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Ich sehe was, was du dir denkst

Der sicherste Rückzugsort des Ichs liegt im eigenen Kopf. Hier kann jeder denken und fühlen was er will, ohne befürchten zu müssen, von der Polizei, Marketingfachleuten oder dem eigenen Partner belauscht zu werden. Bis jetzt.

Von Volkart Wildermuth | 05.07.2009
    Die Gedanken sind frei. Der eigene Geist – ein sicherer Rückzugsort des Individuums. Wer nur denkt und träumt und nicht redet oder handelt ist wahrhaft frei, kann selbst vom verbrecherischsten Regime nicht zu Verantwortung gezogen werden. - Doch das könnte sich ändern.

    "Jeder Gedanke, den eine Person hat, hat ein unverwechselbares Aktivitätsmuster im Gehirn wie quasi ein Gedankenabdruck, und wenn eine Person einen anderen Gedanken hat, dann gibt es ein anderes Muster im Gehirn, einen anderen Gedankenabdruck. Und wir trainieren jetzt Computer, diese Gedankenabdrücke für verschiedene Gedanken zu erkennen."

    Interessant, sagen die Geheimdienste. Bis in die 70er-Jahre experimentierte die CIA unter dem Code-Namen MKultra mit Verfahren zur "Vorhersage, Steuerung und Kontrolle des menschlichen Verhaltens". Eingesetzt wurde alles, was die vorderste Front der Forschung damals zu bieten hatte: halluzinogene Drogen, Hypnose, künstliche Gehirnerschütterung. Es gab verdeckte Menschenversuche an Gefängnisinsassen und an normalen Bürgern. Über ähnliche Ansätze in der UdSSR, in China oder Korea ist dagegen wenig bekannt. Moderne Verfahren des Gedankenlesens sind weniger belastend, haben aber das Potential, zielgenauer zu sein. Die Geheimdienste werden das Forschungsfeld genau verfolgen.

    "Sie werden jetzt einen kurzen Film, eine Banküberfallszene sehen und Ihre Aufgabe ist es, sich diesen Film so genau wir möglich anzusehen, weil wir am Schluss der Sitzung Fragen zu diesem Film stellen werden."

    Das EEG-Labor des Instituts für Kognitive Neuropsychologie der Freien Universität Berlin. Eine Versuchsperson sitzt allein vor dem Bildschirm und wird Zeuge eines Zwei-Minuten-Tatorts.

    "Das ist ein Überfall, haben sie ja gemerkt. Wenn keiner aus der Reihe tanzt, ist in drei Minuten alles erledigt…."

    Ein vermummter Mann mit Pistole stürmt in eine Bank. Der Mann bedroht die Angestellten, lässt sich in den Tresorraum führen. Eine Angestellte drückt den Alarm. Die Polizei kommt, der Mann flüchtet. Ende. Der Versuchsleiter kommt zurück.

    "So wir wechseln die Lichtverhältnisse wieder."

    Der Psychologe Dr. Sascha Tamm will herausfinden, wie verlässlich die Erinnerungen seiner "experimentellen "Zeugen" sind. Die Probanden bekommen eine High-Tech-Badekappe aufgesetzt, darin eingearbeitet: 27 Elektroden, die das Feuern der Nervenzellen belauschen. Kontaktgel stellt die Verbindung zur Kopfhaut sicher. Die Signale sind winzig klein. Tamm:

    "Ja die Spannungsdifferenzen, die sind im Bereich von Millionstel Volt. Das heißt, also ein Volt ist in etwa eine Walkman Batterie und das eine Million mal kleiner. Das sind also wirklich sehr kleine Signale, die wir da versuchen zu messen. Und deswegen der ganze Aufwand mit der Paste und so weiter. So das ganze Kabelgewirr an der Kappe kommt jetzt in so ein kleines Kästchen und von dem Kästchen geht es dann zum Verstärker. Wir gehen jetzt raus, machen die Tür zu und dann startet die Messung."

