Freitag, 19. April 2024

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Idomeni-Räumung
"Die Flüchtlinge in Idomeni leben in großer Unsicherheit "

In Griechenland wird heute die Räumung des Flüchtlingslagers Idomeni an der Grenze zu Mazedonien fortgesetzt. Die gestrige Räumung sei relativ friedlich verlaufen, sagte der Geschäftsführer von "Ärzte ohne Grenzen", Florian Westphal, im DLF. Allerdings gebe es tragische Fälle, in denen Familien auseinandergerissen worden seien.

Florian Westphal im Gespräch mit Bettina Klein | 25.05.2016
    Zwei griechische Polizisten stehen bei der Räumung des des Flüchtlingslagers in Idomeni am 24.05.2016 vor Zelten, vor denen ein Flüchtlingsjunge kauert.
    Die griechische Polizei räumt am 24.05.2016 das Flüchtlingslager in Idomeni. (picture alliance / dpa / Yannis Kolesidis)
    "Die Flüchtlinge in Idomeni leben in großer Unsicherheit über ihre Zukunft", sagte Westphal. "Die Menschen fragen sich, können wir Asylanträge stellen? Wo kommen wir hin?"
    Lange Zeit sei die Grundversorgung und die Hygiene in Idomeni katastrophal gewesen, ebenso wie in den Hotspots auf den griechischen Inseln. Die Menschen dort seien "mehr oder weniger auch über die gestattete Dauer hinaus interniert gewesen".
    An den generell sehr schlechten Aufnahmebedingungen sei nicht nur Griechenland Schuld. Hier sei die gesamte Europäische Union in der Pflicht, denn die EU und ihre Politik hätten dazu geführt, dass es zu dieser Situation in Griechenland gekommen sei. Aber auch der Sektor der Hilfsorganisationen könne sich stets nur am Einsatz vor Ort messen lassen. "Wir müssen einfach alle zusammen besser werden", so Westphal.

    Das Interview in voller Länge:
    Bettina Klein: Am Telefon ist Florian Westphal. Er ist Geschäftsführer der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Guten Morgen!
    Florian Westphal: Guten Morgen!
    Klein: Herr Westphal, Ihre Organisation betreut dort Flüchtlinge vor Ort. Was beobachten Sie im Moment?
    Westphal: Wir haben dort seit einigen Monaten die Flüchtlinge medizinisch versorgt, gerade noch vor einer Woche 3000 Kinder geimpft. Die Räumung gestern ist glücklicherweise relativ friedlich vonstattengegangen. Wir haben keine Gewalt dort beobachten können, müssen aber auch sagen, dass unser Zugang gestern zu dem Camp in Idomeni reduziert worden war, eingeschränkt worden war. Was man aber sieht ist, dass die Menschen dort wirklich in großer Unsicherheit über ihre Zukunft leben und sich fragen, was passiert jetzt?
    Jetzt werden wir irgendwo hin verlegt, aber wiederum werden wir eigentlich nicht informiert über unsere Zukunft. Können wir Schutz suchen? Können wir Asylanträge stellen? Wo kommen wir überhaupt hin? In einigen Härtefällen zum Beispiel ist es wirklich so, dass wir einen Mann hatten, der gestern praktisch aus Idomeni rausgebracht wurde, dessen Bruder aber noch bei uns in der Klinik behandelt wurde und der sich natürlich unheimlich Sorgen darüber machte, dass jetzt die Familie auseinandergerissen wird. Es gibt nach wie vor sehr harte tragische Fälle unter den Flüchtlingen.
    "Hier ist wirklich die gesamte Europäische Union in der Pflicht"
    Klein: Es gab auch Kritik am Verhalten der griechischen Behörden. Welche Erfahrungen haben Sie dort gemacht?
    Westphal: Na ja, in Idomeni war ja lange Zeit die Versorgungslage, die Grundversorgung, gerade was das Medizinische betrifft, aber auch Hygiene und Ähnliches, wirklich katastrophal. Das Gleiche muss man ja leider auch sagen oft über die griechischen Inseln in der Ägäis, wo ja auch noch in den Hotspots teilweise Leute sogar interniert sind im Endeffekt, mehr oder weniger inhaftiert, und das über die eigentlich gestattete Dauer von Tagen hinaus.
