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Idee des freien Lebens

Gerhard Schulze schreibt über das Dilemma einer säkularisierten Welt, die sich anschickte, im Zeichen der Freiheit den Muff des Mittelalters hinter sich zu lassen, inzwischen aber an einer merkwürdigen Blässe leidet. Sie kann ihre Freiheit nicht genießen, bekennt sich nur nörgelnd zu sich selbst, weil sie kein Kontrastmittel mehr besitzt, wie es Gott einst war.

Von Werner Köhne | 08.05.2006
    In dem Film "Seven", einem der düstersten Streifen der 90er Jahre, verfolgt ein ebenso irrer wie planmäßig vorgehender Täter ein Ziel teuflischen Ausmaßes. Er tötet Menschen, die sich einer der sieben Todsünden schuldig gemacht haben, der Völlerei, der Habgier und Trägheit, der Unkeuschheit, der Hoffart, des Neides. Höhepunkt des Filmes bildet die Szene, in welcher die siebte Todsünde, der Zorn, mittels eines jungen Detektivs die Vernichtung des besessenen Mörders besiegelt. In Zeiten einer verschärften Ökonomie der Aufmerksamkeit wirkt solch bildreicher Atavismus erregend, und das moderne Bewusstsein, heimgesucht von Langeweile und Sinnleere, mag sich daran erinnern, dass es einst im Zentrum einer ganz anderen Ökonomie stand, nämlich der von Laster, Sünde und Verdammung.

    Sünde, das markiert nach Gerhard Schulze ein Tun respektive eine schuldhafte Befindlichkeit, die mit den Beichtstühlen verstaubt ist, ein Überbleibsel aus einer gottzugewandten Weltsicht und Lebensgestaltung. Wo aber Gott tot, Geiz geil und die Unkeuschheit nicht Laster, sondern Ratgeber - Gebot ist, ist auch der "Sünde Sold" eine Schimäre geworden. Oder doch nicht? Gerhard Schulze weiß um die Widerhaken einer säkularisierten Welt, die sich einst anschickte, im Zeichen der Freiheit den Muff des Mittelalters hinter sich zu lassen, inzwischen aber an einer merkwürdigen Blässe leidet. Sie kann ihre Freiheit nicht genießen, bekennt sich nur nörgelnd zu sich selbst, weil sie kein Kontrastmittel mehr besitzt, wie es einst Gott, Luzifer und die Apokalypse für Gottesfürchtige bereitstellten. Im Gegensatz dazu liefern aber, folgt man dem Autor, ausgerechnet die direkt auf das Leben gerichteten sieben Todsünden eine ermunternde Reflexion auf eine ermüdete Moderne.

    "Zum westlichen Lebensstil äußert sich der versunkene Kodex der sieben Todsünden in denkbar konkreter Weise. Er geht differenziert auf das Alltagsleben normaler Menschen ein, auf Essen und Trinken, Freude an schönen Dingen, Sex, Narzissmus und süßes Nichtstun einerseits, und Frustration, Aggression, Neid und Eifersucht andererseits. Im Folgenden sollen die sieben Todsünden als Kontrastmittel dienen, um den unausgesprochenen Kodex des schönen Lebens hervorheben zu lassen."

    Gerhard Schulze begibt sich mit diesem Anspruch auf ein philosophisches Minenfeld. Er möchte nämlich weniger atavistische Spuren der Todsündenideologie in der Moderne nachweisen. Er wählt vielmehr die sieben Todsünden aus, um kraft ihrer Dekonstruktion, vielleicht auch Destruktion, eine Idee moderner Lebensgestaltung zu retten. Das klingt auf den ersten Blick absurd, lässt sich aber in der Perspektive des Autors durchaus nachvollziehen. Ohne Hoffart etwa, also ohne den Stolz, hätte es nicht den Entdeckerfuror eines Newton gegeben, ohne den Tabubruch der sexuellen Befreiung keine Möglichkeit zur individuellen Gestaltung heutiger Beziehungen, und ohne das als Völlerei inkriminierte Gutseinlassen von körperlichen Bedürfnissen kein differenziertes Maß an schönem Leben.

    Überhaupt die Idee des schönen Lebens. Die Griechen nannten sie einst "eu zän", und es gibt nicht eben wenige Kritiker, die dieser positiven antiken Maxime das negative Gegenstück der Moderne entgegenhalten. Seit Descartes nämlich, sind sich Legionen von Philosophen einig, regiere das Prinzip der puren Selbsterhaltung anstelle des Prinzips vom schönen Leben.

    Gerhart Schulzes Essay ist, wenn man genauer liest, vor allem eine Abrechnung mit dieser Philosophenriege, die höchste Ansprüche stellen, um folgerichtig das reale Leben heute, daran gemessen, diskreditieren zu können - dies nicht unter dem Siegel der Sünde, sondern unter der Signatur der Entfremdung. Ausgerechnet den eher dezenten Max Weber sucht sich Schulze als inkriminierten Gegenspieler aus. Max Weber hatte den "Fachmenschen ohne Geist" und den "Genussmenschen ohne Herz" als Phänotypen und Normalo der späten Moderne in den Focus seiner Kritik gerückt.

    "Auf dich und mich, auf uns Alltagsmenschen der Gegenwart, die wir mit unseren Handys telefonieren, für zwei Wochen in die Karibik jetten, uns für Eigenheime abrackern, Klingeltöne herunterladen und abends fernsehen, schaut Weber mit dem verächtlichen Blick des deutschen Genies herab. Und so wird die alte Melodie der Kulturkritik bis auf den heutigen Tag nachgepfiffen, die Verachtung des Normalen."

    Was Schulze hier der so genannten Normalität aufbürdet, ist viel, vielleicht zu viel, wenn man es am letztlich hohen Maß seiner philosophischen Einsichten misst. Die einzige wirklich empfundene Sünde der Moderne sieht der Autor nämlich in der erfahrenen Abwesenheit Gottes, die uns moderne Menschen abstürzen läst in Desillusionierung, Nüchternheit - aber auch Freiheit. Dass sich diese schaudernde Erfahrung, von der einst Pascal berichtete, nun ausgerechnet im Alltagsmenschen der Gegenwart im Herunterladen von Klingeltönen bewahrheitet, mag der Essayist wohl selbst nicht glauben. Das Leiden an der Moderne ist nun wahrlich kein Kritikerschicksal, eher zeigt es sich tief verwurzelt im Normalen, das längst keine vertrauten Horizonte mehr ins Spiel bringen kann. Gerhard Schulze ist weit mehr einer deutschen Tradition verhaftet, als er sich eingestehen möchte, der Attitüde von Intellektuellen nämlich, sich nach den Freuden des Normalen verzehren, weil sie es für etwas Erlösendes, Einfaches halten.