    Auf dem Bildschirm erscheinen Fragen. Betätigt der Bankangestellte, kurze Pause, das Zahlenschloss? Der Proband klickt auf Nein. Knebelte der Bankräuber, kurze Pause, die Angestellten mit Klebeband?; Ja; Weinten, kurze Pause, die weiblichen Bankangestellten?; Ja, und so weiter, 35 Fragen lang. Tamm:

    "So das waren die Fragen zum Film."

    Für die Versuchsperson ist das Experiment zu Ende. Für Sascha Tamm fängt es gerade an. Er wird die EEG-Daten durchforsten nach Spuren falscher Erinnerungen. Falsche Erinnerungen, die er suggeriert hat über Fragen, wie die zu den weinenden weiblichen Angestellten. Im Film weinen die Frauen nicht, trotzdem aktiviert die Frage Vorstellungen über einen "typischen" Banküberfall. Viele Versuchspersonen folgen der Suggestion, antworten mit "Ja". Solche Klischees will Sascha Tamm im Gehirn von den Spuren eigenen Erlebens unterscheiden. Tamm:

    "Also ich weiß zwar, wie so ein Banküberfall typischerweise abläuft, aber die Schreie dabei, die ganzen Objekte, die ich dabei angucke in diesem Detailreichtum, das ist etwas, das bei einem solchen Schemawissen nicht mit abgerufen wird. Von daher haben wir gehofft, dass wir insbesondere in den Arealen, die mit visueller Verarbeitung zu tun haben, dort vielleicht Unterschiede zwischen den beiden Bedingungen messen können."

    Jede Elektrode des EEG oder Elektroenzephalographen zeichnet von der Kopfhaut aus die Reaktion von Millionen von Nervenzellen auf. Das Ergebnis sind lange Zackenlinien, an deren Form der Arzt normalerweise Krankheiten wie eine Epilepsie erkennen kann. Rückschlüsse auf konkrete Denkprozesse sind dagegen kaum möglich. Dafür arbeitet das EEG zu indirekt: Wäre das Gehirn ein Computer, dann würde das EEG weniger die Zeichen auf dem Bildschirm zeigen, sondern lediglich das Brummen des Netzteils verfolgen. Aber auch dieses Brummen enthält wertvolle Informationen. Sie lassen sich extrahieren, wenn die Forscher Daten aus sehr vielen Versuchen gemeinsam auf die Millisekunde genau analysieren. In diesem Fall jeweils beginnend bei den kurzen Pausen in den Fragen. So mittelt sich die unspezifische Hirnaktivität heraus und aus den zackigen Kurven erheben sich klare Signale. Tamm:

    "Was wir bei diesen Versuchspersonen sehr konsistent gefunden haben, sind Unterschiede im hinteren Bereich des Gehirns, also in dem Bereich, der mit visueller Verarbeitung zu tun hat."

    Etwa eine halbe Sekunde nach einer Frage registrieren die Elektroden am Hinterkopf kleine Unterscheide zwischen echter Erinnerung und bloßer Suggestion. Es scheint so, als ob das Gehirn mehr Arbeit aufwenden muss, wenn es nicht auf Erinnerungsbilder zurückgreift, sondern aufgrund von Erwartungen eine neue visuelle Szene konstruieren muss. Für die Untersuchung wurden die Daten von 60 Versuchspersonen gemeinsam analysiert. Seit Sascha Tamm aber weiß, worauf genau er im EEG achten muss, findet er die Spuren falscher Erinnerungen auch bei Einzelpersonen. Tamm:

    "In unserem Fall ist es so, dass wir einen Signalunterschied gefunden haben, einen, den wir so auch in vielleicht 45 bis 50 Versuchspersonen auch im Einzelfall so finden würden. Und das ist schon ein sehr deutlicher Unterschied, der uns natürlich auch sehr optimistisch stimmt, dass das Ganze auch etwas liefert, was man dann mit Blick auf die Forensik dann irgendwann auch mal verwenden kann."