    Generell ist es so, dass die Aufnahmebedingungen oft sehr schlecht waren. Aber dafür kann man unseres Erachtens nach nicht nur Griechenland in die Pflicht nehmen, sondern hier ist wirklich die gesamte Europäische Union in der Pflicht, denn die Europäische Union und deren Politik hat ja auch dazu geführt, dass es zu dieser Situation in Griechenland überhaupt erst kommt.
    Klein: Das heißt, Sie können nicht bestätigen, dass Ihre Organisation, andere Hilfsorganisationen oder auch Ärzte an der Arbeit behindert wurden, denn solche Meldungen hat es ja auch gegeben?
    Westphal: Na ja, wie gesagt: Gestern in Idomeni war der Zugang beschränkt. Heute können wir mit etwas mehr Leuten im Camp dort wieder die Arbeit aufnehmen. Die Mehrheit der Menschen bleibt ja noch in Idomeni im Moment. In anderen Situationen hat es schon immer mal wieder Zugangsbeschränkungen gegeben. Wir haben ja auch von uns aus gesagt, dass wir nicht bereit sind, in dem Hotspot in Moria auf Lesbos zum Beispiel zu arbeiten, weil wir dort nicht teilhaben können an einer europäischen Politik gegenüber diesen Menschen, die einfach unmenschlich ist.
    "Ungewissheit über die Zukunft macht Menschen zu schaffen"
    Klein: Werden die Flüchtlinge jetzt, wie Sie es angedeutet haben, tatsächlich komplett im Unklaren darüber gelassen, wohin die Reise geht? Die sind ja schon abtransportiert worden. Oder welche Informationen gibt es darüber?
    Westphal: Was man ihnen wohl gesagt hat ist, dass sie in vier Einrichtungen in der Region Thessaloniki gebracht werden. Aber im Endeffekt berichten sie unseren Kollegen vor Ort natürlich immer wieder, dass sie gar nicht wissen, was dann eigentlich weiter mit ihnen geschieht. Es gibt ja auch zum Beispiel viele Situationen von Frauen mit kleinen Kindern, deren Männer bereits in Deutschland oder in Schweden zum Beispiel leben und die natürlich hoffen, dass die Familie bald wieder zusammen sein kann. Dazu gibt es aber überhaupt keine Informationen. Und diese Unsicherheit, diese Ungewissheit über die Zukunft, die macht wirklich vielen der Menschen dort schwer zu schaffen.
    Klein: Man fragt sich, inwieweit sind tatsächlich Ärzte dort gefordert. Geht der Hilfsbedarf nicht auch weit über das Medizinische hinaus? Oder welche Situationen finden Sie da vor? Sind wirklich Mediziner in erster Linie gefragt?
    Westphal: Nein. Es sind natürlich auch Fachkräfte gefragt, die sich um eine angemessene Unterbringung kümmern können und eine Unterbringung, die wirklich dem Zeitrahmen angepasst ist. Für ein paar Wochen kann man Menschen in Zelte unterbringen. Aber wenn es über ein paar Wochen hinausgeht, muss man was Permanenteres finden. Dann natürlich ganz wichtig die Hygieneversorgung, die Nahrungsmittelversorgung, auch angepasst an die Tatsache, dass da ja viele Kleinkinder und sogar Babys mit dabei sind. Und dann die medizinische Versorgung, und die kann sich aber nicht nur auf das Verabreichen von Medikamenten beschränken, sondern da geht es wirklich auch darum, diesen Menschen ein offenes Ohr zu bieten, ihnen zuzuhören, als Menschen mit ihnen zu reden.
    Klein: Mit welchen Fällen haben Sie es vor allen Dingen zu tun? Wie ist der Gesundheitszustand der Leute, die dort campiert haben über Monate?
    Westphal: Na ja, ganz unterschiedlich. Es gibt ja darunter auch eine ganze Menge Menschen, die an chronischen Erkrankungen leiden. Die überwiegende Zahl kommt aus Syrien und aus Afghanistan und gerade in Syrien hat man natürlich häufig Krankheitsbilder wie Diabetes, Nierenprobleme, Herzprobleme etc., typisch für ein Land mit mittleren Einkommen. Für diese Menschen ist es oft sehr schwer, angemessene Versorgung zu kriegen. Wiederum haben wir Fälle gehabt in Idomeni gestern, wo diese Menschen auf uns zugekommen sind und uns gesagt haben, könnt ihr uns Medikamente auf Vorrat mitgeben, weil wir nicht wissen, was da kommt. Die haben auch schon erlebt in Griechenland, dass sie überhaupt nicht versorgt worden sind.
