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"Ich sah die Sonne auf dem Grund des Meeres"

Wahre Künstler sollten verstehen und nicht richten. Diese mahnenden Worte stammen von Albert Camus inmitten des Kalten Krieges. Sie scheinen nach dem Scheitern der politischen Selbstermächtigung vieler Intellektueller an Aktualität kaum etwas eingebüßt zu haben.

Von Marleen Stoessel | 20.10.2013
    In ihrem Essay "Ich sah die Sonne auf dem Grund des Meeres" - Wie aktuell ist Camus?" untersucht Marleen Stoessel die politisch-philosophischen Spuren, die der französische Schriftsteller und Nobelpreisträger hinterlassen hat. Die Autorin lebt als freie Essayistin in Berlin. 2008 veröffentlichte sie im Insel-Verlag "eine Schelmengeschichte des Humors".


    "Ich sah die Sonne auf dem Grund des Meeres"
    Wie aktuell ist Camus?
    Von Marleen Stoessel

    Am 10. Dezember 1957 nimmt der 44-jährige Albert Camus den Nobelpreis entgegen und hält seine Dankesrede vor der Stockholmer Akademie. Darin reflektiert er die Erfahrungen seiner Generation zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg bis zu dem bedrohlichen Szenario des Kalten Krieges seiner Gegenwart und beschreibt seine Kunst und die Aufgabe des Schriftstellers im Lichte dieser Erfahrung:

    "Darum betrachten die wahren Künstler nichts mit Verachtung; sie fühlen sich verpflichtet, zu verstehen, nicht zu richten. Und wenn sie in der Welt Stellung zu beziehen haben, so können sie sich nur für eine Gesellschaft entscheiden, in der nach Nietzsches großem Wort nicht mehr der Richter herrschen wird, sondern der Schaffende, sei er nun Arbeiter oder Intellektueller. Gleichzeitig lässt die Aufgabe des Schriftstellers sich nicht von schwierigen Pflichten trennen. Seiner Bestimmung gemäß kann er sich heute nicht in den Dienst derer stellen, die Geschichte machen: Er steht im Dienste derer, die sie erleiden. Andernfalls sieht er sich allein und seiner Kunst beraubt."

    Kaum mehr als zwei Jahre nach dieser Rede, am 4. Januar 1960, wird Camus bei einem Autounfall getötet. In seiner Aktentasche ein unfertiges Manuskript mit dem Titel "Le premier homme - Der erste Mensch", das erst 1994 veröffentlicht wurde und auch als Fragment eine Sensation war. Den meisten war Camus bis dahin als Autor der berühmten Romane "Der Fremde" und "Die Pest" bekannt, als Verfasser des großen Essays "Der Mythos von Sisyphos", sowie einiger Dramen und vielleicht noch seines letzten größeren philosophischen Werks "Der Mensch in der Revolte". Man nannte ihn in einem Atemzug mit Sartre und den Existenzialisten, mit denen ihn jedoch nur eine vorübergehende Liaison verband.

    1943 waren Sartre und Camus einander erstmals begegnet, nachdem Sartre den "Fremden" und den "Sisyphos"-Essay ausführlich in den "Cahiers du Sud" besprochen hatte. Doch schon in dieser frühen, durchaus positiven Besprechung zeigten sich Züge kaum verhüllter Arroganz, die der Doyen der Pariser Existenzialisten dem ebenso begabten wie empfindlichen Neuling aus Algerien entgegenbrachte.

    Nur fünf Jahre später waren zumindest politisch die Fronten klar und die Abkühlung zwischen ihnen deutlich. Hier der berühmte Pariser Salonmarxist, der die stalinistischen Lager und die Gewalt der Sowjets auf dem Wege zu einer klassenlosen Gesellschaft verteidigte - so wie auch später die blutigen Aufstände der FLN, der algerischen Befreiungsfront gegen die französische Kolonialmacht. Dort der zwischen diesen Fronten als pied-noir, als Algerienfranzose, in einem afrikanischen Dorf in größter Armut geborene Albert Camus, Sohn elsässischer und spanischer Einwanderer, der nach einer kurzen, dreijährigen Mitgliedschaft in der KP noch vor dem Krieg, sich alsbald gegen jeglichen Imperialismus von links oder von rechts aussprach und später ebenso entschieden die anti-sowjetischen Aufstände in Ostberlin und Ungarn begrüßte.

