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Iliazd: "Philosophia"
Liebeserklärung an Konstantinopel

Ilya Zdanevič, genannt Iliazd, kam 1920 als russischer Flüchtling nach Konstantinopel, bevor er in Paris mit den Großen der Kunst seiner Zeit zusammenarbeitete: mit Max Ernst, Picasso und vielen anderen. "Philosophia", der Report eines Exillebens in Konstantinopel, ist nun erstmals auf Deutsch erschienen.

Von Brigitte van Kann | 11.04.2018
    Buchcover von Iliazds "Philosphia" und im Hintergrund die Hagia Sophia
    Iliazds Liebe für Konstantinopel und die Hagia Sophia prägt sein Buch "Philosophia" (Buchcover: Matthes & Seitz Verlag, Hintergrund: picture alliance / dpa / Marius Becker:)
    "Philosophia", 1930 in Paris entstanden, ist wohl das einzige Prosawerk der Welt, das auf Schnittmusterbögen der Haute Couture geschrieben wurde. Sein Verfasser, der in russischer Sprache schreibende Exilautor und Künstler Ilja Sdanewitsch, nannte sich im Pariser Exil schlicht Iliazd und arbeitete unter anderem für Chanel.
    Ilja Sdanewitsch, 1894 in Tiflis geboren, hatte einen polnischen Vater, der Französich unterrichtete, und eine georgische Mutter, die Pianistin und eine Schülerin Tschaikowskys war - so steht es jedenfalls im russischen Internet. Er gehörte zu den treibenden Kräften des russischen Futurismus und schrieb Gedichte in der "Za-um" genannten Kunstsprache der Futuristen, die sich nicht an der Bedeutung der Wörter, sondern an ihrer klanglichen Qualität orientierte. Wie viele seiner Futuristen-Freunde war auch Ilja Sdanewitsch ein mehrfach Begabter, der sowohl schrieb als auch zeichnete.
    Stoffdesigner für Chanel in Paris
    1921 ging er ins Pariser Exil, wo er als Typograph und Buchgestalter reüssierte und mit den Großen der Kunst seiner Zeit zusammenarbeitete - mit Max Ernst, Chagall, Miro und vielen anderen mehr, vor allem aber mit Picasso. Für das Modehaus Chanel entwarf er Stoffe und leitete schließlich sogar die hauseigene Textilfabrik.
    Sein Weg nach Paris führte den damals 26-Jährigen über Konstantinopel, wie das heutige Istanbul damals hieß. Hier verbrachte er 1920 bis 1921 ein ganzes Jahr - auf das französische Visum wartend, wie einige seiner Biographen behaupten, die Abreise hinauszögernd, wie andere schreiben, weil die Stadt am Bosporus ihn so schnell nicht wieder losließ.
    Hagia Sophia als Dreh- und Angelpunkt des Textes
    Liest man sein Prosawerk "Philosophia", das nun erstmals auf Deutsch in der bewundernswerten Übersetzung von Regine Kühn vorliegt, so glaubt man eher an die zweite Version: "Philosophia" ist eine Liebeserklärung an Konstantinopel.
    "Er ging hinaus auf den Palastplatz, begab sich zum Brunnen. In der Stille, die vom ununterbrochenen Geplätscher noch dichter wurde, streichelte und wärmte er mit Händen und Atem den herbstkühlen Marmor. Die von hier aus luftig wirkende Kuppel der Sophia war im Ganzen zu sehen, sie war weit genug entfernt, um Einzelheiten nicht Oberhand über die Idee zu gewähren. Kein Halbmond, keine von den in Jahrhunderten angeschwemmten Anbauten, die klaren Formen der Geometrie, kühler Verstand, zu Größe erhobene Spielerei."
    Die Hagia Sophia, das Zentrum der orthodoxen Kirche in Byzanz, wurde 1453 nach der Eroberung der Stadt durch die Osmanen zur Moschee umfunktioniert. Der Autor Iliazd macht den byzantinischen Kirchenbau zum Dreh- und Angelpunkt seines Textes.
    Hier spricht der Futurist
    Sein Held, der junge Flüchtling Iliazd - das Alter ego des Schriftstellers -, ist fasziniert von der Schönheit der Hagia Sophia, hingebungsvoll zeichnet er ihren Grundriss und versucht in die Geheimnisse ihrer Konstruktion einzudringen.
    Breiten Raum nehmen phantasmagorische Pläne russischer Nationalisten ein, die Moschee zu erobern, wieder zur Kirche umzuwidmen, dann Konstantinopel zu besetzen und schließlich die ganze Türkei zu kassieren. Russische und türkische Doppel- und Dreifach-Agenten tragen die Konspiration hin und her. In der brodelnden Metropole zwischen Europa und Asien kocht jeder sein Süppchen - oder glaubt zumindest, es zu tun.
    Islam und Philosophie
    Iliazd nennt derlei Pläne "absurd und archaisch", jedoch nicht aus religiösen oder politischen Gründen: Er befürchtet, die Russen könnten den byzantischen Bau mit dem Kitsch künstlerischer "Modergestalten", mit Bildern des Märchenmalers Bilibin oder den mythologischen Werken Wasnezows verunstalten. Hier spricht der Futurist!