    Im Juli 2008 wurden in Indien erstmals mehrere lebenslange Haftstrafen aufgrund von "EEG Beweisen" verhängt. In einem der Fälle soll Aditi Shamra ihren Exfreund mit Arsen vergiftet haben. Angeblich zeigen die Daten aus dem Gehirn, dass Aditi Shamra echte Erinnerungen an die Tat hat, zum Beispiel an den Kauf des Arsens. Aditi Shamra ging in Berufung und wurde gegen Kaution freigelassen. In den USA bieten Firmen wie "Brain fingerprinting" und "NoLieFMRI" an, Lügen wissenschaftlich aufzudecken. Die Verfahren seien zu 90 Prozent akkurat, heißt es auf den Webseiten. Doch die Zahlen stammen aus Labor-Experimenten. Da lügen Studenten für ein paar Dollar Honorar. Kaum vergleichbar mit einem echten Mordprozess, in dem es in den USA um Leben und Tod gehen kann. Wissenschaftlich sind noch viele Fragen offen. Derweil geht in den USA der Druck für die Zulassung von EEG und Hirnscan vor Gericht nicht von der Polizei aus, sondern von Angeklagten, die so ihre Unschuld beweisen wollen.

    "Ich denke, es ist tatsächlich insofern prinzipiell nicht so neu, als wir in der Tat auch heute schon Verhalten, Verhaltensmerkmale, Mimik, Gestik und zwar auf eine sehr subtile Art und Weise benutzen, um etwas über eine Person herauszufinden, was die uns vielleicht gar nicht sagen möchte."

    Michael Pauen, Philosophieprofessor an der Humboldt Universität Berlin.

    "Wir gehen normalerweise davon aus, dass das legitim ist. Und wenn wir das jetzt mit etwas verfeinerten wissenschaftlichen Methoden machen, dann kann ich jetzt nicht sehen, warum das so etwas prinzipiell anderes ist. Vorausgesetzt, man wahrt die Würde der Person und die ansonsten zu respektierende Privatheit ihrer Gedanken, also solcher Gedanken, die jetzt mit dem konkreten Fall, um den es geht, nichts zu tun haben."

    Das EEG kann etwas über die Qualität der Gedanken verraten: Lüge oder Wahrheit, Erinnerung oder Einbildung, neutral oder emotional. Die eigentlichen Inhalte der Gedanken lassen sich mit dieser Methode nicht abgreifen. Viele Forscher setzen deshalb auf die Großgeräte der Neurowissenschaft, auf Tomographen, die Bilder der Aktivität des Gehirns liefern. Haynes:

    "Das ist also so, dass es eine Musterung der Aktivität in dem bestimmten Gehirnareal gibt, und diese Musterung, die sich da einstellt, die kodiert, welchen Wunsch eine Person zum Beispiel gerade hat. Und um diese Muster auszulesen, muss man spezialisierte Computerprogramme verwenden, die darauf trainiert werden, diese Muster zu erkennen. Und wir können dann sagen, welchen Gedanken, zum Beispiel welchen Wunsch eine Person gerade hat."

    Einen solchen Gedankenabdruck erzeugt Professor John Dylan Haynes am Berliner Bernstein Center for Computational Neuroscience mit der funktionellen Magnetresonanz-Tomographie, englisch abgekürzt FMRI.

    FMRI Geräte sind raumfüllende Apparate. Die Versuchsperson liegt möglichst bewegungslos in einer engen Röhre in der Mitte. Gemessen wird mit Hilfe spezieller Magnetfelder die Verteilung des sauerstoffreichen Blutes im Gehirn. Allerdings ist fast das gesamte Gehirn ständig am Arbeiten. Eine einzelne FMRI-Aufnahme ist deshalb nicht zu interpretieren. Die Forscher vergleichen immer zwei Aufnahmen, etwa eine beim Dösen im Tomographen mit einer beim Kopfrechnen. Die Unterschiede zeigen dann Gebiete, die wohl an mathematischen Operationen beteiligt sind. Die so errechneten bunten Bilder aus dem Gehirn sind aber nie exakte Abbilder des Denkens. Es sind wissenschaftliche Modelle, die mit Vorsicht interpretiert werden müssen.

