Samstag, 20. April 2024

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IG-Metall-Chef Jörg Hofmann
"Wer hetzt, der fliegt"

Deutlicher Vorstoß vom neuen Chef der IG-Metall, der größten Einzelgewerkschaft der Welt: Jörg Hofmann fordert im "Interview der Woche des Deutschlandfunks" die Entlassung fremdenfeindlicher Arbeitnehmer. Niemand dürfe mit rassistischen Pöbeleien einen Spalt zwischen die Belegschaften treiben - es müsse jedem klar sein, dass er dann seinen Job verliere.

Jörg Hofmann im Gespräch mit Theo Geers | 24.10.2015
    IG-Metall-Chef Jörg Hofmann.
    "Unabhängig, ob jemand Flüchtling ist oder nicht, ist der Wert der Arbeit entsprechend der Anforderung, entsprechend der Qualifikation der gleiche." (dpa / Alexander Heinl)
    Theo Geers: In dieser Woche mit einer standesgemäßen Mehrheit von über 90 Prozent gewählt, heute im Interview der Woche, im Deutschlandfunk: Jörg Hofmann, der neue Erste Vorsitzende der IG Metall. Guten Tag Herr Hofmann.
    Jörg Hofmann: Guten Tag Herr Geers.
    Geers: Herr Hofmann, Sie übernehmen die größte Einzelgewerkschaft der Welt in einer Zeit großer Verunsicherung, die ausgelöst wird durch die Flüchtlingskrise. Aber der Druck ist ja auch deshalb so groß, weil sich innenpolitisch das gesellschaftliche Klima so aufheizt. Es gibt Hetzkampagnen im Netz. Es gibt Pegida-Kundgebungen in Dresden, wo Galgen zu sehen sind. Es gibt Mordanschläge auf Kommunalpolitiker. Was können Gewerkschaften in solchen Zeiten tun? Was will die IG Metall tun?
    Hofmann: Nun, es gibt diese Bilder, es gibt aber auch andere Bilder, von Menschen die helfen. Dazu gehören auch viele Metallerinnen und Metaller, die Solidarität zeigen, die Ersthilfe organisieren. Und ich glaube, dieses Klima ist verstetigbar dann, wenn auf allen Ebenen jetzt Maßnahmen ergriffen werden. Aber vor allem die Zivilgesellschaft ist gefordert. Und sie ist in den letzten Wochen dieser Aufforderung sehr entschieden nachgekommen. Das macht Mut. Das macht Mut, auch gegen die anzutreten, die auf die Straße gehen und teilweise dumpfe Parolen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit von sich geben. Das ist keine Antwort eines Deutschlands, wie ich mir und wir uns das wünschen.
    Geers: Sie sagen: "Das macht Mut". Nun haben zum Beispiel manche Arbeitgeber Mitarbeiter, die sich offen rassistisch oder menschenfeindlich geäußert haben, zum Beispiel im Internet über Twitter oder über Facebook, die haben teilweise diese Leute gefeuert, weil das eben nicht zu den Werten ihres Unternehmens passte, zu den Werten, zu denen dieses Unternehmen steht. Sollte das aus Sicht eines Gewerkschafters mehr und öfter passieren oder haben Sie bei solchen drakonischen Maßnahmen Bauchschmerzen?
    Die Pegida Demonstration in Dresden, Deutschland.
    Pegida-Demo in Dresden - Jörg Hofmann: "Wer hetzt, der fliegt." (imago/Sven Ellger)
    Hofmann: Es gibt null Toleranz gegen Rassismus. Wenn man in einem Betrieb zusammenarbeitet – und bei uns arbeiten oft Dutzende von Nationalitäten –, dann kann man nicht dulden, dass man mit rassistischen Pöbeleien, mit Fremdenfeindlichkeit einen Spalt zwischen den Belegschaften, den Kolleginnen und Kollegen zieht. Da sind wir sehr klar ganz entschieden.
    Geers: Das heißt verkürzt gesagt: Wer hetzt, fliegt?
    Hofmann: Wer hetzt, fliegt! Und das muss auch jedem klar sein.
