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"Ich hätte das nicht so gemacht"

Paragraf 130 des Strafgesetzbuches gegen Volksverhetzung lässt sich nach Ansicht des ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, mit der deutschen Vergangenheit erklären. Dennoch unterbinde er die freie Meinungsäußerung.

Winfried Hassemer im Gespräch mit Friedbert Meurer | 18.11.2009
    Friedbert Meurer: Den allermeisten sind sie ein Gräuel, die Aufmärsche von Neonazis in Deutschland mit Hakenkreuz-Fahnen, Springerstiefeln und mit unsäglicher NS-Propaganda. Immer wieder versuchen die Behörden, solche Aufmärsche zu verbieten, und oft gelingt das ihnen auch, unter anderem weil im Jahr 2005 der Paragraf gegen Volksverhetzung verschärft worden ist. Und diesen Paragrafen 130 des Strafgesetzbuches hat das Bundesverfassungsgericht gestern bestätigt.

    So weit, so gut, aber der Paragraf findet auch seine Kritiker. Sie sagen, er verletzt die Meinungsfreiheit, denn Paragraf 130 bestraft ausschließlich die Verherrlichung von NS-Propaganda. Für alle anderen politischen Äußerungen, und wenn sie noch so hanebüchen sind, gilt er nicht.

    Das Anliegen, Nazi-Propaganda zu unterbinden, vielen erscheint es als ehrenwert, aber Paragraf 130 schränkt die Meinungsfreiheit ein. Ich habe gestern mit dem ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts gesprochen, Winfried Hassemer, und ihn gefragt, ob er es für richtig hält, dass eine bestimmte Meinungsäußerung in Deutschland unter Strafe gestellt wird.

    Winfried Hassemer: Das hat der Gesetzgeber so entschieden. Er hat eine bestimmte Meinung zu den Wirkungen des Nationalsozialismus auch noch in unserem Jahrhundert. Ich habe das nicht zu kritisieren. Wenn aber ich der Gesetzgeber gewesen wäre, hätte ich das nicht so gemacht.

    Meurer: Warum nicht?

    Hassemer: Ich war vor einiger Zeit in der Türkei und habe argumentiert, dieser Paragraf für das Türkentum, den sollte man doch bitte schön nicht in einer freiheitlichen Strafgesetzgebung in einem Gesetzbuch haben. Daraufhin haben die Damen und Herren mich natürlich auf den Paragrafen 130 in der Bundesrepublik aufmerksam gemacht und gesagt, ja, das sei doch nun der Struktur nach genau dasselbe wie das, was ich da in der Türkei kritisiert habe, das beruft sich am Ende auf die Meinung, hier wird nur eine Meinungsfreiheit angegriffen, hier wird nur bestraft, was jemand falsch, natürlich, aber was jemand doch als seine Meinung verkündet.

    Meurer: Aber ist der Unterschied nicht, Herr Hassemer, in der Türkei wird dieser Paragraf dazu benutzt, beispielsweise Schriftsteller ins Gefängnis zu bringen, während in Deutschland geht es darum, die Gewaltverherrlichung und die Verherrlichung des Nationalsozialismus zu unterbinden.

    Hassemer: Ja, klar! Aber das ändert alles nichts an der Struktur dieser Strafnorm. Die Struktur ist eben doch die, dass das Rechtsgut, also das Interesse, das konkrete Interesse, sehr schwammig ist. Man kann der Vorschrift übrigens auch ansehen, dass der Strafgesetzgeber durchaus ein, sagen wir mal, schlechtes Gewissen hatte, dieses alles ins Strafgesetzbuch hineinzustellen. Natürlich ist auch mir klar: Das hat mit der deutschen Vergangenheit zu tun und das kann man mit diesem Hinweis durchaus rechtfertigen, ändert aber nichts daran, dass mir ein Gesetzbuch lieber wäre – vielleicht drücke ich mich mal so vorsichtig aus -, das auf eine solche Vorschrift verzichten könnte und die Aufarbeitung des Nationalsozialismus gewissermaßen nicht in den Straffällen zu machen hätte.

    Meurer: Was genau, Herr Hassemer, stört Sie am Paragraphen 130 zur Volksverhetzung?

    Hassemer: Mich stört dieser unbestimmte Begriff der Störung des öffentlichen Friedens. Man könnte ja sagen, dass man so was überhaupt nicht darf, dass man das jedenfalls nicht öffentlich und jedenfalls nicht positiv verkünden darf, aber dann hat der Gesetzgeber noch die Störung des öffentlichen Friedens hinzugesetzt, um natürlich den Tatbestand einzuschränken. Das war eigentlich ein vernünftiges Ziel. Aber was ist bitte schön Störung des öffentlichen Friedens? Die Strafrechtler diskutieren seit langer Zeit darum und die allermeisten sind der Meinung, das entspricht dem Bestimmtheitsgebot der Verfassung nicht.

    Meurer: Es gibt ja auch die Kritik, dass der Paragraf sich nur gegen die Verherrlichung des Nationalsozialismus richtet. Wäre es besser, wenn man schon etwas wegen Volksverhetzung unterbinden will, man unterbindet jegliche Verherrlichung von Terrortaten, also auch die Verherrlichung beispielsweise des Stalinismus?