    In Berlin sollten die Versuchspersonen im Scanner etwas ganz einfaches tun: sich frei entscheiden, mit der rechten oder linken Hand einen Knopf zu drücken. Die Aufnahmen der Hirnaktivität durchforstete John Dylan Haynes dann nach dem Gedankenabdruck der Entscheidung. Die Computer mussten lange laufen, am Ende wurden sie fündig: Die Entscheidung rechts oder links lässt sich aus dem Gehirn auslesen. Die Zeichen sind sogar zu erkennen, bevor sich die Versuchsperson der Entscheidung selbst bewusst wird. Haynes:

    "Wenn eine Person sich zu einem Zeitpunkt Null entscheidet, sind wir dazu in der Lage, bereits sieben Sekunden vor einer Entscheidung vorherzusagen, wie sich jemand gleich entscheiden wird."

    Allerdings nur mit einer Trefferrate von 60 Prozent, kaum besser als wenn der Hirnforscher einfach geraten hätte. Haynes:

    "Wir können das allerdings noch sehr stark verbessern, wenn wir ein Mustererkennungsverfahren nehmen, das auf den individuellen Probanden zurechtgeschnitten ist. Dann können wird das noch wesentlich erhöhen, auf 80 Prozent zum Beispiel."

    Sieben Sekunden, bevor die Versuchsperson sich bewusst entscheidet, findet sich ein Gedankenabdruck im Gehirn, der diese Entscheidung mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit voraussagt. Heißt das, wir sind nur Automaten, Marionetten an den Fäden der Nervennetze? Haynes:

    "Wenn ich sage, ich erlebe mein Unbewusstes als etwas von mir Getrenntes, dann werde ich sagen, dass ich diesen unbewussten Prozessen quasi hilflos ausgeliefert bin. Wenn ich allerdings eine Einheit wahrnehme, zwischen meinen unbewussten Prozessen und meinem Erleben, meinem Ich, dann werde ich da kein Problem damit haben, die Verantwortung auch auf diese unbewussten Hirnprozesse auszudehnen. In meinen Augen zählt zur Person das Ganze, die bewussten und die unbewussten Prozesse."

    Die Frage des freien Willens ist philosophisch hoch umstritten. Die Experimente der Gedankenforscher liefern jetzt ein paar zusätzliche Argumente. Ihre Bedeutung wird derzeit in langen Abhandlungen erörtert. Trotz aller Fortschritte: Der Philosoph Michael Pauen ist nur eingeschränkt beeindruckt von den wissenschaftlichen Gedankenlesern.

    "Man schränkt mit künstlichen Mitteln, so wie das in Experimenten nun mal unvermeidlich ist, die Anzahl der Gedanken, die man da haben kann, von vorne herein sehr, sehr stark ein, häufig auf nur zwei Alternativen. Und kann dann eben mit den Methoden der Hirnforschung feststellen, welche der beiden Alternativen von der Person im Moment gedacht wird. Das ist natürlich kein Gedankenlesen, so wie wir das normalerweise verstehen würden, wo die Zahl der Alternativen eben gerade nicht beschränkt wird."

    Den Raum der lesbaren Gedanken haben Forscher aus Berkeley, Kalifornien, derweil dramatisch geweitet. Sie lesen mit dem Hirnscanner aus, was die Versuchspersonen gerade sehen, und können dabei nicht nur zwischen zwei, sondern zwischen 100 vielleicht sogar 1000 Alternativen recht sicher unterscheiden. Das erfordert allerdings einen hohen Aufwand. Die Versuchspersonen mussten im Scanner erst einmal 1700 Fotos betrachten, Landschaften, Bäume, Gesichter, Tiere. Aus den Reaktionen des Gehirns ließ sich für jeden Probanden ein individuelles Modell der Bildverarbeitung in seinem Kopf ableiten. Mit seiner Hilfe konnte der Computer allein aus der Gehirnaktivität ableiten, welches von 120 Bildern die Person gerade betrachtete. Wohlgemerkt: Es ging nicht darum, einen Gedankenabdruck mit einer Datenbank bekannter Abdrücke abzugleichen. Die Testbilder waren den Probanden bis dahin unbekannt – die Erkennungsrate trotzdem 90 Prozent. Ein ähnliches Verfahren aus Pittsburgh nutzt die Analyse der Sprachnetzwerke im Gehirn, um das bloße Vorstellen eines Objekts auszulesen. Haynes:

