Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Ideologie und Folklore

Rio-Rita! Rio-Rita!, zwitscherte Motte die penetrante Foxtrottenmelodie, während sie klebrige Tränen im Gesicht, auf der von den Deutschen angelegten Straße nach Schisjajewo zur Hinrichtung trottete. Tadeus Der-mit-dem-Bild ließ bitten.

Von Elena Beier | 26.02.2004
    An die vorderste Front bringen den keine zehn Pferde. Das ist einer von diesen Egoisten, die am liebsten den Baron raushängen lassen. Die eigenen Interessen gegen das Kollektiv zur Geltung bringen, das kann er - schlimmer als jeder Einzelbauer. Zu so einem feinen Herr hat sich der gemeine Grabenschütze natürlich auf die Socken zu machen. Nicht einmal zum Tanzvergnügen wäre Motte die Strecke von sich aus geschlurft. Geschweige denn, sich umlieten zu lassen.

    So fängt dieser Roman an: Ohne jede Vorwarnung taucht der Leser in eine verwirrende Welt des inneren Monologs der Hauptheldin mit dem Spitznamen Motte ein. Man ahnt ziemlich schnell, dass da etwas nicht stimmt. Vom Sog des Romans mitgerissen, findet der Leser langsam immer mehr Anhaltspunkte, um zu begreifen, wer Motte eigentlich ist: In den ersten Tagen des deutschen Einmarsches in Russland bricht für die 14-jährige Maria die Welt zusammen. Ihr Freund, mit dem sie noch kurz zuvor zur Melodie von "Rio-Rita" getanzt hat, zieht in den Krieg. Ihr Deutschlehrer Walter Iwanowitsch wird vom NKWD verhaftet. Das Mädchen schließt sich den Soldaten auf ihrem Rückzug an und wird gegen ihren Willen zur Regimentshure gemacht. Kurz darauf muß sie gemeinsam mit ihren neuen Kameraden in Reih und Glied antreten und einer Hinrichtung beiwohnen, die vom General Sukow eigenhändig ausgeführt wird:

    Nach dem dritten Schuß mußte Motte pinkeln. Der Alte rechts hielt den Kopf gesenkt und bekreuzigte sich versohlen. Plötzlich sagte er etwas in Mottes Ohr: "Weitersagen: Er erschießt jeden Dritten." Mechanisch wandte sie den Kopf. "Jeden Dritten", sprach sie in Sewkas Schulter hinein. Der nickte schweigend, mit hängenden Armen.
    "Name!", brüllte es plötzlich irgendwo rechts von ihr.
    Motte vermochte den Kopf nicht zu drehen. Schon wieder rann es ihr heiß das linke Bein herunter.
    "Wie viele Waffen hast du dem Feind überlassen, Du Artillerist? Lauter! Hast den Deutschen beigestanden, also steh jetzt gefälligst dem Vaterland Rede und Antwort, Feigling!
    Stille.
    Dann der Schuss.


    Das Mädchen bekommt einen hysterischen Anfall und wird ohnmächtig. Als sie zu sich kommt, ist alles vorbei: Der schießwütige General ist weg, die Toten weggetragen. Ihr Nervenzusammenbruch während der Erschießung hat den General Sukow dazu gebracht, aufzuhören. Genau in diesem Moment verläßt Mottes verwirrter Geist den kleinen geschundenen Körper einer Hure und sie lernt Fliegen, wird zur Heiligen, zur Beschützerin der Krieger. Den Offizieren spendet sie den letzten Trost vor den Kampfeinsätzen, in denen sie umkommen. Den einfachen Soldaten erscheint während der Schlacht die absolut nackte Pionierin mit einer weißen Fahne, die eigentlich ein Schlüpfer ist, um jeden, der ihr folgt, unbeschadet durch den Kugelhagel zu geleiten.