    Geers: Nun ist es so, dass wir auch natürlich die große Integrationsaufgabe haben, dass wir die zu uns kommenden Asylbewerber, Bürgerkriegsflüchtlinge in den Arbeitsmarkt integrieren müssen. Was schwebt denn der IG Metall vor, wie man diese Menschen in Lohn und Brot bringen könnte und das auch noch möglichst schnell? Was muss da passieren?
    Hofmann: Integration durch Arbeit und zunächst einmal Ausbildung
    Hofmann: Die Integration durch Arbeit heißt zunächst einmal Ausbildung. Auch selbst wenn Flüchtlinge eine Ausbildung im Heimatland hatten, ist es oft nicht die Qualifikation, die heute hier adäquat abgefordert wird. Wir haben in der Metall- und Elektroindustrie ganz gute Erfahrungen auch bei der Integration etwa von Langzeitarbeitslosen. Dort werden wir gemeinsam mit den Arbeitgebern Initiativen starten, sind schon gestartet, werden wir weiterentwickeln. Mir ist bloß eines wichtig, zu sagen: Wir können nicht eine Sicht nachlassen, wir müssen alle im Auge haben. Der Langzeitarbeitslose hier hat die gleichen Ansprüche und Chancen auf Förderung, wie der Flüchtling, der zu uns kommt. Sonst würden wir die Gruppen gegeneinander ausspielen. Das wäre ein gesellschaftlicher Brandsatz.
    Geers: Wie wollen Sie denn verhindern, dass Flüchtlinge nicht als billige Arbeitskräfte missbraucht werden?
    Hofmann: Unabhängig, ob jemand Flüchtling ist oder nicht, ist der Wert der Arbeit entsprechend der Anforderung, entsprechend der Qualifikation der gleiche. Deswegen ist uns auch ganz wesentlich, dass es keine Ausnahmen gibt im gesetzlichen Mindestlohn. Für uns ist genauso eindeutig klar, dass Tarifverträge und ihre Bestimmungen auch für Flüchtlinge und ihre Arbeitseinsätze gelten. Wir haben eine Entgeltstruktur, die abhängig ist von der Qualifikation, von der Anforderung der Arbeitsaufgabe. Wenn jemand die Arbeitsaufgabe erledigt, hat er den Anspruch auf das gleiche Entgelt, unabhängig und ohne Berücksichtigung von Geschlecht, Nation, Status als Flüchtling oder hier Beschäftigter.
    Immer mehr Unternehmen in Bayern bieten Flüchtlingen Praktika oder einen Ausbildungsplatz an.
    Flüchtlingen in Bayern: Ausbildung als Weg zur Integration. (dpa/picture alliance/Sven Hoppe)
    Geers: Haben Sie eigentlich eine Idee, was passieren würde oder passieren könnte, wenn Hunderttausende den Sprung auf den deutschen Arbeitsmarkt vielleicht nicht schaffen sollten? Also wenn wir es nicht packen sollten, wenn Deutschland es möglicherweise versemmelt. Sehen Sie so eine Gefahr?
    Hofmann: Da komme ich auf meine erste Aussage zurück: Wir brauchen die Zusammenarbeit aller Ebenen. Da gehören Arbeitgeber dazu, da gehören unsere Betriebsräte dazu, da gehören Rahmenbedingungen dazu, die der Gesetzgeber zu schaffen hat. Da gehören auch Geld und Mittel, etwa der Bundesagentur für Arbeit, dazu, um überhaupt diese Qualifizierungsleistung leisten zu können. Das heißt, im Zusammenwirken aller können wir das. Deutschland hat schon viel an Flüchtlingsintegration in den letzten 60 Jahren verkraftet – auch da lohnt sich mal ein Blick zurück. Und deswegen denke ich, es ist eine Riesenkraftanstrengung und eine Riesenherausforderung, aber eine machbare.
    Geers: Gehen wir mal einige konkrete Maßnahmen durch, Herr Hofmann, die im Raume stehen. Den Mindestlohn haben Sie schon angesprochen. Sie haben gesagt: Daran ist nicht zu rütteln, aus Sicht der Gewerkschaften. Ein anderes Thema ist das Aufenthaltsrecht. Kein Unternehmen bildet Flüchtlinge aus, wenn nicht klar ist, dass diese Flüchtlinge auch im Land bleiben können. Was muss da aus Ihrer Sicht passieren?
