Freitag, 19. April 2024

Archiv


Ich shoppe, also bin ich

In seinem Essay beschreibt Zygmunt Baumann die westlichen Konsumgesellschaften in ihrer Unentrinnbarkeit. Jeder, der sich auf das Spiel des Konsums einlässt, gerät in das Hamsterrad einer Warengesellschaft ohne Ladenschlusszeiten.

Von Thomas Kleinspehn | 27.05.2010
    Ich sehe Salate mit Käse oder Putenfleisch. Ich sehe Blätterteigpasteten, Fleischterrinen, Forellen, Hummer, Hammelkeulen, Wachteln, Wildschweine und Käseräder, ich bin im Schlaraffenland, alles ist da. So viel zu essen, und ich habe gar keinen Hunger, so viel zu trinken, und ich habe gar keinen Durst.

    David Wagners Roman "Vier Äpfel" spielt ausschließlich im Supermarkt. Die Welt der Waren sind der Ausgangs- und der Kulminationspunkt. Minutiös, beinahe affirmativ beschreibt der junge Autor das fantastische Spektakel und erinnert sich voller Sehnsucht an die Tante-Emma-Läden. Da ist der distanzierte Analytiker zwar weniger sinnlich, dafür aber genauer.

    Nostalgie kann nicht ganz schädlich sein, meint jedenfalls der Soziologe Zygmunt Bauman. Die Gerüche der Vergangenheit allein sind es aber nicht, um die es geht. In seiner brillanten Analyse der westlichen Konsumgesellschaften macht der in Posen geborene Wissenschaftler deutlich, dass es längst um mehr geht als nur um Warenhäuser. Die Ware ist ein konkreter Gegenstand, aber auch ein Symbol und eine Beziehungsform, sie dringt in alle Poren der Gesellschaft. "Ich shoppe, also bin ich" ist ihr Motto geworden.

    In der Konsumgesellschaft kann niemand ein Subjekt werden, ohne sich zuerst in eine Ware zu verwandeln, und niemand kann sich seines Subjektseins sicher sein, ohne ständig jene Fähigkeiten zu regenerieren, wiederzubeleben und aufzufrischen, die von einer käuflichen Ware erwartet und eingefordert werden. Das wichtigste Kennzeichen der Konsumgesellschaft – so sorgfältig verborgen und verheimlicht es auch ist – ist die Verwandlung vom Konsumenten in Waren; genauer: ihre Auflösung in der Warenflut.

    Welche Ursachen und vor allem welche Folgen das für jeden Einzelnen hat, das bringt Bauman in seinem jüngsten Buch, "Das Leben als Konsum", auf den Punkt. Er beschreibt die westlichen Gesellschaften in ihrer Unentrinnbarkeit. Jeder, der sich auf das Spiel des Konsums einlässt, gerät in das Hamsterrad einer Warengesellschaft ohne Ladenschlusszeiten. Versucht man sich mit einem Designer-Schal herauszuheben, trifft man um die Ecke auf den nächsten, der neben dem Schal auch noch entsprechende Schuhe mit gestylten Schnürsenkeln besitzt. Konsumismus wird zum entscheidenden Merkmal der Gesellschaft, aus der sich niemand wirklich ausklinken kann, ohne die Gefahr zu laufen ausgegrenzt zu werden. Nach Baumans Analyse hat die Konsumgesellschaft die Waren- und Produzentengesellschaft abgelöst.

    Die Ära des "Konsumismus" bricht an, wenn der Konsum jene Rolle als Dreh- und Angelpunkt übernimmt, die in der Gesellschaft von Produzenten die Arbeit spielte.

    Dieser Übergang ist mit der derzeit in den Sozialwissenschaften üblichen Beschreibung des Wandels von der Arbeits- zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft nur unzureichend umschrieben. Bauman blickt sehr viel genauer auf die Gesellschaft. In seiner Analyse ist sie nicht nur auf die Produktion von schnell verwertbaren und wieder ersetzbaren Produkten aus, sondern ist deshalb umfassender, weil sie die ganze Lebensform bestimmt.