    Um die Grenze zwischen der brutalen Realität des Krieges und dem rettenden Wahnsinn, in den sich Motte flüchtet, fließend zu gestalten, erzeugt der Autor einen sprachlichen Schwebezustand, der dem geistigen Schwebezustand der Motte entspricht. Das auch in der deutschen Sprache zu erreichen, war eine der größten Herausforderungen, bestätigt Andreas Trettner, dessen Übersetzung eine wahre Glanzleistung ist und dem russischen Original in nichts nachsteht:

    Der geniale Einfall des Autors ist, dass er die erlebte Rede benutzt. Er bleibt ganz nah an dieser kleinen Person Motte, die plappert so dahin, erzählt, was ihr passiert, tut das aber immer in der dritten Person. Es ist literarisch eine klassische Form, aber wie er es benutzt, macht das so schizophren wie es ist. Man weiß bei ihr nicht so genau, ob sie weiß, was sie sagt. Bei den Russen gibt es so ein Wort "Jurod", was auf diese Person auch zutrifft; also eine "Närrin in Christo", eine fast Heilige, die ständig am Wegtreten ist.

    Die faszinierende Sprache des Romans läßt eine ganze Epoche aufleben. Motte ist ein Kind der totalitären Sowjetzeit und ihr innerer Monolog ist ein sonderbares Gemisch aus der Folklore und den ideologischen Sprüchen, die durch endlose Wiederholung zwar ihren Sinn verlieren, aber den menschlichen Verstand in einer vernichtenden Weise umformen, so Michail Konnonow:

    Man könnte Motte aus Russland mit einem Mädchen aus China vergleichen, die während der Kulturrevolution Maos Sprüche ohne Sinn und Verstand nachplappert. Oder mit anderen Manschen, die zum Beispiel aus religiösem Fanatismus irgendwelche Formeln nachsprechen, die aber im Grunde nichts anderes als Kampfparolen sind. Aber in all diesen Fällen wird der Mensch durch die Sprache zerstört. Das ist etwas, womit ich mich nicht abfinden kann: Die Vernichtung des Menschen und damit auch der humanistischen Kultur.

    12 lange Jahre hat dieser Roman seinen Weg zum russischen Leser gesucht. Zu viele Tabus hat der Autor gebrochen. Zu viele Mythen zerstört die Geschichte einer im Traum fliegenden nackten Pionierin. Bei diesen Flügen sieht Motte zum Beispiel ihre von der Außenwelt durch die Blockade abgeschnittene Heimatstadt Leningrad, wo Hungernde Menschen ihre Toten aufschneiden und verspeisen. An dieses traurige Kapitel der sowjetischen Geschichte heranzutreten, hat sich vor Konnonow noch niemand gewagt. Auch die Darstellung des sagenumwobenen Marschalls Schukow, der im Roman als blutrünstiger General Sukow auftritt, war etwas derart Ungeheuerliches, dass es das Erschienen des Romans über Jahre verhinderte. 1991 gab es sogar so etwas wie einen "zivilen Widerstand" gegen die bereits geplante Veröffentlichung im renommierten russischen Verlag "Sowjetischer Schriftsteller", erzählt Michail Konnonow:

    Die Mitarbeiter der Druckerei waren damit unzufrieden, wie sich der Marschall im Roman "aufführt". Sie fragten ihre Vorgesetzen, wie könnte denn die Zensur so etwas zugelassen haben. Der Direktor der Druckerei hat empört beim Chefredakteur des Verlags mit der gleichen Frage angerufen. Der Chefredakteur meinte, dass es in Russland keine Zensur mehr gäbe und die Druckerei ihre Arbeit getrost fortsetzen darf, wie es vertraglich vereinbart wäre. Daraufhin hat der Direktor befohlen, den praktisch fertigen Satz des Romans auseinander zu schütten und kündigte stillschweigend, was er wohl für einen Akt der Zivilcourage hielt.

    Als der Roman im Frühjahr 2001 endlich herauskam, waren sich die Kritiker aus allen sonst so verfeindeten Lagern einig und schrieben begeisterte Rezensionen – ein einmaliges Ereignis für das literarische Russland! Der Grund dafür: Trotz seiner modernen Stilistik und vielen Tabubrüchen ist dieser Roman eine überaus harmonische Fortsetzung der besten Traditionen der klassischen russischen Literatur von Dostojewskij bis hin zu Bulgakow. Und daher absolut lesenswert.

    Michail Kononow
    Die nackte Pionierin
    Verlag Antje Kunstmann, 288 S., EUR 21,90