    Hofmann: Anschlussperspektive muss sichergestellt werden
    Hofmann: Ich glaube, dass man auf jeden Fall die Frage des Aufenthaltsstatus während der Ausbildung und eine Anschlussperspektive sicherstellen muss. Sie haben vollkommen Recht: Wer bildet aus, wenn er anschließend nicht den jungen Mann, die junge Frau einsetzen kann? Da braucht es eine Anschlussperspektive. Und hier die Rahmenbedingungen gesetzlich zu schaffen, dass der Aufenthaltsstatus mit dieser Perspektive versehen wird, zunächst einmal, halte ich für eine richtige und notwendige Maßnahme.
    Geers: Es gibt noch einen weiteren Aspekt beim Aufenthaltsrecht, Herr Hofmann, bisher werden Flüchtlinge nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt. Das heißt, da geht es nach Einwohnerzahl, da geht es nach Wirtschaftskraft der einzelnen Bundesländer. Das führt dazu, dass die Flüchtlinge teilweise dahin kommen, wo man sie gar nicht gebrauchen kann. Im Zweifel suchen dann Flüchtlinge, Asylbewerber im Ruhrgebiet, wo es weniger Jobs gibt oder weniger freie Jobs gibt, Arbeit, während sie möglicherweise im Südwesten, in Bayern, wo die Wirtschaft boomt, wo die Arbeitslosigkeit geringer ist, wo sie gebraucht würden, da fehlen dann möglicherweise diese Leute. Müsste man an diesem System etwas ändern?
    Ein Schild mit der Aufschrift "Bundesagentur für Arbeit", aufgenommen am 26.02.2014 in Berlin im Eingangsbereich einer Agentur für Arbeit.
    Bundesagentur für Arbeit - Hofmann fordert deutliche Einschränkung der Vorrangprüfung für Flüchtlinge. (dpa / Daniel Naupold)
    Hofmann: Ich glaube, wir müssen da einfach gehen lernen jetzt. Wir haben die Regularien, die entstanden sind, nicht unter der Perspektive, unter den Randbedingungen, die heute zu bewältigen sind. Und man merkt natürlich, dass sie nicht ausreichend sind, dass sie insbesondere auch eine Frage unterschiedlicher Arbeitsmärkte nicht ausreichend berücksichtigen. Ich glaube, es wird uns nicht helfen, jetzt eine Grundsatzdebatte über richtige Regeln zu beginnen, sondern ich glaube, es ist zuerst einmal praktisches Handeln in der jetzigen Situation erforderlich. Und es fällt uns halt auf die Füße, dass wir über Jahrzehnte notwendige Fragestellungen nicht beantwortet haben. Etwa die Frage: Wie gehen wir um mit dem Thema Einwanderungsgesetz? Wie gehen wir um mit der Frage Arbeitsmigration in Europa? Wie gehen wir um mit der Fortentwicklung von Asyl und dem Asylrecht in der Europäischen Union in der Sicherung von Außengrenzen? Diese unterlassenen Debatten fallen uns jetzt auf die Füße – das ist so. Das kann man jetzt beklagen – hilft uns aber nichts. Sondern wir müssen jetzt einfach, gehen lernend, diese Probleme eines nach dem anderen versuchen abzuarbeiten.
    Geers: Sagt der neue IG Metall Vorsitzende Jörg Hofmann im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Herr Hofmann, bleiben wir noch mal kurz bei den konkreten Maßnahmen in Sachen Arbeitsmarkt und Integration von Zuwanderern. Da gibt es verschiedene Hürden, eine davon ist die sogenannten Vorrangprüfung. Das heißt, ein Unternehmen kann Zuwanderer, Asylbewerber, Flüchtlinge erst dann einstellen, wenn es nachweisen kann, dass nicht ein Deutscher oder EU-Ausländer diesen Arbeitsplatz nehmen kann. Sollte diese Vorrangprüfung aus Ihrer Sicht abgeschafft werden?
