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IG-Metall-Chef Hofmann zur Flüchtlingsintegration
"Jugendliche ohne Perspektive werden viel zu leicht Opfer von Hasspredigern"

IG-Metall-Chef Jörg Hofmann hat dazu aufgerufen, bei der Ausbildung von Flüchtlingen auch "qualitative Maßstäbe" anzulegen. Alles andere halte er für "ausgesprochen bedenklich", sagte er im Deutschlandfunk und erinnerte an die radikalisierten Attentäter von Paris.

Jörg Hofmann im Gespräch mit Jasper Barenberg | 19.11.2015
    IG-Metall-Chef Jörg Hofmann.
    IG-Metall-Chef Jörg Hofmann (dpa / Alexander Heinl)
    Integration durch Ausbildung müsse die "primäre Aufgabe" sein, sagte der IG-Metall-Chef im DLF. Betriebe und die öffentliche Hand sollten junge Flüchtlinge jetzt sprachlich und fachlich qualifizieren. Das biete die "extrem große Chance", Fachkräftepotenzial für die Zukunft zu entwickeln. Hofmann räumte ein, dass das Jahre brauchen werde, es sei aber alternativlos. Denn was falsche Integrationspolitik bewirke, könne man derzeit nicht nur in einzelnen Großstädten in Deutschland sehen, sondern auch in Paris oder Brüssel. "Jugendliche ohne Berufs- und Ausbildungsperspektive werden viel zu leicht Opfer von Hasspredigern und Ideologen, die uns gesellschaftlichen Sprengstoff besorgen."
    Hofmann äußerte sich auch im Hinblick auf den zweitägigen IT-Gipfel, der sich von heute an in Berlin mit den Herausforderungen des digitalen Wandels beschäftigt. Beim Thema "Industrie 4.0" gehe es zunächst einmal um Rationalisierungsstrategien - da müsse man sich nichts vormachen, sagte der IG-Metall-Chef. Entscheidend sei aber, ob es gelinge, die Menschen auf dem Weg dorthin mitzunehmen und ob Beschäftige ausgegrenzt würden. Mitbestimmung der Belegschaft sei bei der Gestaltung des Prozesses "unbedingt sinnvoll und notwendig".

    Das Interview in voller Länge:
    Jasper Barenberg: Für viele Absichtserklärungen, zu wenig handfestes, zu viele Konzernchefs, zu wenig Vertreter der Zivilgesellschaft. Fortschritte überhaupt wenn, dann nur im Schneckentempo. Wann immer die Bundesregierung in den letzten Jahren zu einem IT-Gipfel gerufen hat, hagelte es prompt Kritik. Dabei ist unbestritten, dass Deutschlands Wirtschaft angesichts der Digitalisierung vor so etwas wie einer Revolution steht. Sechs Minister und die Kanzlerin werden heute dabei sein, wenn sich Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung austauschen. Auch IG-Metall-Chef Jörg Hofmann wird dabei sein. Mit ihm kann ich in den nächsten Minuten auch darüber sprechen, wie sehr die Digitalisierung die Arbeitswelt umkrempeln wird. Aber wir wollen dann im Anschluss auch darüber reden, was das für die große andere Herausforderung bedeutet, die ins Haus steht: die Integration der vielen Flüchtlinge in die Arbeitswelt. Guten Morgen, Jörg Hofmann!
    Jörg Hofmann: Guten Morgen.
    Barenberg: In der Debatte ist ja jetzt immer von der Industrie 4.0 die Rede, von digital vernetzter Fertigung. Mancher stellt sich beim Stichwort eine mit Computern durchgetaktete Produktion vor, die ganz ohne Menschen auskommt. Ist das eine Horrorvision oder eine Verheißung aus Ihrer Sicht?
    Hofmann: Die menschenleere Fabrik wird es nicht geben. Das sagt auch jeder, der sich mit dem Thema beschäftigt. Die entscheidende Frage wird sein: Wird die Maschine den Mensch bestimmen, oder wird der Mensch weiter die Maschinerie dominieren und was heißt das für Qualifikation und Arbeitsplätze.
    "Kann eine Datenbrille einen Maschinen-Instandhalter unterstützen?"
    Barenberg: Und was sagen Sie? Wer hat da den Hut auf, die Maschine oder der Mensch?
