzt die Gelegenheit unter anderem dazu, sein Image aufzubessern – zunächst erfolglos:

    "Du hältst mich für einen alten Kotzbrocken?" - "Ja." Ich nickte, ich war nicht boshaft, ich war unglücklich. Er seufzte. "Warum bin ich ein alter Kotzbrocken?" - "Weil Du niemanden liebst. Dich niemals gehen lässt. Nie da bist. Nie bei uns bist. Dich nie an unseren Gesprächen, unseren Späßen beteiligst, an unserem mittelmäßigen Geplänkel. Weil du nicht zärtlich bist, nie etwas sagst und dein Schweigen an Verachtung grenzt. Weil du..." - "Dank, danke, das genügt." - "Entschuldige bitte, ich antworte auf deine Frage. Du fragst mich, warum du ein alter Kotzbrocken bist, und ich antworte dir. Allerdings muss ich einschränkend hinzufügen, dass ich dich nicht sonderlich alt finde." - "Du bist zu liebenswürdig." - "Gern geschehen." Ich bleckte die Zähne, während ich ihm freundlich zulächelte.

    Den Kotzbrocken-Verdacht wird Pierre erst los, als er sich seinerseits in einen dramatischen Vortrag stürzt und sich als verzweifelter Feigling outet. Der Grund seines Kummers heisst Mathilde, eine Frau, die nicht die seine war, und die zur seinen zu machen, er nicht gewagt hat.

    Anna Gavalda schildert die Verwandlung einer Landhausküche in eine Dunkelkammer der unverarbeiteten Emotionen. Zwei Trostbedürftige öffnen einander ihre verwundeten Herzen, die eine trotzig, der andere resigniert, damit würden sie noch heute beschäftigen, wäre der Roman auf Seite 164 nicht zu Ende. Nicht dass man bei der Lektüre einschläft. Mit einer Spur Ironie hier und einem Hauch Sentimentalität da hält die Autorin das gepflegte Geplauder in Gang. Nur sind Inhalt und Verlauf dieser luftig inszenierten Konversation denkbar wenig überraschend und die Protagonisten ungefähr so reizvoll, wie es Sprechblasen halt so sind. Die verhandelten seelischen Tragödien wirken synthetisch und die Reaktionen darauf nicht minder. Die Figuren deuten bloß auf sich selber, und ihre Geschichten bleiben Geschichten, die man sich anhören kann oder auch nicht. "Ich habe sie geliebt" verliert sich in seiner eigenen Harmlosigkeit und einer bourgeoisen Nonchalance ohne besonderen Charme. Das ist nicht schlimm. Optimal wäre nur, wenn wir es nicht so früh wüssten.