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Identitätssuche mitten im Nirgendwo

Island ist dieses Jahr Gastland auf der Frankfurter Buchmesse. Der Aufbau-Verlag bietet mit dem Roman "Liebe Isländer" einen guten Einstieg. Der junge Autor Huldar Breidfjörd widmet sich in dem Werk seinem Heimatland, indem er es sich selbst erklärt.

Von Antje Deistler | 04.08.2011
    Island gehört zu Europa, aber bis man da ist, kann es dauern. In unserem Fall dreizehn Stunden. Von Köln nach Frankfurt, von Frankfurt nach Kopenhagen. In Kopenhagen müssen wir warten, denn die Flüge nach Reykjavik, Island, können nicht starten - der Wind. Irgendwann kommen wir doch am Flughafen Kevlavik an. Nach dem Auschecken dauert es noch einmal zwei Stunden, bis der Pendelbus einen bei Schneeregen vor dem Hotel in Reykjavik ausspuckt. Das ist allerspätestens der Moment, in dem man sich fragt: Was mache ich hier eigentlich? Und damit sind wir genau im Thema.

    "Ja, das Gefühl hat man oft, wenn man auf einer Insel lebt. Was mach ich hier bloß?Ich muss hier weg. Man reist nach Europa, in die USA oder sonst wohin. Das habe ich auch ein paar Mal getan, und dann festgestellt: Mein eigenes Land kenne ich eigentlich gar nicht. So entstand die Idee für das Buch, aus einer Ruhelosigkeit heraus und wegen der Frage: Was mach ich hier eigentlich?"


    Huldar Breidfjörd war Anfang 20, angehender Journalist und fleißiger Kneipengänger in Reykjavik, als er sich diese Frage stellte. Anders als alle seine Freunde buchte er einmal nicht den nächsten Trip ins Ausland. Sondern kaufte sich einen Jeep und brach auf in viel exotischere Gefilde: ins isländische Inland. Genauer: Einmal rund herum um die Insel, die Ringstraße entlang, an der die Dörfer liegen. Und zwar im Januar und Februar, den kältesten und dunkelsten Monaten. Wenn schon, dann richtig. Seine Freunde erklärten ihn für verrückt. Er wisse nicht, was er tut. Stimmt, sagt Huldar - aber das hat er ja bereits zugegeben.

    "Ich wusste eigentlich nie, was ich tun sollte. Was ich normalerweise tat, wenn ich in einen kleinen Ort kam, ich habe das Auto stehen lassen und bin losgelaufen, um jemanden zum Reden zu finden, und dann wusste ich meist nicht, worüber ich reden sollte. Ich haderte damit, dass überhaupt nichts passierte, aber irgendwann dachte ich: Das ist doch echt, das ist wahr, so sind die Isländer. Es gibt nichts, worüber sie sprechen könnten, sie sind ein bisschen schwerfällig und sehr ruhig. Also habe ich genau darüber geschrieben."

    Eine Identitätssuche mitten im Nirgendwo. Leere, Langeweile, Ruhe. Dass Huldar Breidfjörd darüber ein ganzes Buch schreiben konnte, liegt daran, dass er das große Nichts als typischen isländischen Aggregatzustand akzeptierte. Ein Volk aus nur 330.000 Menschen, und alle fragen sich, was sie da eigentlich tun – nicht erst seit der Finanzkrise.

    "O-Ton auf Isländisch: "Ich heiße Huldar Breidfjörd und ich habe ein Buch geschrieben, das Liebe Isländer heißt.""

    Das war: isländisch. Aber das Buch, nach dreizehn Jahren endlich auf deutsch erhältlich, liest sich auch für uns aufschlussreich, sogar unterhaltsam. Denn erstens ist dieses Ringroadmovie gut geschrieben. Zweitens kann man die vage Verlorenheit der Isländer angesichts der eindringlichen Beschreibung von Dunkelheit, Kälte und menschenleerer Weite sofort nachfühlen. Und drittens gibt es da die kleinen Besonderheiten am Wegesrand. Das Titelbild der deutschen Ausgabe bezieht sich auf eine dieser Skurrilitäten: Es zeigt zwei Zapfsäulen, verloren im grünen Nirgendwo, eine Bergkette im Hintergrund. Tankstellen waren immer wieder eine Anlaufstelle und ein Ankerplatz für den ratlosen Autor.

    "Die Tankstellen sind interessant, weil die Leute dort hingehen, um einzukaufen natürlich, aber es gibt dort auch Kaffee, und sie funktionieren wie Gemeindezentren. Man hört die Nachrichten, man kriegt dort seine CDs, seine DVDs und den neuesten Klatsch, die Tankstellen sind wichtig. Das ist ein interessantes kulturelles Phänomen in Island. So wie die Tankstellen viele Rollen spielen, so spielt jeder Isländer verschiedene Rollen. Der durchschnittliche Isländer hat drei Jobs. Er arbeitet vielleicht als Tischler, Sänger und tummelt sich nebenbei in der Politik. Jede Person hat verschiedene Charaktere, das ist hier normal."

    "Liebe Isländer", der Roman über seine Landsleute, ist heute Schullektüre in Huldar Breidfjörd Heimat. Weil es offenbar vielen Isländern, eben auch den ganz jungen, so geht wie dem mittlerweile 36-Jährigen damals am Anfang seiner Reise: Sie verstehen sich als Kosmopoliten, kennen die Welt, aber sich selbst und ihr eigenes windiges Land kaum.

    "Damals fand ich das alles ziemlich bekloppt, aber es ist eigentlich eine gute Idee, auch für ausländische Touristen. Die Ringstraße führt einmal rund um die Insel, man kann so das gesamte Land sehen, das macht schon Sinn."2

    Auf seiner Expedition durch das Paralleluniversum Island begegnete Huldar Breidfjörd entfernten Verwandten, einsamen Einsiedlern, Menschen, die sich in guter Nachbarschaftshilfe gegenseitig zum Trinken in die nächste, meilenweit entfernte Kneipe fahren, einem Geist im Schneesturm – und nicht zuletzt: sich selbst. Inzwischen ist er Besitzer eines Hauses in einem winzigen Fischerort im Nordosten. Da zieht es ihn hin, wenn es ihm in Reykjavik zu eng wird. Um nachzudenken, sagt er. Schon weil man dort nicht viel anderes tun kann. Aber mittlerweile weiss er wenigstens, was er tut.

    "Ja, ich glaube schon. Ich habe herausgefunden, was ich tue, mit meinem Leben. Schreiben, Reisen, Journalismus. Das Problem habe ich also gelöst. Ich habe auf dieser Reise auch festgestellt, dass die isländische Identität sich ständig verändert. Was sehr gut ist. So geht es mir ja auch; ich habe mich mit meiner eigenen Ruhelosigkeit versöhnt, und dabei habe ich festgestellt, dass die Ruhelosigkeit und die Suche vielleicht bei allen Isländern existiert. Ja, ich hoffe, ich weiß jetzt ein bisschen mehr."

    Huldar Breidfjörd: "Liebe Isländer". Roman. Aus dem Isländischen von Gisa Marehn. Aufbau Verlag, 16,95 Euro