    [In der Gesellschaft] muss die vollkommen individuelle Fähigkeit des Wollens, Wünschens und Sehnens ... von den einzelnen losgelöst ("entfremdet") und zu einer externen Kraft recycelt/verdinglicht werden. Diese Kraft bringt dann die "Gesellschaft von Konsumenten" als eine spezifische Form des menschlichen Zusammenlebens zum Laufen und hält sie auf Kurs, während sie gleichzeitig spezifische Parameter für effektive individuelle Lebensstrategien festlegt.
    Anders als in vergangenen Gesellschaften, in denen Dauerhaftigkeit, Sicherheit und Planung zumindest eine größere Rolle spielten, treten nach Bauman Ansicht in der konsumistischen Gesellschaft ganz andere Faktoren in den Vordergrund. Neben fehlender Nachhaltigkeit ist das vor allem die Individualisierung und die enorme Beschleunigung des Lebens. Jeder einzelne rennt seinem "Glück" hinterher, das die Werbeindustrie formuliert, für das er aber selbst verantwortlich gemacht wird. In einer solchen Konstellation geht es nicht mehr darum, die Welt zu verbessern oder zu vervollkommnen. In der Gesellschaft der Konsumenten tritt der selbstreferenzielle Charakter hervor. Die "Vollkommenheit" ist die Vollkommenheit jedes Einzelnen. Den Übergang zur neuen Gesellschaft bezeichnet Bauman als "schicksalhaften Schritt".

    Dieser Schritt verhieß eine stärkere, alles andere in den Schatten stellende Betonung des "Selbst", als zugleich wichtigstes Objekt und Subjekt der Pflicht, die Welt umzugestalten, wie auch der Verantwortung für deren Erfüllung oder Nicht-Erfüllung: eine Betonung des individuellen Selbst als Aufseher und Schutzbefohlener des prometheischen Daseins zugleich.

    Und dieses "prometheische Dasein" führt zum Wettkampf jeder gegen jeden um das schönste, umfassendste und beeindruckendste Selbst. In einer solchen Gesellschaft, die man auch "narzisstisch" nennen könnte, spielt jeder Theater, um seinen Warenwert zu erhöhen. So stromlinienmäßig und undifferenziert das zunächst auch klingen mag. Bauman warnt seine Leser davor, das anders als "Idealtypisch" zu nehmen. Seine Zuspitzung dient ihm dazu, die verschiedensten Ebenen moderner Gesellschaften gemeinsam zu analysieren.

    Den Wandel von Produktionsbedingungen ebenso wie ökologische Fragen der Nachhaltigkeit zusammenzubringen, und das gemeinsam zu betrachten mit dem Wandel von Strukturen des Selbst und psychischer Dispositionen. Ein solcher erweiterter Ansatz ermöglicht ihm schließlich auch diejenigen in den Blick zu bekommen, die aus diesem System herausfallen oder sich gänzlich verweigern. Unter dem Begriff "Kollateralschäden des Konsumismus" betrachtet er nicht nur die Deklassierten und "Überflüssigen", sondern auch verarmte Beziehungen oder strukturelle Gewalt.

    Doch Baumans nüchterne und zugespitzte Analyse läuft nicht auf Kulturpessimismus hinaus oder proklamiert die Entwicklung als ausweglos. Vielmehr betrachtet er auch Modelle der Solidarität, der "Gemeinschaft" oder der Vernetzung von Menschen, die nach anderen Mustern suchen oder gar mit den vorhandenen Strukturen spielen, um sie ad absurdum zu führen – zum Beispiel beim "culture jamming" mit den Mitteln der Werbung der Kultur einen Spiegel vorzuhalten.

    Wie in vielen seiner anderen kulturkritischen Bücher greift der zuletzt in England lehrende Soziologe auf Ansätze der kritischen Theorie oder Walter Benjamins in Deutschland, der französischen Soziologie in der Nachfolge Pierre Bourdieus oder der Cultural Studies zurück. In seinem Versuch diese Modelle zu integrieren, gelingt es ihm jedoch überzeugend, den Kern einer Gesellschaft zu beschreiben, die – in seinen Worten – den "Subjektivitätsfetischismus" betreibt, um den Konsumzwang zu verschleiern. Um besser zu verstehen, wie weit das reicht, lohnt es sich zu Zygmunt Baumans Studie zu greifen. Als Konsument einen Buchladen zu betreten, bleibt einem dabei aber nicht erspart.

    Bauman, Zygmunt: "Leben als Konsum". Hamburger Edition, Hamburg 2009, Preis: Euro 15,-