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"Ich möchte, dass der alte Mensch in Würde gepflegt wird"

Es gibt Zahlen, dass mindestens ein Viertel der Heimbewohner in der Nacht gefesselt wird, sagt Rolf Hirsch von der Initiative "Handeln statt Misshandeln". Andererseits werde in der Altenpflege so stark am Personal gespart, dass oft nur zwei Mitarbeiter im Nachtdienst bis zu 100 Pflegebedürftige versorgten.

Rolf Hirsch im Gespräch mit Jasper Barenberg | 14.11.2012
    Jasper Barenberg: Am Telefon begrüße ich Rolf Hirsch, den Vorsitzenden der Krisenberatungsstelle "Handeln statt Misshandeln - Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter".

    Rolf Hirsch: Guten Morgen.

    Barenberg: Guten Morgen, Herr Hirsch. - Sie bieten ja auch Betroffenen, Angehörigen, aber auch Pflegekräften natürlich telefonische Beratung an. Wie beurteilen Sie denn, was wir gerade aus Bremen erfahren haben, was wir von dort berichtet haben?

    Hirsch: Also, es ist sicherlich kein Einzelfall. Man kann natürlich schon sagen, körperliche Gewalt ist tendenziell erheblich seltener. Was aber geschildert wurde, die Beschämung, die Missachtung, die Vernachlässigung, die ist doch relativ häufig an der Tagesordnung.

    Barenberg: Ich habe ja schon erwähnt, dass es genaue Zahlen nicht gibt, dass Fachleute davon ausgehen, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt. Würden Sie das auch so sehen, dass wir da ein Problem haben, dessen Dimension nur schwer in harte Fakten zu bringen ist?

    Hirsch: Also, es gibt natürlich schon manche Zahlen. Was die Fesselungen angeht, gibt es Zahlen, dass mindestens ein Viertel der Heimbewohner in der Nacht gefesselt wird in unterschiedlichster Form. Dann natürlich von psychischer und anderen Formen, dass man davon ausgehen kann, tendenziell die Hälfte davon, die pflegebedürftig ist, haben schon damit große Schwierigkeiten. Das Dunkelfeld ist erheblich höher.

    Was mich nur am allermeisten ärgert: Es sind dann einzelne Personen. Natürlich muss man sofort Konsequenzen treffen. Wenn aber ein Politiker sagt, wir müssen aktiv sein und tun - es ist bekannt, was zu tun ist. Es ist eine strukturelle Gewalt gegen die Mitarbeiter auch. Die Schulungen sind praktisch fast null. Supervision findet nicht statt, Deeskalationstraining für kritische Situationen findet nicht statt, Sturzprophylaxe-Training findet nicht statt, ethische Konzile finden nicht statt, soziale Unterstützung der Mitarbeiter vor Ort auch nicht. Im Gegenteil: Es sind erheblich zu wenig fachliche Mitarbeiter da. Und was hier deutlich wurde: Dass ständig Leiharbeiter, ständig neue Personen sind, forciert erneut erhebliche Formen von Misshandlungen.

    Barenberg: Ist das eine Frage des Geldes vor allem, des mangelnden Geldes vielleicht?

    Hirsch: Zunächst ist es eine Sache der Einstellung. Welcher Politiker stellt sich hin und sagt, diese Systeme sind so, dass wir sie sofort und rasch ändern müssen? In keinem anderen Bereich, in der Jugendhilfe, in anderen Bereichen, würde man so Missstände eigentlich dulden. Man nimmt dann immer nur die Pflegekräfte, die wären so böse.

    Die Pflegekräfte: Wenn Sie sich vorstellen in deutschen Heimen, 80 bis 100 Personen, Pflegebedürftige in der Nacht, werden von zwei Pflegepersonen gepflegt, das kann nicht sein. Das ist eine Form der klaren strukturellen Gewalt. Und dann verrohen manche Mitarbeiter, weil sie es nicht mehr aushalten, sonst würden sie gehen.

    Barenberg: Das wird ja häufig auch als Ursache genannt: Überforderung der Pflegekräfte, Zeitmangel, Arbeitsbedingungen, die immer schwieriger werden. Ist das ein Problem, was zunimmt, was diesen Teil der Antwort angeht, aber auch was zunimmt, weil sich sozusagen die Klientel verändert, weil die älteren Menschen andere sind, als die, die wir früher in Pflegeheimen hatten?

    Hirsch: Also, es ist bekannt, dass seit Jahren die schwerst Pflegebedürftigen, die schwierigen, immer mehr in den Heimen werden. Das sind mindestens 70 bis 80 Prozent, das hat sich völlig verändert. Parallel dazu wird immer mehr gespart, es sind immer weniger Pflegepersonen da. Man muss aber sagen, Überforderung ist ein Punkt. Aber das sind alles kriminelle Handlungen und als solche sollten sie auch geahndet werden.