    Hofmann: Vorrangprüfung deutlich stärker einschränken
    Hofmann: Wir meinen, die Vorrangprüfung muss noch deutlich stärker eingeschränkt werden. Wir haben ja schon eine deutliche Einschränkung in den letzten Jahren, etwa syrische Kriegsflüchtlinge fallen nicht darunter. Was wir aber schon meinen, was weiter Aufgabe ist auch der BA, dass sie ein Auge darauf hat, dass Beschäftigungsverhältnisse, die abgeschlossen werden, den örtlichen Bedingungen und den Tarifstandards auch entsprechen, damit keine Dumping-Entgelte auf Kosten der Flüchtlinge entstehen. Aber das Thema Vorrangprüfung kann und sollte in weiteren Umfängen eingeschränkt werden. Es ist etwa für Flüchtlinge aus Syrien, aus Eritrea, Somalia einfach nicht notwendig. Die Menschen kommen zu uns, sie haben keine andere Bleibeperspektive und deswegen ist dort eine unmittelbare Möglichkeit, in Ausbildung und Arbeit zu kommen, auch zu eröffnen.
    Geers: Auf der anderen Seite aber tut sich zum Beispiel ein Bundeswirtschaftsminister Gabriel schwer mit der völligen Abschaffung dieser Vorrangklauseln, weil er sagt: Na ja, das führt dann möglicherweise zu dem Problem, dass viele Deutsche das Gefühl bekommen, jetzt gehen die Flüchtlinge auch noch auf dem Arbeitsmarkt vor und nehmen uns Deutschen auch noch die Jobs weg.
    Hofmann: Es ist eine Gratwanderung, die wir gerade in diesen Fragen beschreiten. Einerseits ist es notwendig, situationsgerecht zu reagieren, bürokratische Hemmschwellen zu senken. Auf der anderen Seite sollte wir keinen Anlass bieten, Ängste zu schüren. Etwa: Ist mein Arbeitsplatz damit bedroht? Etwa: Entsteht neben mir eine Lohnkonkurrenz – gerade in den unteren Bereichen – die meine Arbeits- und Entgeltbedingungen infrage stellt? Und diesen Grat sauber zu ziehen, glaube ich, da hat die Bundesagentur für Arbeit eine ganz zentrale Aufgabe, was aber auch verlangt, dass sie entsprechend personell ausgerüstet ist.
    Geers: Eine andere konkrete Maßnahme, wie man Flüchtlinge und Bürgerkriegsflüchtlinge in den Arbeitsmarkt integrieren könne, lautet immer wieder, Flüchtlinge in Leiharbeit zu stecken und das Verbot für Flüchtlinge als Leiharbeiter – das, glaube ich, drei Monate lange gilt – aufzuheben. Die Gewerkschaften halten davon nach wie vor nichts – warum nicht?
    Hofmann: Leiharbeit nicht zur Integration geeignet
    Hofmann: Weil Leiharbeit eben das nicht leisten kann, was Integration durch Arbeit darstellt, nämlich Integration in einen Kollegenkreis, der solidarisch den Neuen mitnimmt, aufnimmt, fördert, in die Kultur unserer Arbeitsgesellschaft auch einführt. Leiharbeiter sind temporäre Kräfte, sind ohnehin schon etwas die auf der Seite Stehenden. Und es macht keinen Sinn, die Leiharbeit als Integrationsmittel zu nutzen. Wir meinen, Integration in Arbeit, in den Betrieben und in normalen Arbeitsverhältnissen muss die Antwort sein.
    Geers: Nun dauert Integration erfahrungsgemäß sehr lange. Es gibt Zahlen, da sprechen manche von sieben Jahren, die es dauert, bis ein Neuankömmling es geschafft hat, im Arbeitsmarkt in Deutschland Fuß zu fassen. Während dieser Zeit braucht so ein Flüchtling oft Unterstützung, das heißt Hartz IV. Und es ist auch klar, dass nicht jeder es packt, trotz der Förderung. Vielleicht auch, weil manche mit falschen Vorstellungen über das Leben in Deutschland hier nach Deutschland gekommen sind. Wären Sie dafür, dass man Flüchtlinge im Zweifel auch mal etwas härter anpacken muss, sollte es sich der ein oder andere im sozialen Auffangsystem zu bequem machen?