    Hassemer: Ja und nein. Die Frage, die sich verfassungsrechtlich stellt: Ist das ein allgemeines Gesetz in dem Sinne, dass eben es dort keine Sondergesetze geben soll. Ihr Argument, das Sie gerade völlig zurecht anführen, läuft darauf hinaus: Das ist kein allgemeines Gesetz, eben weil es nur diese nationalsozialistischen Gräueltaten betrifft. Dem könnte man natürlich entgegenkommen, dass man sagt, man nimmt die Stalinisten mit dazu. Das aber wiederum – und das ist das Negative daran – würde diese, für mich enge und wichtige historische Verbindung gerade zu den Nazis aufheben. Das ist für mich eigentlich auch unter dem internationalen Aspekt die wesentliche Rechtfertigung dieses Paragrafen 130, gerade die Verbindung zum Nationalsozialismus.

    Meurer: Um es mal zuzuspitzen, Herr Hassemer: Sind Sie dafür, dass demonstriert werden darf mit der Botschaft, der Nationalsozialismus war ein positives System?

    Hassemer: Sagen wir, ich wiederhole mich. Ich würde sagen, ein solches Gesetzbuch, das sich so etwas erlauben kann, würde uns schmücken. Es wäre nämlich ein Strafgesetzbuch, welches darauf setzt, dass die Gesellschaft und die Politik und der Diskurs der Bürger so etwas verhindern und nicht nach außen und nach oben kommen lassen und dass man dazu das Strafrecht nicht braucht. Ich gebe noch mal zu, es ist die Einschätzung des Strafgesetzgebers gewesen, das anders zu sehen.

    Meurer: Sie fordern Freiheit für die Gegner der Freiheit?

    Hassemer: Die Gegner der Freiheit, solange sie nur ihren Mund aufmachen, meine ich, müssten durch einen Diskurs der Gesellschaft bedient werden, wenn es irgendwie ginge, und eben nicht durch das Strafrecht. Es geht nur darum, dass es Meinungsäußerungen sind. Sonst sähe die Sache natürlich anders aus.

    Meurer: Der Gesetzgeber will ja verhindern, dass es rechtsextreme Aufmärsche gibt in Wunsiedel oder andernorts. Wenn es diesen Paragrafen 130 so nicht gäbe, müssten wir dann damit leben, jede Woche oder auch alle zwei Wochen einen NS-Aufmarsch ertragen zu müssen?

    Hassemer: Nein, da sehe ich doch schon einen Unterschied. Das eine ist Meinungsäußerungsrecht, das andere ist Versammlungsrecht und da geht es um durchaus andere Geschichten. Oder anders herum konkret gesagt: Man braucht nicht solche strafrechtliche Verbote der Meinungsäußerung, wenn man auf der anderen Seite solche Versammlungen verhindern will. Das, meine ich, kann man doch tun, selbst wenn der 130 nicht wäre.

    Meurer: Wie scharf ist das Schwert des Versammlungsrechts?

    Hassemer: Das Versammlungsrecht ist ein scharfes Schwert, wenn man es anwendet. Man kann eine ganze Menge verhindern durch das Verbot von Versammlungen. Auch da sind wir, wie ich meine, zurecht großzügig, auch da ist auch das Bundesverfassungsgericht immer großzügig gewesen, in eben der Hoffnung, dass sich diese Probleme eben anders lösen als durch solch rechtliche Interventionen.

    Meurer: Nur wenn Sie übers Versammlungsrecht Demonstrationen verbieten, Herr Hassemer, dann fragt sich, was ist denn letzten Endes der Unterschied? In beiden Fällen, ob jetzt über Paragraf 130, oder über Versammlungsrecht, wird eine Demonstration verboten.

    Hassemer: Nein, es gibt schon einen Unterschied. Sie haben das vorhin so geschildert, dass man jetzt in jeder Woche gewissermaßen eine Versammlung hätte und die stört dieses und jenes. Das, meine ich, ist ein anderes Rechtsgut als die Äußerung einer Meinung.

    Meurer: Inwiefern?

    Hassemer: Weil die Meinungsäußerung im Grunde nur die stört, die sie hören wollen, oder die das lesen, oder was immer. Versammlungen stören möglicherweise den Verkehr, oder stören was weiß ich, Autofahrer oder sonst etwas. Das ist etwas Äußerliches, eine Versammlung, und Meinungsäußerungsfreiheit ist, wenn Sie so wollen, etwas Innerliches.

    Meurer: Ist für Sie eine Meinungserklärung akzeptabel, die Gewalt verherrlicht?

    Hassemer: Wenn es die Gewaltverherrlichung ist, dann, meine ich, haben wir das an anderen Stellen unseres Strafgesetzbuches durchaus schon mit Strafe bedroht. Nein, nein, es geht um gewissermaßen einen bestimmten historischen Zugang zur Gewalt, und das ist ja das Problem des Paragrafen 130.

    Meurer: Der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, heute Morgen bei uns hier im Deutschlandfunk. Schönen Dank, Herr Hassemer, und auf Wiederhören.

    Hassemer: Ja, ich danke Ihnen auch.