    Er war nicht bereit, auch nur ein Menschenleben für eine totalitäre Idee zu opfern - darum auch nicht bereit, sich der Gewalt der algerischen Aufständischen anzuschließen, sondern auf heroisch-vergebliche Weise für die Sache aller Entrechteten in seinem Heimatland focht. Sein Plädoyer galt einer Föderation und friedlichen Koexistenz zwischen allen Gruppen und Schichten - jenem "dritten Weg", den er auch bei einer Rede im März 1956 vor den Aufständischen in Algier vorgeschlagen hatte - eine Rede, die unter den Pfiffen und Buhs schmählich unterging. Sein Vorschlag, sein politisches Engagement war gescheitert.

    Albert Camus wurde am 7. November 1913 als zweiter Sohn in dem ostalgerischen Dorf Mondovi geboren. Betrachtet man sein gerade mal 46 Jahre währendes Leben, so zeigt es wie im Zeitraffer die absurden Widersprüche einer Existenz, die allen Reichtum, Erfolg, ja auch Ruhm, und zugleich alle Not und Demütigung sowie die brutalen Ereignisse der Geschichte mit den vielstimmigen Echos eines Individuums, das sie erlitt, in sich zusammenfasste. Denn Camus begriff sich sowohl als philosophischer wie als literarischer Schriftsteller. Nebenher, und zuweilen auch hauptamtlich, war er Journalist, Redakteur und zeitweise Cheflektor von Gallimard, kämpfte er in der illegalen Zeitschrift "Combat" mit seiner Feder gegen die nazistischen Besatzer und war wochenlang in Algerien, bei kabylischen Berberstämmen oder auch im Gerichtssaal als Reporter unterwegs.

    Noch während des Studiums in Algier in den 30er-Jahren gründete er dort ein Theater und blieb auch später in Paris, wo es einige spektakuläre Aufführungen seiner Stücke gab, immer dem Theater als Autor und Regisseur verbunden. Dort begegnete er auch der jungen Maria Casarès, der er, nebst anderen Geliebten, bis zuletzt verbunden blieb. Zum Ehemann und Vater - zwei Ehen und eine Vaterschaft von Zwillingen wurden ihm zuteil - schien er nicht zu taugen, trotz der klaren Verantwortung, die er für all dies übernahm. Ein Leben als Zerreißprobe zwischen der Erfahrung seiner Herkunft und der öffentlichen Position, die er später in jungen Jahren noch erreichen sollte.

    Diese Herkunft, diese Armut, diese Zerrissenheit auch als Fremder im Land seiner Geburt wie als Fremder in Frankreich respektive Paris, ist Thema dieses letzten autobiografischen Roman-Fragments, grundiert aber in vielen Nuancen all seine Werke. Als Erfahrung der Absurdität aller Existenz, die er nur auf doppelte Weise, literarisch und philosophisch zu verarbeiten vermochte, die er jedoch stets als Einheit begriff. Er notiert es einmal in seinen Tagebüchern:

    "In beiden Gattungen beides mischen, aber den besonderen Ton wahren."

    Diese tief existenzielle Erfahrung ist, anders als bei seinen Kollegen im französischen Mutterland, geprägt von der eigenen frühen Todes-Erfahrung. Mit 16 Jahren vermag der schwer Tuberkulose-Kranke dem Tod eben noch von der Schippe zu springen. All sein Denken, sein gegen den Tod aufbegehrendes, "revoltierendes" Denken, aber zugleich auch sein leidenschaftliches Bekenntnis zum Leben werden aus dieser Erfahrung gespeist. Waren für die europäischen Existenzialisten wie Sartre vor allem Husserl, Heidegger oder Marx die Leitfiguren, so für Camus Dostojewski, Nietzsche, Kierkegaard, ja, sehr wesentlich auch Kafka oder Zeitgenossen wie Gide und Malraux, dessen berühmtes Werk "La condition humaine" 1933 erschienen war.

