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"Ich sitze da und gucke rein"

Für seinen Roman "Erzähl mir von Oma" erhielt der niederländische Schriftsteller Guus Kuijer den 1982 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis. Seitdem sind in Deutschland über dreißig Jugend- und Kinderbücher von ihm erschienen.

Von Siggi Seuß | 26.05.2012
    "In Holland, da will ich nicht sein. / Da werde ich starr wie ein Stein. / Da geht es vornehm zu und teuer, / Da spricht man langsam, ohne Feuer, Zum Tanzen auf dem Seil ist man zu tugendhaft. / Auch hier behandelt man die Schwachen schlecht, Der plumpe Spießer aber kriegt sein Recht, /Und nie geschieht ein schöner Mord aus Leidenschaft."

    Nicht dass Guus Kuijer – der hier Jan Slauerhoff, einen holländischen Lyriker des 20. Jahrhunderts zitiert -, nicht dass Guus Kuijer in seinen Kinderbüchern einem schönen Mord aus Leidenschaft das Wort redet. Nein, das nicht, aber die Starren und Vornehmen und Teuren, die Tugendhaften und die Spießer, die haben ihren Platz in Kuijers Werk, meist aus dem Blickwinkel lebensmutiger Kinder – wie Maslief oder Polleke oder Florian -, aber auch aus der ganz und gar nicht fröhlichen Perspektive eines Jungen, der in einem strengen, ja gewalttätigen protestantischen Milieu Ende der 1940er Jahre aufgewachsen ist. - Nun erhält der medienscheue Autor den Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis. Für sein Gesamtwerk, das sich in Seitenzahlen sehr bescheiden ausnimmt, vergleicht man es mit dem Mitteilungsgebaren andere Autoren. Etwa dreißig Kinder- und Jugendbücher hat Kuijer geschrieben, davon sind gerade mal neun Bücher – oder besser: Büchlein – bei uns erschienen.

    Das Bedeutsamste und das Bewundernswerteste an diesen Geschichten ist, dass sie - trotz ihrer Kürze - die Lebenswelt eines Kindes mit einer Empathie und einer Präzision beschreiben, die ihresgleichen suchen. Es gibt nur wenige Schriftsteller, die für junge Leser so schreiben können, dass man das sichere Gefühl hat, ihre Geschichten bestünden aus keinem Wort zu viel und keinem zu wenig. Guus Kuijer ist einer von ihnen.

    "Mal fällt das Wort wie eine Schneeflocke
    mal fällt es wie ein Stein
    und dann sagen alle:
    Still, da fällt ein Wort."

    Das sagt Polleke, Kuijers kleine Heldin des Alltags, elf Jahre alt und natürlich Dichterin, im ersten der fünf Pollekebände, die zwischen 2001 und 2005 bei uns erschienen sind. Wenn man so will, sind sie Kuijers zentrales Werk (das, ebenso wie seine Maslief-Geschichten, erfolgreich verfilmt wurde). Sein wichtigstes Buch – weil es seiner eigenen Biografie sehr nahe kommt – ist "Das Buch von allen Dingen". Ein paar Jahre bevor es erschien, wusste Guus Kuijer noch nicht, ob er sich dem Thema der eigenen Kindheit literarisch gewachsen fühlt.

    "Nein, die 50-er Jahre möchte ich gern vergessen. Ich möchte das gern verarbeiten und ich verarbeite das auch, aber es hängt natürlich zusammen mit persönlichen Schmerzen, dass ich das vielleicht noch nicht kann. "

    Kuijer hat es gewagt. 2006 ist das Buch bei uns erschienen. Der Autor hat die schmerzliche Erfahrung seiner Kindheit mit einem genialen Schachzug in Worte gefasst. Der Schriftsteller erzählt, er habe ursprünglich eine Geschichte über seine "glückliche Kindheit" - das meint er ironisch - schreiben wollen, mit Gute-Nacht-Melodien-geigendem Vater und lieblich trällernder Mutter. So schön. So rührend. Sooo langweilig. Dann aber lässt er einen unbekannten Mann in seinem Alter an die Tür klopfen, mit einem Heft unterm Arm, das der Besucher - Thomas - 1951 als Neunjähriger mit seinen Erlebnissen und Gedanken vollgekritzelt hatte.

