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"Ich versuche Natur als ständige Begegnungsstätte neu zu entdecken"

Jürgen Nendza, Jahrgang 1957, gehört einer aktiven Lyrikerszene aus Aachen an. In dieser vermeintlichen literarischen Diaspora hat der Dichter für sich und seine Arbeit Vorteile entdeckt. Unter anderem seine eigene Stimme zu suchen und zu finden.

Von Enno Stahl | 28.11.2012
    Bereits seit 1954 begrüßt in Aachen ein kleiner Bronzebär die Neuankömmlinge, auf dem die Entfernung zur Bundeshauptstadt Berlin verzeichnet ist - 640 Kilometer. Die Bronzeplastik ist Symbol von Nähe und Ferne zugleich. Denn mit diesem Kilometerstein bekundet die Stadt am äußersten westlichen Rand der Republik doch gerade ihre Zugehörigkeit.

    Aachen ist jedoch nicht nur 640 Kilometer weit vom staatlichen, sondern auch vom literarischen Zentrum Deutschlands entfernt. Heute, da nahezu jeder Kulturschaffende, der etwas auf sich hält, in die Hauptstadt zieht, fragt man sich: Geht das überhaupt, ein Autorenleben in der (vermeintlichen) literarischen Diaspora? Wie kommt der Lyriker Jürgen Nendza damit klar?

    Jürgen Nendza:

    "Das Studium hat mich seinerzeit 1976 nach Aachen verschlagen und lange Zeit war es wirklich schwierig, an der Peripherie zu arbeiten, lyrisch zu arbeiten, literarisch zu arbeiten. Aber im Laufe der Zeit hat man doch festgestellt, dass es Vorteile hat, nicht in diesen vermeintlichen Zentren zu hausen und jedem Mainstream vielleicht auch zu folgen, sondern es war dann auch eine Herausforderung, in dieser Peripherie, im Grenzbereich im wahrsten Sinne des Wortes, dann doch auch seine eigene Stimme zu suchen und hoffentlich auch, mittlerweile habe ich es geschafft vielleicht, sie zu entwickeln. Und auch zu präsentieren. Es war nicht leicht, gerade auch in der Zeit, wo es noch keine mediale oder auch Internetvernetzung gab, man musste sich alles noch an Informationen heranholen durch Zeitschriften wie "Die Feder", durch Literaturpreisausschreibungen, die in Aachen ja kein Mensch kannte. Mittlerweile hat sich da einiges getan, die kleine lyrische Szene ist doch nicht so ganz unbekannt, ist natürlich nicht mit Berlin zu vergleichen."

    Jürgen Nendza hat, Aachen hin oder her, tatsächlich schon einiges auf die Beine gestellt. Er veröffentlichte mehrere Gedichtbände, Erzählungen, Hörspiele und Radiofeatures und wurde unter anderem mit dem Lyrikpreis Meran ausgezeichnet. Sein neues Buch ist im jungen und ambitionierten Leipziger Poetenladen erschienen. Es zeigt Nendza als einen ausgereiften, sprachsicheren Lyriker. Seine Gedichte bevorzugen eine ruhig-reflektierte Tonlage und kommen ohne größere Formexperimente aus:

    ... vielleicht, sagt du, und ich bleibe stecken
    im Wort: Auf dem Handelsweg schnurren
    Zypernkatzen und spielen am Silbenrand,
    als mir einfällt, dass ich noch Mehl besorgen
    muss.

    So heißt es im Auftaktgedicht. Es entstammt einem längeren Zyklus namens "Zypernkatzen". Dazu passen Zedern, Zitronen, ein Gecko, Schuhe vor der Moschee, Bilder, die in den anderen Texten dieses Zyklus auftauchen. Handelt es sich hier vielleicht um eine verklausulierte Form von Reisedichtung?
    Jürgen Nendza:

    "Ich hoffe nicht. Zypernkatzen treffen wir auch hier in Deutschland an, ist eine ganz gemeine Hauskatze mit hellgrauem Fell und regelmäßigen schwarzbraunen bis schwarzen Streifen und auch Flecken. Aber natürlich weist der Begriff auch auf Zypern, wo ich mich, wo ich mich ja auch aufgehalten habe. Aber wenn wir mit Sprache arbeiten, bewegen wir uns ja immer auch in Sprachlandschaften und so kommt das eine zum anderen. Was ich vielleicht von meinem Prinzip her auch gerne mache, dass ich vertraute Begriffe und Umgebungen durch etwas unvertrautere Kombinationen, Wendungen oder Zwischenwelten versuche, ein bisschen zu entfremden, um sie dann wieder neu zu entdecken, ihnen neu zu begegnen, und Zypernkatzen, vom Katzenmotiv mal abgesehen, war so ein Moment, wo zusammenkam: Aufenthalt in Zypern und gleichzeitig aber auch so eine Ebene, ein Symbol, um das Vertraute wieder neu zu entdecken, auch über diese Katzenhaftigkeit der Gedichte."