    In kritischer Auseinandersetzung mit diesen Autoren hat er seine unerbittliche Haltung gegen jeglichen Nihilismus und Totalitarismus als die tödlichen Stigmata seiner Epoche entwickelt. Die im "Ersten Menschen" mitgeteilte Erzählung über seinen Vater, der nach einer miterlebten öffentlichen Hinrichtung sich erbrochen hatte und nicht mehr ansprechbar war, prägte schon früh seine kompromisslose Haltung. Auch Meursault im "Fremden" erinnert sich dieser Episode, als er seiner eigenen Hinrichtung entgegensieht.
    Camus denkt vom Tode her, als dem Einzigen, dem wir nicht entrinnen können und dem wir uns zu unterwerfen haben. Indem wir ihn akzeptieren, werden wir frei - frei fürs Leben, im Besonderen frei für das schöpferische Leben, frei für die Kunst. Als Thema mit Variationen geht dies in all seine Werke ein: Philosophisch reflektiert er es in seinen beiden Essays "Der Mythos von Sisyphos", den er mitten im Krieg, im Herbst 1942, ein halbes Jahr nach dem Roman "Der Fremde" bei Gallimard veröffentlichte. Und er reflektiert das Thema, vielmehr, er führt es Jahre später fort in dem umfangreichen Essay "Der Mensch in der Revolte", der 1951 erschien und zum endgültigen Bruch mit Sartre führte.

    Von früh an haben den von Tuberkulose gezeichneten Sohn der Unterschicht Selbstmord-Gedanken begleitet. Die Fragen, die er stellte, waren existenziell für ihn, sie wogen schwer, und die Antworten, die er fand, spiegelten ganz konkret immer auch den eigenen Lebenskampf wider, den Kampf um und für sein Leben.

    Der zweite Essay hingegen, den Camus, als er wieder einmal schwer erkrankt war, während eines unglücklich-einsamen Genesungsaufenthaltes in Südfrankreich verfasste -- dieser Essay vom "Mensch in der Revolte" drang vor zu den politisch aktuellen Problemen der Zeit. Seine entscheidende Einsicht: Die Revolte, deren humanes, schöpferisches, immer wieder zu erneuerndes Potenzial er an geschichtlichen Beispielen kritisch erörtert und entfaltet, erhält ihre Legitimation allein durch die Grenzen, die sie immer neu markiert. Oder, mit den Worten Camus':

    "Die absolute Freiheit verhöhnt die Gerechtigkeit. Die absolute Gerechtigkeit leugnet die Freiheit. Um fruchtbar zu sein, müssen sich beide Begriffe gegenseitig begrenzen. [...] Die echte Tat der Revolte wird nur für Einrichtungen zu den Waffen greifen, die die Gewalt einschränken, und nicht für die, welche sie gesetzlich verankern. Nur dann lohnt die Revolution den Tod, wenn sie unverzüglich die Abschaffung der Todesstrafe versichert, und die Leiden des Gefängnisses, wenn sie im Voraus die Anwendung von Strafen ohne voraussehbares Ende verweigert. [...] Ist das Ziel absolut [...], so kann man so weit gehen, alle andern zu opfern. Wenn es das nicht ist, kann man nur sich selbst opfern [...]"

    60 Jahre später liest sich das noch immer erschreckend aktuell. Solche Sätze riefen freilich die ultralinken Dogmatiker auf den Plan. Eine vernichtende, persönliche Attacken nicht scheuende Kritik Sartres in der von ihm gegründeten Zeitschrift "Les temps modernes" führte 1952 zum endgültigen Bruch zwischen den beiden Diadochen der Pariser Szene. Die Feindseligkeit, die Häme und der Spott sollten Camus bis zu seinem Tod, ja noch über ihn hinaus begleiten.

    Czeslaw Milosz, der litauisch-polnisch-amerikanische Dichter und Nobelpreisträger von 1980, hat mehrfach über die "Feme-Stimmung" jener Pariser Jahre berichtet, der er selber als Dissident und Emigrant ausgesetzt war. 1994 schreibt er anlässlich Camus' im "Nouvel observateur":

    "Ich bin Anfang der fünfziger Jahre nach Frankreich gekommen. Ich hatte gerade mit dem Warschauer Regime gebrochen. Ich war im Exil. Ich war gereizt gegenüber dem intellektuellen Paris dieser Jahre, wo der Geist von 'Temps modernes' triumphierte, wo man mich systematisch als Verräter am Sozialismus zurückwies. Das war wie ein kollektiver Wahn. Jenseits von dieser Böswilligkeit und dieser Femestimmung gab es Albert Camus. Camus hatte mit diesem Pariser Milieu nichts gemein. Er war sehr freundschaftlich."