    Hofmann: Ach, wissen Sie, wir haben aus meiner Sicht schon ziemliche Härtegrenzen, was etwa die Hartz-IV-Regelungen angeht. Und im Gegenteil, wir sind da der Auffassung, dass die ein oder andere Restriktion, die wir heute erleben, fast schon über das Ziel hinaus weicht. Die andere Frage ist die: Ja, es kostet mehr Geld, Integration. Integration gibt es nicht umsonst. Aber Fachkräfte und Arbeitskräfte für morgen gibt es nicht umsonst, es ist ein Aufwand. Und es kommen Menschen zu uns, die nachqualifiziert werden müssen, die Qualifikation erhalten müssen. Das ist ein Aufwand, aber natürlich auch ein Ertrag für die Zukunft.
    Ein VW-Logo glänzt am 25.09.2015 in der Morgensonne am VW Werk in Wolfsburg.
    VW in der Krise (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Geers: So viel zur gesellschaftlichen Großbaustelle Flüchtlingsintegration. Herr Hofmann, kommen wir zu einer anderen Großbaustelle, die für den neuen IG Metall Vorsitzenden wichtig sein wird. Die Rede ist von VW. Vor wenigen Wochen hätte sich niemand träumen lassen, dass der weltgrößte Autokonzern so ein Desaster erlebt – selbst verschuldet –, das sogenannte Dieselgate. Der größte deutsche Autokonzern – das ist auf jeden Fall klar – steckt in einer Krise und Ausmaß und finanzielle Folgen sind derzeit immer noch nicht absehbar. Gleichzeitig ist es so, dass der IG-Metall-Vorsitzende traditionell im Aufsichtsrat von VW sitzt und dort auch, glaube ich, das Amt des stellvertretenden Vorsitzenden übernimmt. So weit ist es bei Ihnen noch nicht, aber dennoch die Frage: Hat VW im Dieselgate bisher alles richtig gemacht?
    Hofmann: Kritische Debatte über Vergütungssysteme notwendig
    Hofmann: Offensichtlich nicht, weil letztendliche Fehlleistungen, die ein klarer Verstoß gegen Gesetze sind, können nicht richtig sein. Die spannendere Frage ist: Wie kommt es dazu, dass trotz guter Mitbestimmung in einem Konzern, die Kultur des Kostendrucks bei denen, die damit vertraut sind, zu solchen Reaktionen führt? Das ist für mich die interessantere Frage, die ja kein spezifisches Volkswagenthema ist, die jetzt bei Volkswagen hochgekommen ist. Wir glauben, wir brauchen an der Stelle mal eine kritische Debatte: Was sind Normen, Werte, auch was das Thema Klima und Umweltschutz angeht, in der Automobilindustrie. Und in welchem Verhältnis stehen diese zum Kostendruck, der dort herrscht und sozusagen offensichtlich erbarmungslos auf den Einzelnen wirkt. Auch: Was bedeutet das für eine Kultur, die diesen Kostendruck so unmittelbar koppelt an Vergütungssysteme, wie Erfolgsboni. Das sind die Fragen, die relevant sind zu stellen im Kontext von Volkswagen – jetzt und morgen.
    Geers: Sie haben den Kostendruck erwähnt. Ist das für Sie der abstrakte Grund, weshalb bei VW so etwas passieren konnte?
    Hofmann: Wenn Sie heute Kostenziele vorgegeben haben: Der Motor muss/kann maximal 2.000 Euro kosten und bitte, Ingenieur, produziere mir einen, der 2.000 Euro kostet und die und die Leistungsmerkmale hat, dann, wenn es kein Wertesystem gibt, können solche Situationen entstehen. Und deswegen glaube ich schon, wenn man über Kulturwandel reden muss, dann muss man darüber reden, ob wirklich nur das kurzfristige Schauen nach möglichst hohen Profiten das ist, was Relevanz haben kann. Auch in der Unternehmenskultur, wenn es darum geht, Werte, wie Umwelt, Klima, aber auch gesunde Arbeitsbedingungen in den Mittelpunkt zu stellen.
    Herbstlaub liegt auf der Motorhaube eines VW-Polo
    VW-Dieselgate: Hofmann fordert Kulturwandel. (picture-alliance / dpa / Jan Woitas)
    Geers: Sie haben von Kulturwandel gesprochen, der bei VW aus Ihrer Sicht nötig ist. Sie haben auch gleichzeitig gesagt: Die spannende Frage ist, wie konnte es passieren, dass in einem Unternehmen wie VW, das derartig stark auch mitbestimmt ist, dass so etwas passieren konnte? Das heißt, wenn jetzt so ein Kulturwandel bei VW kommen wird, stehen dann möglicherweise auch Dinge zur Disposition – Stichwort Mitbestimmung –, die der IG Metall als starker Gewerkschaft gerade im VW-Konzern dann möglicherweise selbst auf die Füße fallen?