    "Mit den Verfahren zur Mustererkennung war es bisher erforderlich, dass man für jedes Bild oder für jeden Gedanken, den eine Person hat, das Muster der Hirnaktivität kennen muss, um es auslesen zu können. Was diese Verfahren jetzt zeigen ist, dass man möglicherweise ein paar Beispielgedanken messen kann. Und dass man aus diesen Referenzpunkten im Gehirn auf ganz viele andere Gedankenmuster schließen kann. Das heißt, man müsste dann nur ein paar kurze Messungen machen und könnte dann eine große Vielzahl von möglichen Gedanken aus der Hirnaktivität auslesen."

    Heimatschützer sehen hier ein großes Potential. Wer eine Bombe in ein Flugzeug schmuggelt, wird an " Bombe" denken. Und das sollten empfindliche Messgeräte in Zukunft aus der Ferne aufzeichnen können. Die Nasa arbeitet an nicht-invasiven neuroelektrischen Sensoren, die in die Sicherheitsschleusen eingebaut werden sollen. Einen Schritt weiter geht ein russisch-kanadisches System. SSRMTek nutzt einen Bildschirm, der einen normalen Film oder die Flugzeiten zeigt, auf dem aber gleichzeitig Worte wie "Bombe" aufblitzen. Bewusst werden sie nicht wahrgenommen. Die in den Hirnströmen der Passagiere versteckten Reaktionen aber könnten Terroristen enttarnen.

    "Sich vorzustellen, dass man vor einem Flughafen ein Gerät aufbaut, dort die Passagiere durchschickt und dann auf einem Bildschirm sieht, woran die Personen denken, das ist also absolut utopisch."

    Sascha Tamm.

    "Insbesondere wenn wir dann auch noch daran denken, dass es ja nicht nur darum geht zu sehen, die Person denkt an eine Waffe zum Beispiel, sondern wir müssen ja auch noch wissen, warum sie das tut und welche Absicht sie damit verfolgt. Das kann genauso der Fall sein, dass es ein Sicherheitsbeamter ist oder eine Person, die vorher in der Zeitung gerade etwas über Waffen gelesen hat und deshalb besorgt ist, dass Waffen an Bord sein könnten oder jemand, der zu einer Waffenausstellung fahren will."

    Die Gedankenforscher müssen abwägen: soll ihr System für viele Menschen anwendbar sein, kann es nur einfache, allgemeine Reaktionen auslesen. Und die sind selten eindeutig. Suchen sie dagegen nach konkreten Informationen, müssen sie ihre Computermodelle auf die Besonderheiten des Gehirns der jeweiligen Person einstellen. Die dafür nötigen Messungen stört schon ein Kopfwackeln oder ein gezieltes Abschweifen der Gedanken - für den Philosophen Michael Pauen der beste Garant für die Freiheit des Einzelnen.

    "Dass das zu einem praktischen Problem wird, kann ich mir auch nicht vorstellen. Einfach weil der Aufwand, den man selbst in so einer Science-Fiction-Situation treiben müsste, einfach noch derart groß wäre, dass das nur in Ausnahmefällen und dann in jedem Falle mit nur dem Willen und dem Einverständnis der Person gemacht werden könnte."

    Der einfachste Weg, die Gedanken eines anderen kennenzulernen, ist die Frage: "Woran denkst du?" Die Antwort fällt allerdings manchmal schwer. So eindeutig ist der Inhalt des eigenen Geistes oft gar nicht: im freien Strom des Bewusstseins, im Wechsel der Assoziationen, Erinnerungen, Überlegungen. Das ist für den Philosophieprofessor Thomas Metzinger aus Mainz entscheidend. Schließlich zieht die Psychologie inzwischen in Zweifel, dass wir immer wissen, was wir denken.