    "Ich behalte alles", schrieb Thomas damals in Das Buch von allen Dingen. "Ich vergesse nichts. Ich schreibe alles auf, damit ich später noch genau weiß, was passiert ist."

    Guus Kuijer macht aus Thomas‘ Aufzeichnungen eine kurze Geschichte über die Angst. Thomas, dessen Vater ihn mit Prügeln zur Bibelfestigkeit zwingen will, Thomas hat das wunderbare Talent, in seiner Fantasie Jesus so lebendig werden zu lassen, dass er mit ihm wie mit einem vertrauten Kumpel sprechen kann.

    "Ich muss dir was sagen", sagte er.
    "Nur zu", sagte Jesus.
    "Gott der Vater ist nicht einfach nur weg", sagte Thomas. "Er ist gestorben. Ich sag's dir lieber ganz offen."
    Jesus war so baff, dass er kein Wort herausbrachte.
    "Das ist nicht dein Ernst!", rief er.
    "Doch", sagte Thomas. Er fand es traurig für den Herrn Jesus, aber die Wahrheit musste heraus.
    "Aber wie ist das denn passiert?", rief Jesus.
    "Er ist aus mir herausgeprügelt worden", sagte Thomas. "Und dann ist er gestorben, denn er konnte nicht ohne mich."

    Der Autor könnte also eine furchtbar tragische Geschichte erzählen. Aber dann wären wir in der falschen Welt und bestimmt nicht in der, für die der skeptische Optimist Kuijer so geschätzt wird. Wenn Kuijer von tragischen Umständen erzählt, dann setzt er in seinen kleinen, leidenden Helden erst einmal eine Energie frei, die den Alltag erträglicher macht – nicht nur bei Thomas, sondern bereits dreißig Jahre früher bei der achtjährigen Maslief in "Erzähl mir von Oma". Mit dieser Geschichte begann Kuijers internationale Karriere als Kinderbuchautor. Bei uns wurde sie 1982 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Kinderbuch ausgezeichnet. Auch der erste Polleke-Band, "Wir alle für immer zusammen", erhielt 2002 diesen Preis.

    "Polleke kam zu mir wie ein Wunder. Das kann man nicht erklären. Es war auch sehr einfach, diese Bücher zu schreiben, denn die hat eine Stimme und ja - es fühlt, als ob ich das nicht selber schreibe. Ich hatte fünf Jahre nicht geschrieben. Man hat mich vorsichtig versucht, nochmal zu probieren. Und dann bin ich angefangen mit einer Situation aus den Büchern von Maslief. Aber ich - es gibt eine Szene in einem meiner Maslief-Bücher, dass Maslief sich wünscht, dass ihre Schulmeister sich verliebt in ihre Mutter. Aber das geschieht nicht. Und jetzt hab ich es geändert. Ich habe gesagt, das Buch fängt an mit "Mein Schulmeister hat sich verliebt in meine Mutter." ... Aber wenn die Polleke hat gesagt - für mich vollkommen unerwartet - "Ich bin Dichterin", da hat es angefangen. ... Alle hatten gesagt: "Ich möchte General werden" - haben Witze gemacht mit der Meister, aber: "Was möchtest du werden?" "General. General. General." Und Polleke hat gesagt: "Dichterin." Und dann hat es angefangen, ich weiß auch nicht."