    Weltnothilfegipfel: Da wurde am richtigen Problem vorbeigeredet
    Klein: Herr Westphal, wir hatten gestern und vorgestern einen Weltnothilfegipfel in Istanbul. Zum ersten Mal haben sich Organisationen und Staats- und Regierungschefs dort zusammengefunden, um sich des Problems mal anzunehmen. Ihre Organisation hat diese Konferenz zwar lange mit vorbereitet, schließlich aber die Teilnahme abgesagt. Weshalb?
    Westphal: Ja wir haben das schweren Herzens getan. Aber im Endeffekt haben wir uns dazu entschlossen, weil wir auf die Tagesordnung, auf die Pläne für diesen Gipfel geschaut haben und gesehen haben, dass genau diese Art von Situation, von der Sie eben sprachen, in Idomeni, aber auch andere wirklich akute Krisen wie in Syrien, im Jemen, im Südsudan, eigentlich nicht angemessen auf der Tagesordnung berücksichtigt wurden.
    Was wir gesehen haben sind die Belange der Nothilfe und die Tatsache, dass es Nothilfeorganisationen trotz bester Bemühungen nicht gelingt, Millionen von Menschen zu helfen, die in Syrien teilweise direkt unter Beschuss stehen oder auch im Jemen, und dass man stattdessen in Istanbul gesprochen hat darüber, wie man angeblich die humanitäre Hilfe unter die eher politisch ausgerichteten Belange der Entwicklungshilfe unterordnen kann. Das machte für uns keinen Sinn. Da wurde am richtigen Problem vorbeigeredet.
    Klein: Was genau fehlte denn?
    Westphal: Was genau fehlte, ist eine wirklich ernsthafte Beschäftigung damit, erst einmal warum geraten Menschen in extreme Not in Konflikten. Das hat sehr viel mit dem Verhalten von Staaten zu tun, mit bewussten Verstößen gegen das Völkerrecht, das die Zivilbevölkerung schützen soll. Und als Zweites: Warum sind die Hilfsorganisationen - und da schließen wir uns durchaus in der Selbstkritik mit ein als Ärzte ohne Grenzen -, warum gelingt es uns nicht besser, auch in Konfliktsituationen Menschen zu erreichen, die unsere Hilfe dringend brauchen.
    Hilfsorganisationen müssen besser werden
    Klein: Aber haben Sie den Eindruck, dass mit Ihrem Boykott jetzt mehr Menschen geholfen wurde, als wenn Sie teilgenommen hätten?
    Westphal: Das wird sich erst noch rausstellen. Im Endeffekt hilft ja auch der Gipfel in Istanbul konkret erst mal niemand, außer wenn viele Pläne auch wirklich in Taten umgesetzt werden. Wir haben immer wieder darauf bestanden, dass der wirkliche Unterschied vor Ort, der im Südsudan gemacht wird oder im Einsatz gegen die Ebola-Epidemie zum Beispiel, und dass wir uns auch daran messen lassen, und dass leider, leider als ganzer Sektor gesehen die Hilfsorganisationen sich da nicht immer besonders gut und kompetent gezeigt haben. Da müssen wir einfach alle zusammen besser werden.
    Klein: Aber zumindest kann man diesen Ansatz ja doch würdigen, das würden Sie auch tun, dass man sich dort zusammengefunden hat?
    Westphal: Na ja. Wir haben ja an der Vorbereitung, an den Diskussionen im Vorfeld intensiv teilgenommen und wir werden auch in Zukunft weiterhin die Debatte und die Auseinandersetzung suchen mit Organisationen und mit Staaten. Aber wir werden auch klar benennen, wo das Problem liegt, und wir werden auch klar sagen, es kann nicht hinnehmbar sein, dass Staaten, Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, Krankenhäuser angreifen oder mit militärischen Gruppierungen verbündet sind, die das tun, und dass dann in Istanbul dazu eigentlich mehr oder weniger Lippenbekenntnisse abgeliefert werden, aber sich erst mal nichts ändert.
    Klein: Florian Westphal, Geschäftsführer der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Haben Sie Dank, Herr Westphal, für das Interview.
    Westphal: Vielen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.