    "Das heißt, auch diese alte kartesianische Idee, dass der Geist ein leuchtender Innenraum ist, in dem ich alles klar erkenne und mich nicht über mich selbst täuschen kann, ist eigentlich auch nicht mehr haltbar. Wenn das kleine Kind hinfällt und sich mit ausdruckslosem Gesicht umschaut, wie schlimm war das denn jetzt eigentlich? Dann hängt das wirklich davon ab. Wenn die Mutter einfach nur lacht, dann wird das Kind auch lachen und denken, es ist nur etwas sehr Überraschendes passiert. Wenn die Mutter sich sehr erschreckt fängt das Kind sofort an zu weinen. Weil es seinen eigenen emotionalen Zustand überhaupt erst sozial determiniert."

    Dem Erwachsen hilft der Psychoanalytiker, seine Gefühle zu interpretieren, sie zu Gedanken zu verfestigen. Metzinger:

    "Das heißt, eine falsche Vorstellung ist, dass die Inhalte von Gedanken zu allen Zeitpunkten immer schon feststehen und einfach so ausgelesen werden können."

    Für Philosophen ein Problem, nicht aber für die Praktiker. Sie verfolgen jede neue Entwicklung und stellen fest: man muss Gedanken gar nicht in all ihrer Komplexität auslesen. Man kann auch schon mit Bruchstücken etwas anfangen. Ein solcher Praktiker ist Dr. Adrian Owen von der Universität im englischen Cambridge. Er arbeitet mit Menschen, denen die direkte Kommunikation verbaut ist. Patienten im Wachkoma. Sie liegen da, bewegungslos, ihre Augen wandern ziellos durch den Raum. Wenn sich daran über Jahre nichts ändert, stellt sich die Frage, soll der Körper noch künstlich am Leben gehalten werden?

    Adrian Owen legt Komapatienten in den MRI-Scanner, um in ihrem Gehirn nach Spuren des Bewusstseins zu suchen. Er bittet sie, sich vorzustellen, Tennis zu spielen, oder im Geist durch ihr Haus zu gehen. Bei einigen Komapatienten wird bei den Tennisaufgaben immer das Bewegungszentrum des Gehirns aktiv und bei der Aufgabe mit dem Haus immer eine Region, die für die räumliche Orientierung zuständig ist. Und wenn sie an gar nichts denken sollen, dann verschwinden diese leuchtenden Regionen auf dem Bildschirm des Hirnscanners. Dieses Ergebnis lässt sich kaum anders erklären, als dass die Patienten bewusst den Anweisungen folgen.

    "Das ist ein typisches Beispiel dafür, wie neuere empirische Forschungen direkt ethisch relevant sind und traditionelle Vorstellungen über den Haufen werfen, die immerhin in den USA 12.000 bis 15.000 Patienten pro Jahr betreffen."

    So Thomas Metzinger. Bisher wurden erst wenige Komapatienten so untersucht und längst nicht alle zeigten Hinweise auf ein in einem bewegungslosen Körper eingesperrtes Bewusstseins. Das heißt aber nicht, dass diese Menschen nur noch dahinvegetieren. Es könnte schlicht sein, dass ihr Gehirn zum Zeitpunkt der Untersuchung geschlafen hat. Andererseits ist ein positives Ergebnis ein starker Hinweis auf einen wachen Geist, der versucht auf seine Existenz aufmerksam zu machen. Wenn ihm das mit Hilfe der modernen Gedankenleser gelingt, profitieren die Patienten, davon ist Adrian Owen überzeugt.

    "Ich geben ihnen ein Beispiel. Die erste Patientin, die wir vor zehn Jahren untersucht haben und deren Gehirn reagierte, war wirklich bemerkenswert. Einige Monate nach der Untersuchung wachte sie aus dem Koma auf. Sie konnte sich nicht an die Untersuchung im Hirnscanner erinnern, aber sie sprach viel darüber, wie sie in der Klinik behandelt wurde. Die Menschen dort wussten, dass sie noch geistige Restfunktionen hatte, dass sie Gesichter erkennen konnte. Und das, so glaube ich, hat beeinflusst, wie sich die Leute um sie kümmerten."

    Als alltagstauglicher Kommunikationskanal kann der Hirnscanner nicht dienen. Dazu sind die Geräte zu umständlich. Weltweit wird deshalb an einfachen EEG-Systemen geforscht, zum Beispiel an der Berliner Charité. Die Verfahren sind fast praxisreif, so Professor Gabriel Curio.