    Hofmann: Ich glaube eher das Gegenteil. Wer kann denn in diesem Konzern gegen eine Kultur des schnell Profits und des Kostendrucks angehen? Das geht nur mit starker Mitbestimmung. Und offensichtlich hat die starke Mitbestimmung bei Volkswagen noch nicht ausgereicht, entsprechend Wälle dagegen aufzubauen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ein notwendiger Kulturwandel ohne eine starke Mitbestimmung, auch ohne das, was der Gesamtbetriebsrat von Volkswagen seit Jahren eingefordert hat, eine starke Dezentralisierung, Selbstständigkeit der Einheiten und eine Abkehr von diesen strikt hierarchischen Prinzipien, die heute dort in dem Konzern gelten, funktioniert. Ohne dass diese allen Elemente ins sich wirken, wird es keine Veränderung geben. Nicht die Mitbestimmung ist schuld, im Gegenteil. Wir können nur daraus lernen. Offensichtlich hat sie nicht ausgereicht, dort entsprechend gegenzusteuern. Das muss man neu nach vorne denken und das heißt auch, Mitbestimmung zu stärken.
    Geers: Heißt das jetzt, Herr Hofmann, dass Sie als neuer IG Metall Vorsitzender noch mehr Einfluss bei VW einfordern, damit sich so etwas nicht wiederholt?
    Hofmann: Aufklärungsprozesse vorantreiben
    Hofmann: Wir meinen, zunächst einmal ist das Management verantwortlich. Und das ist auch eine klare Aufgabenzuweisung. Wir sind keine Co-Manager. Wir vertreten die Interessen der Belegschaften. Und wir sind jetzt die, die die Aufklärungsprozesse vorangetrieben haben. Und ohne die Mitbestimmung hätten wir heute nicht die unabhängige Aufklärung über ein amerikanisches Konsortium, das jetzt dort tätig ist. Ich glaube, Mitbestimmung ist immer nur korrektiv, kann korrektiv sein. Und offensichtlich muss dieses Korrektiv gerade bei der Frage von Kulturwandel weiter wirken, etwa, wenn wir etwa debattieren jetzt: Was sind in Zukunft Erfolgsboni-Systeme beim Volkswagen Konzern? Das ist jetzt eine Aufgabe, derer wir uns annehmen.
    Geers: Das heißt, da wollen Sie drüber mitentscheiden wollen?
    Hofmann: Da wollen wir drüber mitentscheiden, da wollen wir auch darüber mitgestalten. Weil das sind Ansatzpunkte, wo wir über die Mitbestimmung Kulturwandel fördern können. Aber im Kern geht es doch darum, dass wir über eine starke Mitbestimmung einen Kontrapunkt setzen können gegen eine nur auf ein Ziel orientiere Unternehmenskultur und die heißt: Kostensenkung um jeden Preis.
    Geers: Derzeit heißt es, selbst Kurzarbeit sei bei VW kein Thema. Anfang Oktober, auf der Betriebsversammlung, der ersten des neuen Konzernchefs Matthias Müller, hat dieser allerdings auch gesagt, das Aufräumen bei VW werde nicht ohne Schmerzen gehen. Und eine Job-Garantie hat er wohlweislich Anfang Oktober auch nicht ausgesprochen. Deshalb die Frage an Sie, Herr Hofmann: Sind denn die Jobs bei VW aus Sicht der IG Metall noch sicher?
    Hofmann: Vielleicht vorneweg: Die Jobs derer, die sich an diesen Manipulationen beteiligt haben, sind nicht sicher. Aber die Jobs unserer 100.000 Kolleginnen und Kollegen, die jetzt Opfer sind dieser Manipulationen, um die zu kämpfen, das ist unsere Aufgabe. Und da schaue ich durchaus ganz positiv mal nach vorne, welche Regelungen und Möglichkeiten wir da finden. Im Kern müssen wir gerade im Moment sagen, wir fahren ...