    Aber der Verantwortliche ist meistens der Träger zumindestens mit. Der Einzelne, wenn er überfordert ist, muss sich Hilfe suchen, kriegt aber normalerweise ein Minimum an Unterstützung. Die Vorgesetzten sind hier diejenigen, die wirklich extrem mehr handeln müssen, nicht allein die Pflegekräfte. Und wir müssen die Politik auffordern, dass sie endlich aktiv werden und nicht ständig neue Kontrollen rein tun, Heimaufsicht, medizinischer Dienst. Ich meine, wenn die vor Ort kommen, finden sie eigentlich normalerweise nichts. Das ist ein Unding.

    Es muss innerlich Veränderungen geben, es muss nicht immer mehr dokumentiert werden, sondern es muss die Würde des Menschen in den Mittelpunkt kommen und davon muss man ausgehen. Es ist bekannt, was zu tun ist, die Politiker müssen handeln und die Träger müssen auch handeln. Es gibt die Charta der Hilfe und für pflegebedürftige Menschen der Rechte für hilfe- und pflegebedürftige Menschen. In dieser Charta steht so viel drin, wo man sagen muss, das müsste verwirklicht werden, dann hätten wir das Problem deutlich weniger.

    Barenberg: Können Sie vielleicht noch mal ein, zwei Punkte nennen, die aus Ihrer Sicht am dringendsten wären, wenn es um Veränderungen geht?

    Hirsch: Das Dringendste ist, was die Mitarbeiter angeht, dass sie sinnvoll geschult werden für kritische und schwierige Situationen. Und das Zweite ist, dass man sehen muss, wie viele Personen braucht man. Und diese Personen müssen vor Ort da sein. Und letztendlich ist es nicht das Finanzielle, sondern die Einstellung im Kopf muss es sein, ich möchte, dass der alte Mensch vor Ort in Würde behandelt und gepflegt wird. Und daraus folgen die finanziellen Konsequenzen, die dann nicht so deutlich sind, wie immer befürchtet wird.

    Barenberg: Zum Schluss, Herr Hirsch: Wir haben über Pflegeheime gesprochen und über Pflegekräfte. Gibt es ähnliche Situationen, ähnliche Probleme, gibt es das Phänomen der Überforderung auch dort, wo ältere Menschen zuhause gepflegt werden?

    Hirsch: Natürlich. Ich meine, man muss im Vorfeld auch dazu sagen: Auch Ärzte, Richter, rechtliche Betreuer sind in diesen Bereichen natürlich voll mit involviert. Im häuslichen Bereich besteht ja keinerlei Kontrolle oder irgendetwas. Die größten Grausamkeiten passieren eigentlich im häuslichen Bereich, aber auch die größte Zuwendung, die größte Liebe, die größte Unterstützung. Aber hier ist es, wo der Gesetzgeber, aber auch die Polizei und Justiz sich raushält, weil sie sagt, das ist im Familienbereich. Dort ist es natürlich genauso brennend zur Unterstützung notwendig wie in Heimen.

    Barenberg: Ich habe ja vorhin erwähnt, dass Sie auch dieses Notruftelefon anbieten. Ist das eigentlich eine relativ einmalige Geschichte oder gibt es andere Angebote, an die sich Menschen wenden können, wenn solche Probleme, wenn solche Fälle auftreten?

    Hirsch: Also wir gehen ja jetzt ins 15. Jahr und haben in dieser Woche auch eine Feier und eine Pressekonferenz dazu. Das, was Pflegebedürftige angeht zur Unterstützung, da gibt es auf der einen Seite die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft, dann gibt es zirka 15 Einrichtungen in Deutschland, die ähnlich arbeiten wie wir. Bei uns kommt natürlich dazu, dass es uns um das Phänomen der Altersdiskriminierung insgesamt geht, ob einer dement ist oder nicht. Das ist relativ einmalig in Deutschland - leider.

    Barenberg: Und was können Sie denn konkret für Hilfen anbieten?

    Hirsch: Konkrete direkte Hilfen sind natürlich tendenziell nur vor Ort in Bonn, Rhein-Sieg-Kreis mehr oder weniger mit möglich, weil wir vor Ort dann gehen, mit den einzelnen sprechen und auf Veränderungen hinwirken, gemeinsam mit allen Beteiligten.

    Am Telefon können wir natürlich bestimmte Ratschläge erst mal geben aus unserer Erfahrung heraus. Da fühlen sich viele dann schon mal unterstützt. Dann kann natürlich die ganze Medikation mit ansehen und besprechen und sehen, wo gibt es etwas vor Ort. Wir vermitteln dann natürlich auch die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft, weil die vor Ort Selbsthilfegruppen-Unterstützungen auch haben. Das ist was Wunderbares in der Zusammenarbeit.

    Barenberg: Rolf Hirsch, Vorsitzender der Krisenberatungsstelle "Handeln statt Misshandeln - Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter". Herr Hirsch, danke für das Gespräch heute Morgen.

    Hirsch: Gern geschehen - danke Ihnen auch.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.