    "Der praktische Einsatz in einer Patientengruppe von Querschnittsgelähmten, die wir in Berlin untersucht hatten, sah so aus, dass es möglich war, innerhalb eines ersten Tages einen Cursor auf einem Bildschirm verschieben zu lassen."

    Solche EEG-Schnittstellen haben das Potential, den Massenmarkt zu erobern, Maus und Tastatur Konkurrenz zu machen. Die australische Firma Emotiv Systems hat eine Art elektrodenbestückten Fahrradhelm vorgestellt, der es Computerspielern erlauben soll, sich mit Gedankenkraft durch virtuelle Landschaften zu bewegen. Noch dieses Jahr wird er für rund 300 Dollar zu haben sein.

    "Wenn wir EEG-Versuche im Fahrzeug machen, ist es besonders wichtig, dass wir die gesamte Fahrer-Fahrzeug-Interaktion messen können. Wir müssen sie ja kontrollieren. Dazu haben wir in dem Fahrzeug analoge Sensoren verbaut, wie Lenkradwinkel. Wir sind in der Lage, die gesamte Pedalerie zu filmen, als auch die Blickbewegung des Fahrers. Das ist besonders wichtig, damit wir wissen, in welchem Moment der Fahrer wohin geschaut hat, im Manöver, damit wir die EEG Daten vernünftig auswerten können."

    Ein Kombi vollgestopft mit Computern und Messtechnik fährt durch Berlin. Am Steuer Diplom-Ingenieur Sebastian Welke. Auf seinem Kopf sitzt eine EEG-Haube mit 64 Elektroden. Jede Reaktion der Hirnströme wird verfolgt und später im Zentrum Mensch-Maschine-Systeme an der Technischen Universität analysiert. Sebastian Welke will herausfinden, was im Kopf vorgeht, wenn es brenzlig wird. Und zwar bevor der Arm das Lenkrad herumreißt oder der Fuß die Bremse niederstößt.

    "Sie müssen sich vorstellen, wir fahren jetzt an, wir konzentrieren uns auf die Ampel, die Ampel wird grün, wir fahren los, plötzlich springt ein Kind auf die Straße zwischen zwei parkenden Autos durch. Was tun wir? Die Entscheidung auszuweichen wird zuerst im Kopf präsent. Das Gehirn des Fahrers ist der schnellste Entscheidungsfinder. Hier macht es Sinn, nach Informationen zu suchen. Hier könnten wir einem Fahrer-Assistenzsystem, einem Lenkassistenten, die zusätzliche Information geben, was der Fahrer beabsichtigt."

    "Wie viel Zeit kann man dadurch gewinnen?"

    "Wir sind hier im Bereich von absoluten Millisekunden, es können aber genau diese entscheidenden Millisekunden sein, die uns dabei helfen eventuell das Leben des Kindes zu retten."

    Bei den Fahrten durch Berlin will Sebastian Welke nur die Hirnprozesse bei normalem Fahrbetrieb erfassen, beim Beschleunigen, Kuppeln, Lenken, Bremsen. Den Ernstfall stellt der Autofan, der privat auch Rennen fährt, auf einer Teststrecke nach. Ein großer, plötzlich auf die Fahrbahn geworfener Ball repräsentiert dann das Kind. Und tatsächlich: Aus den EEG Daten lässt sich schon vor der Handlung ablesen, wie der Fahrer gleich reagieren wird. Welke:

    "Wir haben erste Hinweise und Indikatoren bekommen, dass wir in der Lage sind, eine Sekunde bevor der Fahrer am Lenkrad dreht, diese Information im Gehirn schon vorliegt. Wir bewegen uns im Moment im Bereich von um die 70 bis 75 Prozent. Das ist natürlich für ein reales System zur Unfallvermeidung noch viel, viel zu schlecht. Hier müssen wir noch sehr viel Arbeit leisten, um die Systeme sehr viel robuster zu machen."