    Was Polleke bewegt, ist uns nicht fremd: diese nicht kleinzukriegende Sehnsucht nach herzensgütigen Verhältnissen, trotz aller widrigen Umständen im Alltag der Familie, der Schule, der Freundschaften. In ihren Erfahrungen unterscheiden sich Guus Kuijers liebenswerte kleine Persönlichkeiten also nicht wesentlich von anderen Jungmenschen in der Kinderliteratur. Was Guus Kuijer allerdings mit dem Stoff aus der Wirklichkeit macht – egal ob bei Maslief, Polleke, Thomas oder Florian, der Hauptperson in seinem bislang letzten Kinderbuch "Ein himmlischer Platz -, was Kuijer mit dem Stoff aus der Wirklichkeit macht, ist etwas anderes als das, was in didaktisch klug aufbereiteten Mutmach-Geschichten steht. Er konstruiert keine dramatische Handlung - das bisschen Leben ist dramatisch genug. Kuijer verordnet den Kindern, von denen er erzählt, keine Courage. Lebensmut wächst als sensibles Pflänzchen aus der Gewissheit von den Menschen, die den Kindern etwas bedeuten – gewissermaßen von ihren Mentoren -, geliebt zu werden, von jedem auf eine eigenartige und einzigartige Weise.

    "Polleke wird geliebt, von ihrem Vater und von ihrer Mutter und von ihren Großeltern. Also, das ist eine Sicherheit, glaub ich. Es kann sein, dass ihr Vater, dass der zu Grunde geht an seiner eigenen Schwachheit, Schwächen. Aber dass er aufhört seine Tochter zu lieben, das glaub ich nicht. Also, da gibt es wieder diesen eigenartigen Zustand, dass die Leute sich lieben und sich nicht verstehen. Wenn Polleke ein anderes Mädchen gewesen wäre, die vielleicht auch die Liebe entbehrt hätte, hätte sie vielleicht zusammengebrochen. Aber sie wird geliebt und - anerkannt. Sie sagt, sie ist eine Dichterin. Und da ist niemand, der sagt, dass das lächerlich ist oder dass das natürlich nicht sein kann."

    Und wie geht es dem Dichter Kuijer mit der Schriftstellerei?

    "Die Schriftstellerei ist natürlich auch ein bisschen ein Gewürm: Man kann nicht übersehen, was man macht. / Ich glaub schon, dass teilnehmen, dass ich nicht wirklich teilnehme. Die Schriftstellerei oder - das heißt doch: ein bisschen ... ist ein bisschen wie mein früheres Aquarium, dass ich da daneben sitze und reingucke. Und das ist meine Position. Das kann ich nicht ändern oder will ich auch nicht ändern. Ich möchte nicht gern mich einmischen."

    Es reicht, wenn er die Starren und Vornehmen, die Teuren und Tugendhaften und die Spießer mit der Fantasie lebensmutiger Kinder, wie Maslief, Polleke oder Florian, konfrontiert, die ihnen sagen: "So nicht, meine Damen und Herren!" In Holland und im Rest der Welt.

    Literaturhinweis zu den in Deutschland erschienenen Bücher Guus Kuijers:


    Erzähl mir von Oma, Übersetzung: Hans Georg Lenzen, Zeichnungen: Mance Post, Verlag Friedrich Oetinger, 1981, 2002, 128 Seiten, 7,50 Euro, (Oetinger Auslese)


    Der Turm der schwarzen Steine, Übersetzung: Hanns Ehlers und Regine Kämper, Ravensburger Buchverlag, 1987, 254 Seiten, nur noch antiquarisch erhältlich


    POLLEKE-Bände

    Wir alle für immer zusammen
    96 Seiten, 9,50 Euro
    Es gefällt mir auf der Welt
    102 Seiten, 9,50 Euro
    Das Glück kommt wie ein Donnerschlag
    104 Seiten, 9,50 Euro
    Wunder kann man nicht bestellen
    96 Seiten, 9,50 Euro
    Ich bin Polleke!
    86 Seiten, 9,50 Euro

    Übersetzung: Sylke Hachmeister
    Zeichnungen: Alice Hoogstad
    Oetinger 2001-2005


    Das Buch von allen Dingen
    Übersetzung: Sylke Hachmeister
    Oetinger, 2006
    96 Seiten, 9,90 Euro

    Ein himmlischer Platz
    Übersetzung: Sylke Hachmeister
    Oetinger, 2007
    112 Seiten, 9,90 Euro