    Dennoch ist und bleibt die Hagia Sophia für ihn gebaute Philosophie und Philosophie gehöre nun einmal nicht zum Islam, der eine Religion der Muße, des Genusses, nicht des "Räsonierens" sei.
    "Die Sophienmoschee ist die schwerwiegendste der historischen Verirrung des Islam. In diesem Bauwerk, wo alles Zahlen-, Figuren- und Linienphilosophie ist, hat der Gesang der Suren keinen Platz."
    Iliazd ist weit davon entfernt, islamfeindlich zu sein. Er betrachtet den Islam als die einzige Religion, die den Menschen wahrhaft frei mache.
    Schilderungen aus dem russischen Exil
    Eindrucksvoll schildert der Autor das russische Exil in Konstantinopel: Abertausende Russen, die vor der Revolution geflohen sind, viele von ihnen Soldaten und Offiziere der Weißen Armee, leben als Flüchtlinge in der damals von den Alliierten besetzten Stadt. Überlebende des Weltkriegs, des russischen Bürgerkriegs, die sich hier als zwielichtige Geschäftemacher, philosophierende Phantasten, dubiose Waffenschieber und Agents provocateurs durchs Leben schlagen.
    In diese gemischte Gesellschaft gerät der junge Held Iliazd. Wie ein reiner Tor stolpert er durch die Stadt, lässt sich mal auf die türkische, mal auf die russische Seite ziehen, hört sich wirre Pläne und Verschwörungstheorien an - und versteht sowohl die Welt als auch sich selbst nicht mehr.
    Einer der "eigenartigsten russischen Romane"
    Jeder der obskuren Akteure mokiert sich über Iliazds Unbedarftheit, belehrt ihn in langen Tiraden, weist ihm geheimnisvolle Rollen, ja, sogar die des Messias zu.
    Aber - es folgt nichts daraus! Keine Handlung, kein Entschluss. Was die bewegende Reise eines jungen Mannes zu sich selbst, kombiniert mit einem spannenden historischen Krimi in exotischer Umgebung hätte werden können, bleibt in den Ansätzen stecken. Es gibt keinen Plot, den der Autor gefädelt und verfolgt hätte, dafür reißt er diverse Handlungsoptionen an, um sie dann nicht weiter zu verfolgen. Zu viele Miniplots, könnte man sagen, die sich nicht zu einem Ganzen verbinden.
    Fairerweise bewirbt der Verlag Iliazds "Philosophia" auch nicht als Roman. Er lässt die Gattungsbezeichnung einfach weg - anders als der französische Iliazd-Forscher Gayraud, der in seinem Nachwort von "einem der eigenartigsten russischen Romane des 20. Jahrhunderts" spricht.
    "Eigenartig", wenn man so will, ist allein schon die Tatsache, dass der Autor seinen Akteuren diverse Namen gibt, die er ohne Vorwarnung und Erklärung variiert. Salomon, ein undurchsichtiger amerikanischer Jude, ist in dieser Hinsicht der Spitzenreiter: Er hat sage und schreibe 14 unterschiedliche Namen, darunter traditionelle russische Vornamen, aber manchmal heißt er auch Mithridates oder Suworow, wie der berühmte russische Feldherr.
    Ein Versuch des Autors, das Bodenlose des Exils zu zeigen, die multiplen Identitäten, die Geflüchtete notgedrungen annehmen? Die Lektüre erschwert es jedenfalls ungemein.
    Herrliche Bilder
    Auch wenn "Philosophia" kein Roman und mit historischen und topographischen Details derart gespickt ist, dass man die 30 Seiten Anmerkungen unbedingt zu Hilfe nehmen muss: Der Augenmensch Iliazd, im Grunde seines Herzens ein Dichter, beschenkt den Leser mit herrlichen Bildern: Seine Schilderungen Konstantinopels oder des Schwarzen Meers bei der Überfahrt von der georgischen Hafenstadt Batumi kompensieren Manko und Mühe aufs Schönste.
    "Herbst. Noch ein wenig, noch ein kleiner Augenblick, und Ufer und Hafen verschwinden hinter der Meereskrümmung, die Bergketten aber treten in ihrem Zorn und ihrem Gold klar hervor. [...] Die Sonne wird leichter und schließlich schwerelos. Unfähig unterzugehen rollt sie über die Wellen, Formationen von Delphinen tauchen aus den Tiefen nach oben und eilen nach Westen, sie wollen spielen mit dem orangenen Ball. Die Kormorane werden am Himmel in Geometrie geprüft, und die Fische steigen ohne jede Angst vor den Möwen an die Oberfläche."
    Iliazd, "Philosophia". Aus dem Russischen von Regine Kühn. Mit einem Nachwort von Régis Gayraud und Anmerkungen von Sergej Kudravcev, Régis Gayraud und Regine Kühn. Matthes & Seitz, Berlin 2017. 380 Seiten, 30,00 Euro.