    Autos sind ein Massenmarkt, da kommt es auf robuste Signale an, nicht auf die Entschlüsselung individueller Gedanken. In einem ersten Schritt sollen die Daten aus Berlin dazu beitragen, bestehende Assistenzsysteme zu verbessern. In fünf Jahren dann soll das Auto im Notfall schon direkt auf das Gehirn des Fahrers reagieren können. Ob sich die Verkehrsteilnehmer aber in die Gedanken schauen lassen wollen, ist völlig offen. Schließlich machen sie damit ein Stück weit ihren Geist zugänglich. Und dass diese Gehirndaten unter allen Umständen privat bleiben, ist eher unwahrscheinlich. Schließlich könnten sie nach einem Unfall helfen, die Schuldfrage zu klären. Welke:

    "Natürlich, in dem Moment, wo Daten erhoben werden, können sie für jegliche Art der Auswertung genutzt werden. Jedoch wird bereits heute im Bereich Personalauswahl sehr viel Eignungsdiagnostik betrieben, wo sehr viel weitergehende Fragen gestellt werden, als wir sie im Fahrzeug überhaupt messen können."

    "Ich bin in jedem Fall der Meinung, dass man über einen Datenschutz für das Gehirn nachdenken muss."

    John Dylan Haynes fordert grundsätzlich so etwas wie eine geistige Privatsphäre.

    "Wir müssen uns also fragen, wollen wir es überhaupt erlauben, dass mittels der Hirnaktivität einer Person auf deren Gedanken geschlossen wird, zum Beispiel vor Gericht oder zum Beispiel für kommerzielle Zwecke, zum Beispiel zur Optimierung eines bestimmten Produktes. Und da bin ich der Meinung, da sollten wir tatsächlich über einen Datenschutz nachdenken für das Gehirn."

    "Ich glaube das brisante sind eigentlich nicht diese neuen forensischen Neurotechnologien, die werden kommen, in den nächsten 20 bis 50 Jahren. Die Frage ist einfach, in welchem gesellschaftlichen Kontext kommen diese Technologien zum Einsatz?"

    Der Philosoph Thomas Metzinger

    "Werden die einfach an eine kapitalistische Verwertungslogik angedockt und Marktmechanismen unterworfen, um Menschen besser auszubeuten? Kommen sie zum Einsatz in einem demokratisch legitimierten, Staat in einer offenen Gesellschaft? Kommen sie in Geheimdiensten, die schlecht kontrolliert sind, zum Einsatz oder in Folterregimes? Das sind die eigentlichen Fragen und das sind ganz klassische politische, ethische Fragen dann."

    Wo die Geheimdienste sich als wissenschaftliche Gedankenleser versuchen, ist – geheim. Bekannt ist aber, dass zum Beispiel das US-Militär ein Programm namens "Augmented Cognition", Unterstütztes Denken, mit Millionen-Beträgen fördert. In einem ersten Schritt soll direkt im Gehirn überwacht werden, ob Soldaten noch geistig fit für den Einsatz sind. Das nächste Ziel: Synthetische Telepathie. Statt ins Mikrophon zu sprechen, soll der Soldat seine Nachrichten nur noch denken, lautlos und unauffällig. Am Ende steht die direkte Verbindung zwischen Kämpfer und Waffe: der Pilot, der seinen Kampfjet gedankenschnell steuert, der Heckenschütze, der im Kopf abdrückt.

    "Davor ist dringlich zu warnen, man muss klar sagen, dass diese Schnittstellen diese Spezifität nicht haben. Das Problem ist auch, dass selbst ein Gedanke, den man fasst, einer inneren Regulation unterliegt. Man kann das ein mentales Veto nennen. Wäre es jetzt so, dass sehr schnell das bloße Fassen des Gedankens ausgelesen wird, wird er umgesetzt, bevor man selber noch sein inneres Veto einlegen kann, um einen Knopf eben unter Umständen nicht zu drücken."

    Handeln ist mehr als Denken, betont Gabriel Curio. Doch für ein EEG sieht die Vorstellung einer Tat kaum anders aus, als der Entschluss, sie zu begehen. Der Geist hat mehr Dimensionen, als ein Gehirnscanner abbilden kann. Das wird aber niemanden daran hindern, Gedankenbruchstücke abzuschöpfen - und zu nutzen: als Arzt, als Unternehmer oder als Militär.