    Geers: Entschuldigung, dass ich Sie unterbreche. Das heißt, Sie erwarten keinen großen Personalabbau jetzt wegen der Krise bei VW?
    Hofmann: Dichter Nebel bei VW
    Hofmann: Wir fahren im Moment im dichten Nebel. Wir sehen im Moment keine deutlichen Zeichen, was Abbruch von Aufträgen angeht. Das müssen wir mal in drei, vier Wochen noch mal neu beobachten. Insoweit gilt es jetzt einfach in Szenarien zu denken, in Worst-Case-Szenarien, in Best-Case-Szenarien, die auch vorzubereiten, ohne Kassandra zu sein. Wir werden das vermutlich erstmals Ende November sehen, wie die Dramatik sich darstellt oder wie nicht.
    Geers: Könnte es sein, dass es eher die Leiharbeiter bei VW trifft, als die Stammbelegschaft?
    Hofmann: Das läge normal näher, aber da vertraue ich auch wieder auf das Thema Mitbestimmung. Uns gelang es in der großen Finanzmarktkrise, die Leiharbeiter durch die Krise mitzunehmen. Und ich glaube, ich kann da durchaus sagen, dass auch der Gesamtbetriebsrat und die Volkswagen-Kolleginnen und -Kollegen auch jetzt wieder gewillt sind alles zu tun, dass nicht den Letzten der Hund beißt, sondern die Leiharbeiter auch mit in einem solidarischen Lösungskonzept berücksichtigt werden.
    Geers: Erwarten Sie in diesem Punkt möglicherweise auch Hilfe vom Staat, das heißt eine Ausweitung des Kurzarbeitergeldes auch auf Leiharbeiter?
    Hofmann: Ich erwarte, dass der Staat für die Betriebe, wo Kurzarbeit genehmigt ist, auch für Leiharbeiter die Kurzarbeit möglich ist. Unsere Forderung ist nicht – um nicht falsch verstanden zu werden – Ausweitung der Kurzarbeit für Leiharbeit. Zur Leiharbeit gehört auch, dass man Nicht-Beschäftigungszeiten ausgleicht, sonst wäre das ja nicht Leiharbeit, sondern ein schöner Profit mit niedrigen Entgelten. Das Risiko wollen wir der Leiharbeitsbranche nicht abnehmen. Aber in den spezifischen Fällen, wenn für eine temporäre Zeit ein Einsatzbetrieb Kurzarbeit anmeldet, dass man die dort beschäftigten Leiharbeiter mit in die Kurzarbeit nehmen kann mit der Anschlussperspektiv, weiter in dem Betrieb tätig zu sein, das halte ich für eine praktikable und die Solidarität zwischen den Beschäftigten fördernde Maßnahmen.
    Geers: Sie haben bisher auch gesagt: Die Linie der IG Metall ist, dass die Belegschaft nicht ausbaden soll bei VW, was das Management angerichtet hat, das heißt, wir zahlen nicht für Managementfehler - bleibt es dabei? Das heißt also zum Beispiel, Bonuszahlungen an VW-Mitarbeiter, die am Band stehen, in der Produktion sind, die werden unangetastet bleiben?
    Hofmann: Bonuszahlung sind heute und werden auch morgen vom Ertrag abhängig sein. Wenn der Ertrag jetzt einbricht, hat das Wirkungen auf die Bonuszahlungen. Das ist die Regel, die wir gefunden haben. Aber die Regelungen, wie wir sie haben über Entgelt, Arbeitszeit, andere Arbeitsbedingungen, die nicht ertragsabhängig sind, da sind wir schon der festen Auffassung, dass wir alles tun werden, dort die Ansprüche unserer Kolleginnen und Kollegen zu verteidigen, und das wird eine Auseinandersetzung.
    Geers: Das heißt, Sie schließen nicht aus, dass die Bonuszahlung gekürzt werden müssen aufgrund der schlechteren Ertragslage bei VW, aufgrund der Tatsache, dass die Gewinne einbrechen? Das schließen Sie nicht aus, dass die Bonuszahlung für die Mitarbeiter schon auf den Prüfstand kommen, möglicherweise sogar ganz ausgesetzt werden müssen, je nach Ertragslage?