    Hofmann: Das ist eine gestaltungsoffene Frage. Deswegen ist es so wichtig, dass man das Thema Industrie 4.0 jetzt auch für Fragen der Zivilgesellschaft, der Arbeitsgesellschaft öffnet, und der diesjährige IT-Gipfel macht ja erst mal ernst damit.
    Barenberg: Teilen Sie denn die Kritik, die vielfach gerade an dieser Veranstaltung geübt wird, zu kompliziert, zu komplex, zu viele Beteiligte, zu wenig handfeste Ergebnisse?
    Hofmann: Es ist natürlich eine Fachveranstaltung mit einem großen Anspruch, aber ich muss sagen, durch die IT-Plattform, die jetzt die Bundesregierung das letzte Jahr eingerichtet hat, wird dieser IT-Gipfel erstmals auch mit vielen, vielen konkreten Beispielen auch aus kleinen und mittleren Unternehmen präsentieren können, was Industrie 4.0 heißen kann.
    Barenberg: Geben Sie uns doch mal ein Beispiel? Was bedeutet das, wenn es nicht die durchgetaktete Fertigung geben wird?
    Hofmann: Das heißt zum Beispiel: Kann eine Datenbrille einen Maschinen-Instandhalter unterstützen, damit er rechtzeitig online die notwendigen Informationen aufgespiegelt bekommt, die er braucht, um komplexe Entscheidungssituationen zu lösen. Das ist eine echte Unterstützung. - Oder was kann Industrie 4.0 für mehr Ergonomie am Arbeitsplatz beisteuern, indem zum Beispiel Arbeitsplatzumgebung und Licht auf die individuellen Bedürfnisse der Menschen eingestellt werden? Das sind ganz kleine praktische Beispiele von vielen, die wir sehen werden.
    Barenberg: Wir haben es schon ein bisschen angeschnitten: Es gibt ja eine lebhafte Debatte darüber, ob durch diese Entwicklung im Großen dann unterm Strich Arbeitsplätze wegfallen oder überhaupt erst entstehen. Wie sehen Sie das?
    Hofmann: Natürlich ist Industrie 4.0 zuerst mal Rationalisierungsstrategie. Da braucht man sich nichts vormachen. Die Frage und die spannende Frage ist: Wird das, was an zusätzlichen Geschäftsmodellen, an Wachstum erzeugt werden kann, den Wegfall von Arbeitsplätzen ersetzen? Quantitativ wird das Ihnen heute keiner einschätzen können. Was aus meiner Sicht viel dramatischer ist, ist die Veränderung der Tätigkeiten selber und auch vor allem die Dynamik der Veränderung der Tätigkeiten, wie verändert sich Qualifikation und können wir nachhalten mit der beruflichen Entwicklung von Qualifikation, damit diese Anforderungen auch für jeden leistbar sind und nicht Menschen ausgegrenzt werden im Prozess.
    Barenberg: Sind die Arbeitnehmer denn, wenn man das überhaupt grundsätzlich sagen kann, eingestellt auf diese Entwicklung?
    "Mehr Selbstbestimmung für die Menschen auch mit Industrie 4.0"
    Hofmann: Ich glaube, es wird eine dramatische Aufgabe sein, die Beschäftigten mitzunehmen, sie zu beteiligen. Sonst funktioniert das nicht. Und das Thema der Einstellung, die Beispiele, die wir sehen, zeigen: Dort wo die Menschen mitgenommen werden, dort wo sie einbezogen werden in die Gestaltung neuer Projekte, dort ist auch die Frage der Bereitschaft des Mitmachens da. Dort wo über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden wird, wird das oft als fremder Eingriff, als Bedrohung empfunden und entsprechend mit Abwehrhaltung reagiert.
    Barenberg: Da zeigen Sie jetzt mit dem Finger auf die Arbeitgeber. Was tun denn die Gewerkschaften, um die Beschäftigten auf diese Entwicklung einzustellen?
    Hofmann: Wir informieren viel. Wir haben in der Breite jetzt unserer Betriebsräte in der Metall- und Elektroindustrie das Thema stark platziert. Wir haben viele Betriebsratsinitiativen, die sich mit diesen Themen beschäftigen, die sich versuchen, rechtzeitig auch in unternehmerische Planungen einzuschalten, und das zeigt auch wieder hier, dass Mitbestimmung unbedingt sinnvoll und notwendig ist, um solche Prozesse sozial verträglich zu gestalten.