    Fast zur selben Zeit wie Camus hatte Milosz an seiner eigenen Abrechnung mit dem stalinistischen Regime geschrieben, die 1953 unter dem Titel "Das verführte Denken" erschien. So waren, aus entgegengesetzten Erdteilen und Erfahrungshorizonten kommend, der sich stets anders fühlende pied-noir und der aus altem litauischen Adelsgeschlecht stammende Exilant einander in Freundschaft begegnet. Heute wissen wir, dass diese durch und durch humane, jeglicher menschenfeindlichen Ideologie abholde und emphatisch gelebte Haltung dieser beiden großen Schriftsteller Jahrzehnte später ihre historische Rechtfertigung erfuhr, ohne indessen ihre Kraft damit je erschöpft zu haben.

    In seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Werk "La chute - Der Fall" wird es hellsichtig an einer Stelle heißen:

    "Wer einem Gesetz anhängt, fürchtet das Gericht nicht, denn es stellt ihn in eine Ordnung, an die er glaubt. Die höchste aller menschlichen Martern ist indessen, ohne Gesetz gerichtet zu werden, und in ebendieser Marter leben wir."

    Dieses schmale Werk - ein furioser, von Nietzsche inspirierter und mit mephistophelischer Kasuistik vorgetragener Monolog - ist die Lebensbeichte eines ramponierten Richters, der mit all seinen Lebenslügen abrechnet, um selbst noch aus der Lüge dieser Abrechnung Funken der Wahrheit zu schlagen.

    Das Denken vom Tode her stellt immer die Frage nach dem Sinn. Nach dem Sinn unserer begrenzten Existenz, des Leids, des Schicksals mit allen Zufälligkeiten, die wir erfahren. Camus starb nicht an der Tuberkulose, sondern ein Unfall zerstörte sein Leben. Erst vom Tode her - so seine frühe und die nun gewissermaßen posthume Einsicht - erhält ein Leben Bestimmung und Sinn, scheint das blindlings Zufällige gleichsam verbrannt, ausgelöscht und verwandelt. Diesen Blick ins Leben zu integrieren, dem Leben aus der Perspektive des Todes, nicht eines Gottesglaubens, Sinn zu verleihen und daraus die Freiheit zu gewinnen, war die Substanz der Revolte und für Camus die einzig menschenwürdige Anstrengung. Nur der Mensch, als einziges Wesen in der Schöpfung, ist sich seiner Endlichkeit bewusst, weiß, dass er sterben wird. Daraus allein bestimmt Camus den humanen, weil einzig menschlichen Auftrag, der für ihn keiner metaphysischen Instanz bedarf. Was indessen seine Sympathie und Freundschaft für die ebenfalls früh verstorbene jüdische Mystikerin Simone Weill, von der er Schriften bei Gallimard herausgab, nicht ausschloss. Von früh an war ihm selber der Tod ein Begleiter, Sinn und Freiheit gewann er allein aus dieser absurden Tatsache: Tod.

    "Ich glaube weiterhin, dass unserer Welt kein tieferer Sinn innewohnt. Aber ich weiß, dass etwas in ihr Sinn hat, und das ist der Mensch, denn er ist das einzige Wesen, das Sinn fordert. Diese Welt besitzt zumindest die Wahrheit des Menschen, und unsere Aufgabe besteht darin, ihm seine Gründe gegen das Schicksal in die Hand zu geben. Und die Welt hat keine anderen Seinsgründe als den Menschen, und ihn muss man retten, wenn man die Vorstellung retten will, die man sich vom Leben macht."

    Dies die Worte, die Camus im Juli 1944 in seinem vierten "Brief an einen deutschen Freund" richtet. Es ist ein imaginärer Freund, mithilfe dessen er jene Reflexion und Kritik des Nihilismus vornimmt, die seine drei Werke über das Absurde - das Drama "Caligula" inbegriffen - von Nietzsche her geprägt hatten. Kurz vor der Befreiung Frankreichs im August 1944 reflektiert er die beiden möglichen Konsequenzen einer nihilistischen Haltung: jener amoralischen, die in den nationalsozialistischen Verbrechen ihre Apotheose fand - und jener anderen Haltung, die, dargestellt auch im Roman "Die Pest", der 1947 erschien, zur Revolte, zum Protest, zum Einsatz gegen jegliche Ideologien führte, die im Namen nihilistischer Menschenverachtung oder eines geschichtlichen Endzieles das menschliche Leben negieren. Der imaginäre Adressat - wohl nur ironisch "Freund" genannt, denn jetzt ist er ja Feind - erscheint als Anhänger des Naziregimes und damit als negative Verkörperung jener einen denkbaren Konsequenz aus der Erfahrung des Absurden.