    Hofmann: Wenn ich das richtig sehe – aber da komme ich jetzt auch ins Spekulieren –, sind die Bonuszahlungen exakt an Kennziffern des Ertrages gekoppelt und entsprechend gilt die Regel weiter.
    Geers: Nun gibt es ja manche, die sagen, auch der Haustarif bei VW sei Schuld – Stichwort Kostendruck. Was würden Sie denn sagen, wenn das VW-Management, wenn es mit dem Rücken zur Wand steht, hier plötzlich Begehrlichkeiten offenbaren würde?
    Hofmann: Ach wissen Sie, wenn Sie etwa allein im Volkswagen-Konzern das Stundenentgelt zwischen Haustarif und etwa dem von Audi oder Porsche vergleichen, würde ich das Argument nicht so ungeprüft unterschreiben, dass der Haustarif deutlich teurer ist. Ich halte das für eine etwas populäre Drohung. Substanziell, glaube ich, geht es darum – und das ist auch dem Management klar –, dass wir dort keinen Angriff auf den Haustarifvertrag akzeptieren. Und die Organisationskraft der IG Metall, gerade in diesem Punkt, ist ausgesprochen stark.
    Geers: Reden wir noch kurz über einen letzten Punkt, Herr Hofmann, über die Aufgaben, die auf Sie als neuen IG Metall Vorsitzenden in der Gewerkschaftspolitik ganz allgemein zukommen werden. Stichwort: Digitalisierung der Arbeit, Industrie 4.0 – Verknüpfung von klassischer Industrie mit der Welt der Bits und Bytes, mehr Mobilität, Erreichbarkeit an jedem Ort und zu jeder Zeit, was die Mitarbeiter betrifft. Alles Riesenherausforderungen für eine Gewerkschaft wie die IG Metall. Was und wie wollen Sie hier gestalten?
    Hofmann: Ich glaube, wenn man über die Zukunft unserer Arbeitsgesellschaft nachdenkt, ist ein ganz zentrales Thema, dass der Anspruch der Beschäftigten auf ein Arbeitsleben, das Sicherheit bietet, das gerecht ist, das auch selbstbestimmt gestaltet werden kann, heute sich bricht an zwei Punkten, wo sehr deutlich wird, dass es eben nicht so ist. Das eine ist der Punkt, dass wir einen ausufernden Niedriglohnsektor haben, auch in den Hochprofitbranchen der Metall- und Elektroindustrie und deswegen wir das Thema Leiharbeit und Werkverträge und deren Begrenzungen, deren Gestaltung, als ein ganz zentrales Thema sehen. Und auf der zweiten Seite: Wir haben zwar ein Mehr an Beschäftigung, aber eine ziemliche Ungleichheit in dem Umfang von Beschäftigung. Das heißt, die Verteilung des Arbeitsvolumens ist sehr ungleich. Und zwar nicht so, wie es den Bedürfnissen der Menschen entspricht – dann wär es kein Problem –, sondern wir brauchen mehr Ansprüche der Arbeitnehmer auf eine Vollzeitbeschäftigung, die auch ein ausreichendes Einkommen gibt für Familie und für den eigenen Lebensunterhalt und gleichzeitig Wahlchancen, die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben besser gestalten zu können. Das heißt, das Thema Arbeitszeit und Arbeitszeitgestaltung ist ein zweites großes Ziel und großes Vorhaben. Und – ohne zu lang zu werden – ein dritter Punkt: Wir brauchen die Werkzeuge und Instrumente dafür, dass es möglichst bei Vielen ankommt. Und deswegen ist die Frage: Wie gehen wir um mit dem Fakt, dass wir in den letzten Jahren zwar die Tarifbindung stabilisieren konnten, aber sie trotzdem auf einem niedrigeren Niveau, wie etwa der 70er-Jahre, ist? Wie können wir dort nach vorne kommen, wieder ein stärkeres Maß an Tarif an Tarifbindung erzielen, damit das, was wir über Entgelte für die Beschäftigten verhandeln, was wir an Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten für die Beschäftigen verhandeln, auch bei möglichst vielen ankommt. Das sind so drei Kernelemente, die die nächsten Jahre aus meiner Sicht unsere Arbeit prägen werden.
    Geers: Herr Hofmann, vielen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.