    Barenberg: Wenn wir über Arbeitsbedingungen reden, die sich auch ändern werden - jedenfalls habe ich das bisher so durchgehört bei dieser ganzen Diskussion -, müssen sich dann die Gewerkschaften auch ein Stück bewegen, wenn es um Arbeitsverträge, wenn es um Tarifverträge geht, ein bisschen mehr Flexibilität zulassen, die ja auch einhergeht mit diesem Prozess?
    Hofmann: Ach wissen Sie, wir haben gerade in der Metall- und Elektroindustrie doch eine große Flexibilität heute schon als Möglichkeitsraum in unseren Tarifverträgen abgebildet, die natürlich betrieblich dann über Mitbestimmung auszutarieren sind. Ich glaube, um was es vor allem geht ist, dass mehr Selbstbestimmung für die Menschen auch mit Industrie 4.0 möglich ist, dass nicht nur Fremdbestimmung über die Arbeitszeiten, sondern dass Selbstbestimmung über Arbeitszeit mit neuer ITK-Technologie deutlich leichter gemacht wird. Da steht nicht nur das Wort mobiles Arbeiten dafür.
    Barenberg: Ich sage mal ein Beispiel, das ich gelesen habe. Es geht beispielsweise darum, Arbeitszeiten flexibler zu gestalten und abends beispielsweise noch mal in die Mails zu schauen, und da wären Sie dann auch bereit, solche flexiblen Arbeitszeiten mitzutragen.
    Hofmann: Das wollen die Menschen und da geht es um die interessanten Fragen, die dahinter sind. Wie wird diese Arbeitszeit erfasst? Wird sie auch vergütet, oder wird das einfach umsonst mitgenommen? Was heißt das für Haftungsfragen? Was heißt das für Fragen des Beschäftigten-Datenschutzes? Nicht die Frage ob, das wollen viele Menschen, sondern die Frage wie wird die spannende Frage sein auszuhandeln.
    "Integration durch Ausbildung als primäre Aufgabe"
    Barenberg: Wir wollten uns noch über ein anderes Thema unterhalten. Ich habe das angedeutet: die Integration der vielen Flüchtlinge. Das kommt ja auch deshalb ins Spiel, weil wir viel dieser Tage über Fachkräftemangel reden, und jetzt beim Stichwort Digitalisierung über bessere Qualifikation. Fallen da eigentlich die Flüchtlinge durchs Rost?
    Hofmann: Nein, nicht dann, wenn man Integration durch Ausbildung als jetzt die primäre Aufgabe sieht, die vor uns steht. Ich halte es für ausgesprochen bedenklich zu sagen, jetzt Integration allein in Arbeit, ohne qualitative Maßstäbe in den Vordergrund zu schieben. Wer lang und nachhaltig auf dem Arbeitsmarkt Chancen haben will, der braucht eine sprachliche, der braucht eine fachliche Qualifikation, und dort Integrationsmaßnahmen der Betriebe, aber auch der öffentlichen Hand zu konzentrieren, das ist eine extrem große Chance, junge Menschen, die ja lernbegierig sind, die was leisten wollen, die mitzunehmen und damit auch Fachkräftepotenzial für die Zukunft zu entwickeln.
    Barenberg: Würden Sie aber auch sagen, dass es Jahre, und zwar viele Jahre brauchen wird, um dahin zu kommen, dass wirklich ein großer Teil der Flüchtlinge einen Arbeitsplatz wird besetzen können und eingebunden sein wird in unser Wirtschaftsleben?
    Hofmann: Das braucht Jahre. Es wird eine große gesellschaftliche Anstrengung verlangen, dies zu leisten. Aber ich glaube, sie ist alternativlos.
    Barenberg: Was geschähe sonst? Was wäre die Alternative?
    Hofmann: Ansonsten wäre es das, was wir durch falsche Integrationspolitik leider gerade auch erleben, nicht nur in einzelnen Großstädten hier, sondern auch, wenn Sie gerade nach Paris schauen oder nach Brüssel, wo Jugendliche ohne Berufsperspektive, ohne Ausbildungsperspektive dann auch viel zu leicht Opfer werden von Hasspredigern und Ideologen, die uns gesellschaftlichen Sprengstoff besorgen.
    Barenberg: Jörg Hofmann, der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Metall. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen.
    Hofmann: Danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.