    Camus' fiktive Briefe, die in den letzten Kriegsjahren im Untergrund erschienen, werden so zum Dokument eines im Wortsinn radikalen Humanismus, eines Humanismus ohne Gott, dessen einziges Credo die Unverletzlichkeit der menschlichen Würde ist. Dieser, wenn man so will, praktisch gewordene Humanismus ist von derselben "Idee des Menschen" getragen, die wenige Jahre später in der UN-Menschenrechts-Charta ihren Niederschlag findet. Diese war wesentlich aus dem Geist der Résistance oder, wie Camus sagen würde: dem Geist der Revolte gespeist, auch wenn es ein anderer Résistance-Kämpfer war, der spätere UNO-Botschafter und Menschenrechtsbeauftragte Stéphane Hessel, der redaktionell an dieser epochalen Resolution beteiligt war. Und es ist derselbe Geist, der im dritten Brief an den sogenannten "deutschen Freund" auch Camus' Vision von Europa trägt, dessen "geistige", sprich kulturelle Werte er als "ein unteilbares Ganzes" begreift.

    Zufälligkeit und Ungerechtigkeit des Schicksals - beides hat Camus von früh auf erfahren, am eigenen Leib und in der Welt, die ihn umgab. Sein emphatisches Bekenntnis zum Leben, zur Schönheit der Welt und zur Kunst, das er den blind wirkenden Kontingenzen einer Welt ohne Gott und Gnade entgegensetzt, ist gewissermaßen die gottlose Antwort auf Hiobs biblische Anklage gegen den ungerechten Schöpfergott - auf das alte Problem der Theodizee: wie Gott das Übel, das Böse, das Leid, die Ungerechtigkeit in der Welt zulassen und rechtfertigen kann. Die immerwährende Frage nach dem Warum. In seiner letzten Antwort weist der biblische Gott Hiob auf die Schönheit seiner Schöpfung hin, die Kehrseite von allem Leid. Bei Camus liest sich das so:

    "Vor ihm traten die Wolken über den Hügeln auseinander wie ein sich öffnender Vorhang. Im gleichen Augenblick schien es, als wüchsen die Zypressen auf den Gipfeln plötzlich höher hinein ins befreite Blau. Die ganze Hügelwelt mit ihren Steinen und Ölbäumen hob sich langsam ihnen nach. Andere Wolken kamen. Der Vorhang schloss sich, und die Hügel mit ihren Zypressen und Häusern senkten sich aufs neue. Dann zog der gleiche Wind, der hier die dichten Wolkenfalten öffnete, sie über den anderen, sich in der Ferne verlierenden Hügeln wieder zusammen. Dies mächtige Ein- und Ausatmen der Erde vollzog sich im Rhythmus weniger Sekunden und wiederholte in immer weiteren Fernen das strenge, aus Stein und Luft gefügte Thema einer weltgewaltigen Fuge. Jedesmal sank das Thema einen Ton; und je ferner ich es verfolgte, um so ruhiger wurde ich. Und als mein Herz am Ende dieser Fernsicht angelangt war, umfasste es mit einem Blick die sämtlichen, ins Weite fliehenden Hügelketten und erhob sich aufatmend mit ihnen in einem einzigen Lobgesang der ganzen Erde."

    Dies der Hymnus auf die Erde, den in der Prosasammlung "Hochzeit des Lichts" der Erzähler hoch über Florenz anstimmt, im Anblick der ins Abendlicht getauchten toskanischen Hügel. Camus' humane Leistung besteht darin, an den Menschen selber jene göttliche Antwort zu delegieren, ihn allein als den zu begreifen, der Sinn zu fordern und Sinn zu setzen vermag. Als genuinen Akt seiner Freiheit, die ihm gerade im Angesicht von Not, Verzweiflung und Tod möglich wird.