    Hier wie in den anderen drei Parts des Buches spielt die Natur eine große Rolle. Sehr oft scheint Nendza von der unmittelbaren Landschaftswahrnehmung auszugehen, sie zur Grundierung seiner sprachlichen Konglomerate zu machen. Was bedeutet Natur für ihn?
    Jürgen Nendza:

    "Natur bedeutet zunächst einen Bereich, dem wir uns gar nicht entziehen können. Der Mensch gehört auch zur Natur, auch wenn wir natürlich in unserer zweiten Natur, der Kultur uns bewegen und uns von der Natur schon sehr weit entfernt haben, sagen wir im Sinne [der] einer idyllischen Übereinstimmung oder des Göttlichen in der Natur, gerade auch in der Literatur und der Poesie. Natur ist ein ganz wesentlicher Erfahrungsraum, aber nicht nur die Natur als empirische äußere Natur, sondern auch die innere Natur des Menschen und die Sprachnatur, die Natur des Sprachzeichens. Vieles kommt für mich beim lyrischen Schaffen überein und ich versuche Natur als ständige Begegnungsstätte für mich als Wahrnehmungslandschaft neu zu entdecken in Form von sprachlichen Exkursionen, wenn ich das so sagen darf, dieser Zyklus hat mich dann auch ins Hochmoor, ins Hohe Venn geführt und es ist immer wieder spannend, [sich dann] dann dort ins sich hineinzuhorchen und herauszukriegen, wie arbeitet eigentlich Sprache in anderen Naturräumen mit einem selber und was gibt es da zu entdecken."

    Besonders auffällig wird diese poetische Landnahme tatsächlich in jenem Zyklus "Bulten und Schlenken", der sich im Hohen Venn situiert. "Bulten", das sind Kuppen aus Gräsern oder Torfmoosen, die zusammen mit feuchten Bodensenken, den "Schlenken", das charakteristische Oberflächenprofil dieses Eifel-Hochmoors ausmachen. Gleichzeitig war diese Landschaft aber auch im Zweiten Weltkrieg von Bedeutung, so kam es hier im Rahmen der Ardennenoffensive zu einem letzten verzweifelten Einsatz deutscher Fallschirmspringer. Nendzas Gedichte verarbeiten in der Naturschilderung dieses und andere geschichtliche Ereignisse, betreiben also eine Historisierung der poetischen Landschaft, ähnlich wie wir das von Thomas Kling kennen:

    Jürgen Nendza:

    "Grundsätzlich ist das Historische, auch das Spracharchäologische für mich wichtig. Thomas Kling, ich schätze ihn, möchte mich eigentlich nicht so vergleichen, obwohl [manches] einige seiner Gedichte tatsächlich schon eine Rolle gespielt haben. Ich denke auch gerade an dieses Gedicht über die Deutungshoheit in diesem NATO-Bereich im Hohen Venn, wo Politik und politische Verhältnisse sich landschaftlich eingeschrieben haben, sozusagen, ich sag jetzt mal, durch Bodenhorizonte gewissermaßen wieder entdeckt werden und man auf einmal als Autor oder als Begehender dieser Landschaft sich in andere Zeiten hineinversetzt fühlt, durch die Reflexion dessen, des Bodens in diesem Fall, was da eigentlich passiert ist. Und von Thomas Kling kenne ich das natürlich noch sehr viel sprachradikaler, [CUT da bin ich bin vielleicht noch nicht so weit oder bei Weitem nicht so weit], aber ein Stück weit geht das schon, gerade auch in diesem "Bulten und Schlenken"-Zyklus d'accord, weil ich versuche, Historie und auch Erdgeschichte in diesem Fall durchaus zu synchronisieren mit meiner Begehung, mit meiner Erfahrung und das versuchen auch sprachlich Material werden zu lassen."

    Jürgen Nendzas Lyrik ist unaufdringlich, doch umso bedachter. Sprachliche Innovationen, die durchaus in seinen Gedichten walten, kommen - wie Zypernkatzen - auf leisen Sohlen. Dem Leser fallen sie kaum auf, so nimmt er Fachtermini, Neologismen oder Bildbrüche einfach hin, ohne sich aus dem meditativen Sprachfluss reißen zu lassen. Klammheimlich verbergen Nendzas Gedichte in einer recht gebundenen Form größere innere Spannungen, die dann unbemerkt doch weiter arbeiten.


    Jürgen Nendza:
    Apfel und Amsel, Poetenladen Verlag, 2012, 72 S., 16.80 Euro