    In dieser Freiheit liegt die letzte Revolte, die auch den zum Zufallsmörder gewordenen Meursault im Roman "Der Fremde" am Ende als zum Tode Verurteilter gelingt. Eine Freiheit, die ihm zwar zum Leben nicht mehr dient, aber ihm noch ein Mal den Sternenhimmel offenbart und ihn mit Freude und Gleichmut erfüllt, indem er sich zum ersten und letzten Mal der "tendre indifférence" öffnet, der "zarten Gleichgültigkeit der Welt".

    Noch bei dem ungarischen Schriftsteller und Nobelpreisträger Imre Kertész wird der lakonisch-karge Ton des "Fremden" in seinem großen "Roman eines Schicksallosen" nachhallen, der seine Erfahrung und sein Überleben von Auschwitz und Buchenwald als eine zugleich durch und durch absurde beschreibt, in der das mörderische Geschehen immer auch als eine entsetzliche Logik des "Natürlichen" erscheint. Natürlich - dieses bei Camus entliehene Wort wird in Varianten auch bei Kertész zum Inbegriff des Absurden.

    Sprecherin:
    Am Ende seines Essays über Sisyphos hat Camus diesen als einen glücklichen Menschen bezeichnet. Aller Sinn- und Nutzlosigkeit zum Trotz nimmt dieser nach jeder Bergbesteigung den Stein, der jedes mal hinabrollt, wieder auf, unermüdlich - im Wissen immerwährender Vergeblichkeit. Aber, wie es heißt:

    "Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache."

    Doch erst bei seiner Rückkehr nach unten, erst in dieser Pause vollzieht sich die entscheidende Wandlung:

    "Auf diesem Rückweg, während dieser Pause interessiert mich Sisyphos. Ein Gesicht, das sich so nahe dem Stein abmüht, ist selbst bereits Stein! Ich sehe, wie dieser Mann schwerfälligen, aber gleichmäßigen Schrittes zu der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil, ist die Stunde des Bewusstseins. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verlässt und allmählich in die Schlupflöcher der Götter entschwindet, ist er seinem Schicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels."

    Sein Fels! Erst jetzt wird er frei und fühlt er sich glücklich. Wie jener zum Tode verurteilte Meursault, der keine Hoffnung mehr kennt. Einmal den Tod, egal wie nah oder fern, akzeptiert, wird der Mensch frei - frei zu sich selbst, frei zu seiner Verantwortung, frei zu einem Ja zum Leben, um das aller Kampf und alle Mühe lohnt.

    So entflieht auch der Autor immer wieder dem gesellschaftlichen Rollen-, Masken- und Possenspiel seiner Pariser Existenz in die Einsamkeit, bricht immer wieder auf ins Land seiner Geburt, später in sein Haus in der Provence und begibt sich zu jenen Kraftquellen, die ihm den Kampf um diese Freiheit, diese Lebenswahrheit zu bestehen erlauben. Aber auch um seine Wahrheit als Schriftsteller und Künstler, nach der er unermüdlich strebt. All seine literarischen Essays aus den 50er Jahren wie "Hochzeit des Lichts", die Erzählungen aus "Licht und Schatten", die schon in den 30er Jahren entstanden, kreisen um diese frühe Erfahrung des Lichts und des Glücks der mittelmeerischen Welt. "Ich sah die Sonne auf dem Grund des Meeres" - dies die Worte, die ihm diese leuchtende Welt eingibt.

    Auf dem Soldatenfriedhof von Saint-Brieuc steht der 40jährige Jacques Cormery alias Albert Camus am Grab seines im Oktober 1914 an der Marne gefallenen Vaters. Wie in einer Erleuchtung wird dem Erzähler bewusst, dass er seinen damals 29-jährigen Vater schon um etliche Jahre überlebt hat. Der viel ältere Sohn steht vor dem unsichtbaren, fast unbekannten, viel jüngeren Vater. Ein Zeit-Bruch, der ihn ins Mark erschüttert. Seine schweigsame, wenn nicht stumme, etwas behinderte und analphabetische Mutter - tief und schmerzhaft geliebtes Inbild des Leidens, der Armut und der Zartheit - hat ihm nie Näheres über diesen Vater erzählt. Nun macht der überlebende Sohn sich noch einmal auf den Weg in das Land seiner Geburt und findet, - auf den Spuren des Vaters - die Mutter.

    Dies also das Thema seines großen letzten Fragment gebliebenen Romans "Der erste Mensch", der wie eine Art "umgekehrter Proust" erscheint. Im Anhang des unfertigen Buchs findet sich die Notiz:

    "Als er am Grab seines Vaters die Zeit auseinanderfallen fühlt - diese neue Ordnung der Zeit ist die des Buchs."

    Aus dem erhellenden Zeit-Bruch keimt der Entschluss zur Rückkehr und zu der endlichen Niederschrift, die sich schon seit Langem in ihm vorbereitet hatte. Eine Rückkehr freilich nur im Spiegel des Romans, denn Camus sitzt in seinem Haus in Lourmarin, als er dies schreibt. Die reale Rückkehr ist ihm nicht mehr vergönnt.

    In weiten, seitenlangen Satzbögen aber fließt ihm nun der Atem, eilend, als könne er den Reichtum, der sich ihm jetzt frei von allen literarischen Konventionen erschließt, kaum fassen - ein Reichtum, der aus der Erinnerung an die Kargheit, die Armut der Kinder- und Jugendjahre quillt, aus dem Schweigen der Mutter, das ihm schließlich zum Maßstab der Wahrheit wird. Seiner Wahrheit, nach der er lebenslang sucht. Ein Reichtum, der ebenso quillt aus allem, was wir umsonst empfangen: dem Licht, der Sonne, dem Meer.

    Dass Erinnerung, sprich Tradition, Kultur und Bildung sich wie bei Proust wesentlich an bürgerlichen Wohlstand, gar Reichtum knüpft, Armut aber an traditionslose, sprich kultur-lose und somit erinnerungslose Vergessenheit - diese bittere, illusionslose Erkenntnis hat Camus zugleich klar formuliert. So beschreibt er nicht nur die Scham, die den Schüler aus dem Armenviertel von Belcourt in Algier immer wieder von den anderen Mitschülern trennt, sondern auch die Scham über diese Scham, für die dieses letzte Werk sich auch wie eine Art Abbitte liest - Abbitte an all die Namenlosen, für die stellvertretend seine Familie steht, denen er hier zugleich ein Denkmal setzen will. Eine Notiz im Anhang vermerkt:

    "Diese arme Familie dem Los der Armen entreißen, das darin besteht, aus der Geschichte zu verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen. Die Stummen. - Sie waren und sind größer als ich."

    Dieselbe Erkenntnis hat ihm jedoch auch im Schweigen seiner Mutter, in der Kargheit seiner Jugend Schätze offenbart, die wir als Leser vielleicht erst heute, abseits aller bekannten Zuschreibungen und Klischees, die diesen Autor zum Mythos machten, zu würdigen wissen. Weniger der Mythos als der Kosmos Camus ist noch eine Entdeckung wert. Ein Kosmos, vielmehr jener auch heute wieder von blutigen Kämpfen geschüttelte fremde Kontinent, den er vertrat, und der ihn auch dieses Erlebnis notieren ließ:

    "Begegnung mit dem Araber in Saint Étienne. Und die Brüderlichkeit der zwei in Frankreich Exilierten."

    Ein Kontinent, ein Kosmos, durchstrahlt von dem Licht, auf das er wie unversehens auch am Ende seiner Nobelpreis-Rede noch einmal zu sprechen kommt:

    "Ich habe nie vermocht, auf das Licht zu verzichten, das Glück des Seins, das freie Leben, in dem ich aufgewachsen bin. Aber obwohl manche unter meinen Irrtümern und Fehlern sich aus diesem Sehnen erklären, hat es mir doch unzweifelhaft geholfen, meinen Beruf besser zu erfassen, und hilft mir noch heute, blindlings bei all den schweigenden, über die Welt verstreuten Menschen zu stehen, die das ihnen bereitete Leben nur in der Erinnerung oder der Wiederkehr flüchtiger, freier Augenblicke des Glücks ertragen."
    Der französische Schriftsteller und Philosoph Jean-Paul Sartre, Aufnahme von 1969
    Der französische Schriftsteller und Philosoph Jean-Paul Sartre, Aufnahme von 1969 (AP Archiv)
    Ein Engel-Grabstein auf dem Friedhof
    Das Denken vom Tode her stellt immer die Frage nach dem Sinn. (Jan-Martin Altgeld)